HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1426
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 155/24, Beschluss v. 03.09.2024, HRRS 2024 Nr. 1426
Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 10. Januar 2024 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine auf die nicht ausgeführte Sachrüge gestützte Revision hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Bei dem von Cannabinoiden und Stimulanzien abhängigen Beschuldigten lag Ende Mai 2023 eine schwere paranoid-halluzinatorische Schizophrenie vor. Diese fand Ausdruck in einem Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahn; er war überzeugt davon, dass er von Mitgliedern der „H.“ verfolgt werde und über Lautsprecherdurchsagen Morddrohungen erhalte.
b) Nachdem er vor diesem Hintergrund seine Tante, die Zeugin C. B., um Hilfe gebeten hatte, nahm diese ihn am 31. Mai 2023 in ihrer Wohnung auf. Gemeinsam mit ihrem Ehemann gelang es ihr, dem Beschuldigten die Wahnvorstellungen auszureden. Allerdings übertrug er sein Wahnsystem nun auf beide Zeugen und war davon überzeugt, sein Onkel wolle seine Tante mit einem Cuttermesser töten. Später in der Nacht gegen 3:30 Uhr weckte er beide auf und teilte ihnen nervös und aufgeregt mit, dass er sich einen „Kopf gemacht habe“; worüber er sich Gedanken gemacht hatte, sagte er nicht, sondern rauchte mit seiner Tante. Gegen 5:00 Uhr folgte er seinem Onkel ins Badezimmer, stellte sich mit einem 20 Zentimeter langen Messer neben ihn und stach in Tötungsabsicht in Richtung des Bauches auf diesen ein. Der Zeuge konnte den Stich mit einer Armbewegung ablenken, weshalb nur eine oberflächliche Verletzung entstand. Sodann stach der Beschuldigte noch mehrmals in Richtung des Rumpfes seines zwischenzeitlich gestürzten Onkels, der abermals die Stiche mit Hand- und Armbewegungen abwehrte und den Beschuldigten sodann gemeinsam mit der Zeugin B. überwältigte. Dabei schrie der Beschuldigte: „C., ich liebe dich, der will dich umbringen, siehst du das nicht? Wie kann man so naiv sein?“.
c) Das Landgericht hat die Tat als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet (§ 212 Abs. 1, §§ 22, 23 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, § 52 StGB). Es hat angenommen, der Beschuldigte habe bei der Tatbegehung im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) gehandelt, weil sowohl die Einsichts- als auch die Steuerungsfähigkeit aufgehoben gewesen seien. Dem Sachverständigen folgend ist es davon ausgegangen, dass bei dem Beschuldigten zur Tatzeit ein „handlungsdeterminierendes Wahnsystem“ einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie bestanden habe.
2. Die Maßregelanordnung hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt.
Sie darf daher nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Der Defektzustand muss, um die notwendige Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein. Prognostisch muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (§ 63 Satz 1 StGB). Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrunde liegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16, NStZ-RR 2017, 76; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, Rn. 9; LK-StGB/Cirener, 13. Aufl., § 63 Rn. 202 mwN).
b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
aa) Soweit das Landgericht im Anschluss an den Sachverständigen davon ausgeht, dass der Beschuldigte an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie leide, werden die diese Bewertung tragenden Anknüpfungs- und Befundtatsachen nicht mitgeteilt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2015 - 4 StR 514/14, Rn. 7; NStZ-RR 2015, 169; vom 11. Mai 2022 - 5 StR 125/22; vom 15. März 2022 - 4 StR 60/22). Die schlichte Wiedergabe der Diagnose des Sachverständigen genügt dem nicht.
bb) Vor diesem Hintergrund vermag der Senat auch nicht zu überprüfen, ob die Strafkammer eine - von ihr erwogene - bloß vorübergehende Störung infolge einer drogeninduzierten Psychose rechtsfehlerfrei ausgeschlossen hat, zumal die von ihr getroffenen Feststellungen widersprüchlich sind. Während das Landgericht einerseits festgestellt hat, dass der Beschuldigte noch im Zeitpunkt seiner Exploration im September 2023 davon überzeugt war, dass sein Onkel seine Tante habe töten wollen, hat es an anderer Stelle in seine Bewertungen eingestellt, dass er sich im Explorationsgespräch von seinen „damaligen Wahnvorstellungen distanziert“ habe, was auf seine medikamentöse Behandlung zurückzuführen sei. Der Ausschluss eines lediglich vorübergehenden Defekts wäre auch deshalb sorgsamer zu belegen gewesen, weil zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung keine psychotischen Auffälligkeiten des Beschuldigten festgestellt sind (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Februar 2023 - 5 StR 501/22, Rn. 5), er vielmehr um seinen Wahn wusste und sein Bedauern äußerte.
cc) Schließlich ist auch die Gefahrenprognose nicht tragfähig begründet. Bei der insofern vorzunehmenden Gesamtwürdigung des Täters und der Symptomtat sind insbesondere die Dauer der Störung und etwaige Vortaten von besonderer Bedeutung (BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306, 307). Hierzu hat das Landgericht keine Feststellungen getroffen.
c) Die Sache bedarf somit erneuter Prüfung und Entscheidung. Der Senat hebt die zugehörigen Feststellungen auf, um dem neuen Tatgericht - naheliegend unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen - widerspruchsfreie neue Feststellungen zu ermöglichen.
3. Lediglich ergänzend bemerkt der Senat:
a) Nach der gesetzlichen Konzeption kann die Anwendung des § 20 StGB nicht auf beide Varianten gestützt werden. Erst wenn sich ergeben hat, dass der Täter in der konkreten Tatsituation Unrechtseinsicht hatte, kann sich die Frage nach seiner Steuerungsfähigkeit stellen (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 2006 - 2 StR 394/05, NStZ-RR 2006, 167, 168; Beschluss vom 31. Mai 2022 - 6 StR 125/22).
b) Es ist entbehrlich, in den Urteilsgründen die beteiligten Personen bei ausgeschlossener Verwechslungsgefahr mit Vor- und Zunamen zu bezeichnen und jeweils den Zusatz „Herr“ oder „Frau“ voranzustellen (vgl. Meyer-Goßner, NStZ 1988, 529, 532).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1426
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede