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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 961

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 216/22, Beschluss v. 28.06.2022, HRRS 2022 Nr. 961


BGH 6 StR 216/22 - Beschluss vom 28. Juni 2022 (LG Dessau-Roßlau)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang: Betäubungsmittelabhängigkeit, soziale Gefährlichkeit, Beschaffungskriminalität).

§ 64 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die Annahme sozialer Gefährlichkeit kommt nach ständiger Rechtsprechung auch dann in Betracht, wenn ein Angeklagter Taten der Beschaffungskriminalität begeht.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 9. November 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht von der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen hat.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in 25 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Schuld- und Strafausspruch weisen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf; jedoch begegnet es durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht davon abgesehen hat, die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen.

a) Nach den Feststellungen konsumierte die Angeklagte jedenfalls seit 2013 Methamphetamin. Ihre tägliche Konsummenge von 0,5 Gramm verringerte sie ohne äußeren Druck oder Einflussnahme Dritter auf zuletzt 0,2 Gramm. Um ihr Einkommen aufzubessern, entschloss sich die Angeklagte, mit Betäubungsmitteln zu handeln. Sie erwarb zweiwöchentlich üblicherweise jeweils fünf Gramm Methamphetamin zu einem Preis von 200 bis 225 Euro und erzielte durch den Weiterverkauf von zweieinhalb Gramm 175 bis 200 Euro. Die Hälfte der jeweiligen Erwerbsmenge war für ihren Eigenkonsum bestimmt.

b) Das sachverständig beratene Landgericht hat das Vorliegen eines Hangs im Sinne des § 64 StGB verneint. Eine Abhängigkeitserkrankung liege nicht vor. Zwar bestehe eine durch Übung gewonnene Neigung zur Einnahme von Betäubungsmitteln; indessen konsumiere die Angeklagte Drogen nicht im Übermaß. Sie sei nicht sozial gefährdet, weil sie durch den Drogenkonsum nicht darin beeinträchtigt sei, ihre Angelegenheiten zu erledigen, zumal sie das Methamphetamin zur Leistungssteigerung einnehme.

c) Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht zum Begriff des Hangs einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt hat. Es ist zwar davon ausgegangen, dass für einen Hang eine eingewurzelte, aufgrund psychischer Disposition bestehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung genügt, immer wieder berauschende Mittel zu sich zu nehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2022 - 6 StR 11/22, NStZ-RR 2022, 105 f. mwN). Es hat aber nicht erkennbar bedacht, dass die Annahme sozialer Gefährlichkeit nach ständiger Rechtsprechung auch dann in Betracht kommt, wenn ein Angeklagter - wie hier - Taten der Beschaffungskriminalität begeht (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 23. März 2021 - 6 StR 90/21 mwN).

Das Landgericht hätte sich daher näher mit dem Umstand auseinandersetzen müssen, dass sich die Angeklagte nur zum Drogenhandel entschloss, um das für ihren Eigenkonsum erforderliche Methamphetamin zu erwirtschaften, wofür ihre monatlichen Einkünfte, bestehend aus Sozialleistungen und geringfügiger Nebentätigkeit in Höhe von insgesamt 523 Euro nicht ausreichten. Zudem wurden bei ihr neben dem Methamphetamin für den Eigenkonsum bestimmte weitere Drogen (Cannabis, Ecstasy und Pilze) sichergestellt. Das zur Entscheidung berufene neue Tatgericht wird auch zu bedenken haben, dass die Angeklagte kein geregeltes auskömmliches Arbeitsleben führt und soziale Bindungen nicht über längere Zeit fortzuführen in der Lage war.

d) Die Sache bedarf deshalb insoweit wiederum unter Heranziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO) neuer Verhandlung und Entscheidung. Für die Frage der von dem Sachverständigen verneinten hangbedingten Gefährlichkeit wird auch zu berücksichtigen sein, dass die Angeklagte über keine Berufsausbildung verfügt und wegen Betäubungsmitteldelikten bereits vorbestraft ist.

2. Da der Senat ausschließen kann, dass das Landgericht bei einer Anordnung der Unterbringung gemäß § 64 StGB niedrigere Strafen verhängt hätte, kann der Strafausspruch bestehen bleiben.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 961

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi