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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 69

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 230/24, Beschluss v. 01.10.2024, HRRS 2025 Nr. 69


BGH 6 StR 230/24 - Beschluss vom 1. Oktober 2024 (LG Rostock)

Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht; Mord durch Unterlassen; Begehen durch Unterlassen, besondere gesetzliche Milderungsgründe (wertende Gesamtwürdigung aller wesentlichen Gesichtspunkte, unterlassensbezogene Gesichtspunkte, umfassende Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände; rechtsfehlerhaftes Heranziehen des strafbegründenden Unterlassens für Versagung der Strafmilderung).

§ 171 StGB; § 211 StGB; § 13 Abs. 2 StGB; § 49 Abs. 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die Frage, ob eine Strafmilderung nach § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB geboten ist, muss das Tatgericht in einer wertenden Gesamtwürdigung aller wesentlichen Gesichtspunkte prüfen. Dabei sind insbesondere die unterlassensbezogenen Gesichtspunkte, also diejenigen Momente zu berücksichtigen, die etwas darüber besagen, ob das Unterlassen im Verhältnis zur entsprechenden Begehungstat weniger schwer wiegt.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 19. Dezember 2023 in den Aussprüchen über die wegen Mordes verhängte Strafe und über die Gesamtstrafe aufgehoben; die zugehörigen Feststellungen bleiben jedoch aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes und wegen Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat mit der Sachrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Dem Urteil liegen ? soweit für die Entscheidung von Bedeutung ? folgende Feststellungen und Wertungen zugrunde.

a) Die Angeklagte vernachlässigte ihre beiden kleinen Kinder in vielfacher Hinsicht. Sie ernährte sie unzureichend, überließ sie weitgehend sich selbst und stellte sie nicht zu den regelmäßig vorgesehenen kinderärztlichen Untersuchungen vor. Stattdessen ging sie selbstsüchtig ihren eigenen Interessen nach. Ihr einjähriger Sohn L. musste im August 2021 aufgrund seiner deutlichen Mangelernährung mehrere Tage lang im Krankenhaus behandelt werden. Obwohl sie bei seiner Entlassung nachdrücklich darauf hingewiesen wurde, die im Krankenhaus begonnene Nahrungsgabe regelmäßig fortsetzen zu müssen, versorgte sie ihn weiterhin unzureichend. Das Kind war alsbald wiederum deutlich unterernährt, wies infolgedessen ein erheblich geschwächtes Immunsystem auf und erkrankte wenige Tage vor dem 20. September 2021 an Durchfall. Nach einigen Tagen verschlimmerte sich der Gesundheitszustand des Kindes derart, dass die Angeklagte ihn als „akut“ ansah. Dennoch verabreichte sie ihm weiterhin nur Babymilch und nahm keine ärztliche Hilfe in Anspruch. Dabei war ihr bewusst, dass die Durchfallerkrankung fortlaufend mit erheblichem Flüssigkeitsverlust einherging, der bei einem Kleinkind nach kurzer Zeit zu einer lebensgefährlichen Dehydrierung führen kann, weshalb es ständiger Beobachtung und notfalls auch der Hinzuziehung ärztlicher Hilfe bedurfte. Gleichwohl ließ sie den in einem Autositz angeschnallten und schlafenden L am 20. September 2021 unversorgt in seinem Kinderzimmer zurück, um den Abend und die Nacht bei einem Bekannten zu verbringen. Die hiermit verbundene Lebensgefahr für ihren Sohn erkannte sie und nahm seinen möglichen Tod billigend in Kauf. Das Kind verstarb in der Nacht an einer auf seine infektiöse Durchfallerkrankung zurückzuführenden Gerinnsel-Verlegung der Lungenschlagadern bei hochgradigem Flüssigkeitsverlust.

b) Das Landgericht hat die Tat als durch Unterlassen begangenen Mord aus niedrigen Beweggründen gewertet. Eine Strafrahmenverschiebung nach § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB hat es abgelehnt und die Angeklagte zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.

2. Die wegen Mordes durch Unterlassen (§§ 211, 13 StGB) verhängte lebenslange Freiheitsstrafe hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das Landgericht hat die durch § 13 Abs. 2 StGB eröffnete Möglichkeit, den Strafrahmen nach § 49 Abs. 1 StGB zu mildern, mit nicht tragfähiger Begründung abgelehnt.

a) Die Frage, ob eine Strafmilderung nach § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB geboten ist, muss das Tatgericht in einer wertenden Gesamtwürdigung aller wesentlichen Gesichtspunkte prüfen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 311/98, BGHR StGB § 13 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 2). Dabei sind insbesondere die unterlassensbezogenen Gesichtspunkte, also diejenigen Momente zu berücksichtigen, die etwas darüber besagen, ob das Unterlassen im Verhältnis zur entsprechenden Begehungstat weniger schwer wiegt (vgl. BGH, Beschluss vom 1. April 1987 - 2 StR 94/87, BGHR StGB § 13 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 1).

b) Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des Landgerichts nicht gerecht.

Das Landgericht hat seine Entscheidung, von der Milderungsmöglichkeit keinen Gebrauch zu machen, im Wesentlichen damit begründet, dass „die gebotenen Handlungen der Angeklagten nicht mehr abverlangt hätten, als den normalen Einsatz rechtstreuen Willens, nämlich das Kind zu beobachten, ihm regelmäßig Flüssigkeit zu geben und gegebenenfalls medizinische Hilfe zu holen“. Die Angeklagte habe jedoch „überhaupt nichts unternommen“, sondern sei „völlig untätig“ geblieben. Damit hat das Landgericht das strafbegründende Unterlassen zugleich als Grund für die Versagung der Strafmilderung herangezogen, was der gesetzlichen Wertung des § 13 Abs. 2 StGB nicht entspricht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. August 2014 ? 3 StR 203/14, StV 2015, 297; vom 16. Oktober 1997 - 4 StR 487/97, NStZ 1998, 245).

Darüber hinaus fehlt es an der erforderlichen umfassenden Abwägung aller für und gegen die Angeklagte sprechenden Umstände. Insoweit hätte das Landgericht in den Blick nehmen müssen, dass die Angeklagte an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ leidet. Wenngleich die Schuldfähigkeit der Angeklagten dadurch nicht erheblich vermindert war, könnte die Erkrankung geeignet sein, das Unterlassen im Rahmen der Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände im Verhältnis zur entsprechenden Begehungstat in milderem Licht erscheinen zu lassen.

3. Die Aufhebung der wegen Mordes ausgesprochenen lebenslangen Freiheitsstrafe entzieht auch der Gesamtstrafe die Grundlage. Die Sache bedarf insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht berührt; sie können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO) und um ihnen nicht widersprechende ergänzt werden.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 69

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede