HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 212
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 467/22, Beschluss v. 13.12.2022, HRRS 2023 Nr. 212
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 15. Juni 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf Verfahrensbeanstandungen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Rüge, § 255a Abs. 2 StPO sei verletzt worden, Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), so dass es eines Eingehens auf die weiteren Verfahrensrügen und sachlich-rechtlichen Beanstandungen nicht bedarf.
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Die Strafkammer hat die Vernehmung der zur Tatzeit volljährigen Nebenklägerin in der Hauptverhandlung ersetzt durch die Vorführung von Bild-Ton-Aufzeichnungen ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmungen. Die dem zugrundeliegende Entscheidung hat sie durch Beschluss getroffen und in diesem ausschließlich ausgeführt: „Die Bild-Ton-Aufzeichnungen der richterlichen Vernehmungen der Zeugin M., vom 17.03.2021 und 17.09.2021 sollen gemäß § 255a StPO in Augenschein genommen werden und die Vernehmung der Zeugin in der Hauptverhandlung ersetzen.“ Auf Anregung der Verteidigung wurden anschließend verschiedene Videosequenzen wiederholt in Augenschein genommen.
2. Hierin erblickt die Revision zu Recht einen Verfahrensverstoß.
a) Die Rüge ist zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Es bedurfte keines Vortrags, dass die Beschlussbegründung in der Hauptverhandlung durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger gemäß § 238 Abs. 2 StPO beanstandet worden sei. Die Entscheidung über die vernehmungsersetzende Vorführung ist gemäß § 255 Abs. 2 Satz 3 StPO dem gesamten Spruchkörper und nicht dem Vorsitzenden allein überantwortet. Der Anwendungsbereich des Zwischenrechtsbehelfs ist mithin schon deshalb nicht eröffnet (vgl. zu § 251 StPO: BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2011 - 3 StR 315/11, NStZ 2012, 585, 586; vom 3. September 2019 - 3 StR 291/19, NStZ 2020, 94, 95 mit zust. Anm. Ventzke). Im Übrigen handelt es sich bei der Begründungsnotwendigkeit um zwingendes Recht, ohne dass insoweit ein Ermessensspielraum eröffnet wäre.
b) Der Beschluss lässt entgegen § 255a Abs. 2 Satz 3 StPO eine Begründung vermissen.
aa) In formeller Hinsicht ist für die vernehmungsersetzende Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung des Verletzten (§ 58a Abs. 1 Satz 3 StPO) - aus Gründen der Transparenz und der Verfahrensfairness (vgl. BT-Drucks. 17/12735 S. 17) - ein begründeter Gerichtsbeschluss erforderlich (§ 255a Abs. 2 Satz 3 StPO; vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2018 - 3 StR 256/18, NStZ-RR 2019, 27). In die Begründung der tatgerichtlichen Ermessensentscheidung sind - worauf auch der Generalbundesanwalt mit Recht hinweist - nach den jeweils maßgeblichen Umständen des Einzelfalls neben der Schutzbedürftigkeit des Verletzten (vgl. BeckOK/Berg, StPO, 45. Ed., § 255a Rn. 18 mwN) grundsätzlich auch weniger einschneidende Möglichkeiten des Zeugenschutzes (vgl. §§ 247, 247a StPO) ebenso wie rechtlich geschützte Verteidigungsinteressen des Angeklagten und Belange der Sachaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) einzustellen (vgl. BT-Drucks. 17/6261, S. 12; BeckOK/Berg, aaO; Löwe-Rosenberg/Mosbacher, 27. Aufl., § 255a Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 255a Rn. 9). Die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts genügt dem nicht (vgl. zu § 251 StPO: BGH, Urteil vom 17. Mai 1956 - 4 StR 36/56, BGHSt 9, 230).
bb) Hier fehlt der Anordnung des Landgerichts jede Begründung. Der Senat vermag deshalb nicht nachzuprüfen, ob die Strafkammer die gesetzlichen Voraussetzungen für die Durchbrechung des § 250 StPO zu Recht bejaht hat. Eine nachvollziehbare sorgfältige Abwägung war nicht zuletzt auch deshalb geboten, weil die - einzige - Zeugin für den Vergewaltigungsvorwurf im Zeitpunkt der Hauptverhandlung bereits 23 Jahre alt war und sich aus ihrem Alter allein eine konkrete prozessuale Schutzbedürftigkeit nicht aufdrängte. Dies gilt umso mehr, als die Zeugin auch nach der Tat Kontakt zum Angeklagten unterhielt.
c) In dem der Anordnung nachfolgenden Prozessverhalten des Angeklagten kann kein rechtmissbräuchliches, dem Erfolg der Rüge entgegenstehendes Verhalten erblickt werden. Nachdem die Strafkammer die vernehmungsersetzende Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung - freilich defizitär begründet - angeordnet und durchgeführt hatte, durften Angeklagter und Verteidiger dieses Erkenntnismittel in der Hauptverhandlung - auch im Wege durch sie erwirkter mehrfacher Vorführung - ausschöpfen (§ 261 StPO), ohne dass sich die Angriffsrichtung im Revisionsrechtszug hierzu in Widerspruch setzte.
3. Da die Angaben der Zeugin M. ausweislich der Urteilsgründe die einzige Grundlage für die Überzeugung der Strafkammer darstellen, beruht das Urteil auf dem geltend gemachten Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 212
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi