HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1237
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 285/23, Beschluss v. 22.08.2023, HRRS 2023 Nr. 1237
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 4. Januar 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
Nach den Feststellungen manipulierte der Angeklagte in zwei Fällen mit seinem Finger an der Scheide seiner zur Tatzeit etwa zehn Jahre alten Tochter, der Nebenklägerin. Zugleich forderte er sie auf, jeweils mit der Hand seinen Penis zu stimulieren; anschließend befriedigte er sich selbst und ejakulierte auf den Unterleib der Nebenklägerin. Als diese elf beziehungsweise zwölf Jahre alt war, vollzog der Angeklagte mit ihr zweimal vaginalen Geschlechtsverkehr. In einem weiteren Fall führte die Nebenklägerin bei ihm auf dessen Verlangen Oralverkehr durch.
Die Beweiswürdigung des Landgerichts (§ 261 StPO) hält auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabes (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 2015 - 5 StR 79/15, mwN) sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Das Landgericht hat zunächst die Angaben der Nebenklägerin einschließlich etwaiger Vorhalte und Reaktionen hierauf dargestellt. Es hat die Nebenklägerin für glaubwürdig und ihre Schilderungen für wahr erachtet. Dies hat das Landgericht mit einem Hinweis auf die Aussagen der Zeugen vom Hörensagen, die Chatkommunikation zwischen der Nebenklägerin und ihrer Schwester sowie die Ausführungen der mit der aussagepsychologischen Begutachtung der Nebenklägerin beauftragten Sachverständigen begründet.
2. § 267 StPO verpflichtet das Tatgericht in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung (§ 261 StPO) von den die Anwendung des materiellen Rechts tragenden Tatsachen auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Überlegungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2020 - 2 StR 380/19, NStZ-RR 2020, 258). Es ist - über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO hinaus - verpflichtet, die wesentlichen Beweiserwägungen in den Urteilsgründen so darzulegen, dass seine Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachvollzogen und auf Rechtsfehler überprüft werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 18. November 2020 - 2 StR 152/20, NStZ-RR 2021, 114, 115). Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Diese erweisen sich in verschiedener Hinsicht als lückenhaft.
a) Die vom Landgericht angestellten Erwägungen erschöpfen sich in der formelhaften Wendung, dass die „Kammer die Aussage der Nebenklägerin inhaltlich anhand der Angaben weiterer Zeugen beziehungsweise anhand weiterer Beweismittel überprüft (habe).“ Eine Würdigung sowohl der Schilderungen der Nebenklägerin als auch der Bekundungen der Zeugen vom Hörensagen fehlt indessen. Ein inhaltlicher Abgleich der Aussagen miteinander ist nicht erkennbar. Er wäre jedoch insbesondere hinsichtlich der Angaben der Nebenklägerin und ihrer Schwester zwingend geboten gewesen, nachdem das Landgericht der Sachverständigen folgend ein Komplott mit der Begründung ausgeschlossen hat, „dann wären weniger Abweichungen in den jeweiligen Aussagen zu erwarten gewesen.“ Von der Verpflichtung zu einer eigenständigen Würdigung war das Landgericht nicht deshalb befreit, weil es ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt hat. Es wäre vielmehr darzulegen gehalten gewesen, weshalb es diesem gefolgt ist. Hierfür hätte der in den Urteilsgründen wiedergegebene Widerspruch (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 167) erläutert werden müssen, dass die Sachverständige Abweichungen in den Aussagen der Nebenklägerin einerseits damit erklärt hat, dass es für diese aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten möglicherweise leichter sei, Vorgänge „im Ganzen zu berichten“, während sie der Nebenklägerin an anderer Stelle durchschnittliche kognitive Fähigkeiten attestiert hat.
b) In Fällen, in denen - wie hier - „Aussage gegen Aussage“ steht, müssen die Urteilsgründe zudem erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 2. November 2022 - 6 StR 281/22 mwN). Hieran fehlt es schon deshalb, weil mit Blick auf die fünf angeklagten und ausgeurteilten Taten jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der übermäßigen Belastung des Angeklagten auch der Umstand einzustellen und näher zu erörtern gewesen wäre, dass die Nebenklägerin in der Beweisaufnahme von „300“ Übergriffen jährlich gesprochen hat.
Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf den aufgezeigten Darstellungsmängeln beruht. Dies führt zur Aufhebung des gesamten Urteils; die Feststellungen können keinen Bestand haben, weil sie nicht auf einer tragfähigen Beweiswürdigung beruhen (§ 353 Abs. 2 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1237
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede