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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 354

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 18/23, Urteil v. 24.01.2024, HRRS 2024 Nr. 354


BGH 6 StR 18/23 - Urteil vom 24. Januar 2024 (LG Saarbrücken)

Verletzung der Kognitionspflicht; Grundsätze der Strafzumessung (kein Anspruch des Täters auf rechtzeitiges Einschreiten der Ermittlungsbehörden).

§ 264 StPO; § 46 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 15. Juli 2022, soweit es die Angeklagte betrifft, aufgehoben

a) im Fall 8 der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen;

b) in den Aussprüchen über die Strafe im Fall 5 der Urteilsgründe und die zweite Gesamtstrafe; insoweit haben die jeweils zugehörigen Feststellungen Bestand.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Betruges in drei Fällen unter Einbeziehung anderweitig erkannter Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten und wegen Betruges in vier Fällen zu einer zweiten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Strafen hat es zur Bewährung ausgesetzt. Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sachrüge gestützten und wirksam auf den Schuldspruch im Fall 8 sowie den (gesamten) Strafausspruch beschränkten Revision. Das vom Generalbundesanwalt überwiegend vertretene Rechtsmittel hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg und ist im Übrigen unbegründet.

1. Das Landgericht hat den der Anklage zugrundeliegenden Lebenssachverhalt im Fall 8 entgegen § 264 StPO nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten beurteilt und dadurch seine Kognitionspflicht verletzt (vgl. BGH, Urteile vom 19. April 2023 - 6 StR 497/22; vom 25. Mai 2023 - 4 StR 479/22; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 264 Rn. 27 ff. mwN).

Nach den Feststellungen bezog der Mitangeklagte Pflegedienstleistungen. Am 13. April 2021 beantragte die Angeklagte in Absprache mit dem Mitangeklagten per E-Mail bei seiner Krankenkasse die Kostenerstattung für eine sogenannte Verhinderungspflege. Als Anhang fügte sie ein Bestätigungsschreiben und eine entsprechende Quittung bei, wonach an ihrer Stelle die Zeugin W. den Angeklagten in der Zeit vom 16. bis 27. April 2021 täglich acht Stunden gepflegt und hierfür insgesamt 1.200 Euro erhalten habe. Beide Unterlagen waren mit dem Namen der Zeugin unterschrieben. Die Krankenkasse überwies antragsgemäß 1.200 Euro auf das Konto der Angeklagten. Tatsächlich hatte die Zeugin den Mitangeklagten weder gepflegt noch die Schriftstücke verfasst oder unterschrieben. Nach Ansicht des Landgerichts lag die Annahme nahe, dass die Angeklagten den Namen der Zeugin angaben, weil diese früher für sie tätig gewesen war und sie deshalb über eine Vorlage für die Unterschrift der Zeugin verfügten.

Auf Grundlage dessen rügt die Beschwerdeführerin zu Recht einen Verstoß gegen die Kognitionspflicht. Die Strafkammer wäre gehalten gewesen, eine mögliche Strafbarkeit der Angeklagten auch wegen eines Urkundsdelikts im Sinne der §§ 267 ff. StGB in den Blick zu nehmen, weil sich dies nach den getroffenen Feststellungen aufdrängte.

2. Der Strafausspruch im Fall 5 hält rechtlicher Prüfung ebenfalls nicht stand.

Bei Bemessung der Strafe hat das Landgericht strafmildernd berücksichtigt, dass „die Tatbegehung den Ermittlungsbehörden in Folge der Erkenntnisse aus der Wohnungsdurchsuchung vom 17.03.2021 bekannt gewesen ist“. Tatsächlich beging die Angeklagte diesen weiteren Betrug jedoch erst am 23. März 2021, mithin sechs Tage nach der Durchsuchung. Ungeachtet dessen, dass ein Straftäter keinen Anspruch darauf hat, dass Ermittlungsbehörden rechtzeitig gegen ihn einschreiten (vgl. BGH, Beschluss vom 26. April 2023 - 5 StR 122/23; Urteil vom 6. Januar 2022 - 5 StR 2/21, NStZ-RR 2022, 140; Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1 StR 275/10, NStZ 2011, 283), werden im Urteil keine Anhaltspunkte mitgeteilt, die bereits bei der Durchsuchung auf die zukünftige Tat hindeuteten. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Bemessung der Strafe auf dem dargelegten Rechtsfehler beruht.

3. Im Übrigen weist die Strafzumessung keinen Rechtsfehler auf. Insbesondere besorgt der Senat nicht, dass die Strafkammer im Fall 1 bei der konkreten Strafzumessung innerhalb des nach § 13 Abs. 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmens den Umstand, dass die Tat durch Unterlassen begangen wurde, nochmals mit vollem Gewicht zugunsten der Angeklagten berücksichtigt hat (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 887 mwN).

4. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall 8 und der Strafe im Fall 5 entzieht der zweiten Gesamtstrafe die Grundlage. Der Senat hebt die Feststellungen zu Fall 8 auf, um dem neuen Tatgericht insoweit umfassende neue und widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen. Hingegen haben die Feststellungen zur Strafzumessung im Fall 5 - ebenso wie diejenigen zur zweiten Gesamtstrafe - Bestand, weil insoweit lediglich ein Wertungsfehler vorliegt; sie können um ihnen nicht widersprechende neue Feststellungen ergänzt werden.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 354

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede