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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 686

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 189/22, Beschluss v. 18.05.2022, HRRS 2022 Nr. 686


BGH 6 StR 189/22 - Beschluss vom 18. Mai 2022 (LG Stendal)

Unzureichende Prüfung der Schuldfähigkeit.

§ 20 StGB; § 21 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stendal vom 30. Dezember 2021 aufgehoben; die Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen bleiben jedoch bestehen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht Stendal - Strafrichter - zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Freiheitsberaubung, wegen Beleidigung in 22 Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit versuchter Nötigung und in einem Fall in Tateinheit mit Bedrohung, wegen Bedrohung in drei Fällen und wegen versuchter Nötigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat im Wesentlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

1. Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte unter einem vorrangig religiös geprägten Größenwahn; er ist der „unverrückbaren“ Überzeugung, dazu berufen zu sein, die politischen und kirchlichen Machtverhältnisse in der Stadt S. personell verändern zu müssen.

Aus Verärgerung über den von der Familie seiner Nachbarn ausgehenden Lärm hielt er deren zweijähriges Enkelkind mindestens fünf Minuten lang in seiner Wohnung fest (Fall 1a der Urteilsgründe); nach dem Eintreffen von Polizeibeamten beleidigte er die Mitglieder der Nachbarsfamilie ausländerfeindlich und rief, dass er sie „abstechen“ werde, wenn die Familie nicht ausziehe (Fall 1b der Urteilsgründe). Im Übrigen versandte er eine Vielzahl elektronischer Nachrichten beleidigenden und bedrohenden Inhalts an den Oberbürgermeister der Stadt S. sowie weitere Personen des öffentlichen Lebens (Fälle 2a bis 13c der Urteilsgründe).

2. Der Schuldspruch hat keinen Bestand, weil die Schuldfähigkeitsprüfung insgesamt durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.

a) Das Landgericht hat dazu - dem psychiatrischen Sachverständigen ohne eigenständige Wertung folgend - ausgeführt:

Der Angeklagte habe zum jeweiligen Tatzeitpunkt unter einer unbehandelten Wahnerkrankung gelitten, bei der es sich um eine schwere Störung des inhaltlichen Denkens in Form eines religiösen Größenwahns handele. Er sei der Auffassung, durch religiös-politisch wirkendes Engagement unter Missachtung der Positionen des jeweiligen Gegenübers vermeintliche moralische Verfehlungen anderer anprangern und aufdecken zu müssen und letztlich durch Gott berufen zu sein, eine Art religiös-politische Weltregentschaft zu übernehmen. Diese Überzeugung führe auf der Handlungsebene zu Drohungen und anhaltender Streitbarkeit, welche zunächst wie rein querulatorische Persönlichkeitszüge wirkten, letztlich jedoch die Rechte anderer den eigenen angestrebten Zielen unterordneten. Der Angeklagte legitimiere sein Handeln als erforderlich, um einem höheren Auftrag zu dienen. Für eine Erkrankung des Angeklagten spreche ferner, dass er weiterhin unkorrigierbar an seinem Wahngebäude festhalte. Er habe auch in der Hauptverhandlung den Wahngedanken der Berufung durch Gott als Motivation seiner Taten benannt und diesen auf Nachfrage ausführlich beschrieben.

Der Angeklagte sei sich jedoch trotz der Erkrankung jederzeit des Unrechts und damit der Vorwerfbarkeit seines Handelns bewusst. Er könne sich stets und ständig in die Position des anderen hineinversetzen und dessen Wahrnehmung im erforderlichen Umfang erkennen und antizipieren. Es sei nicht ersichtlich zu paranoiden Verkennungen gekommen. Er sehe sich zum Ausagieren seines Auftrags verpflichtet, weil dieser höheren Zielen diene und von ihm als erforderlich erachtet werde.

In den Fällen 2a bis 13c der Urteilsgründe sei der Angeklagte seinen stark dominanten und sein Handeln bestimmenden Wahngedanken unterworfen und nur erheblich vermindert in der Lage gewesen, seinen Affekten und Aggressionen etwas entgegenzusetzen. In den Fällen 1a und 1b der Urteilsgründe sei dagegen der anschwellende Konflikt mit der Nachbarschaft zum Ausdruck gekommen.

b) Diese eher kursorischen Ausführungen geben bereits die der „Wahnerkrankung“ des Angeklagten zugrundeliegenden Anknüpfungs- und Befundtatsachen nicht in ausreichendem Maße wieder (vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 2012 - 4 StR 348/12 Rn. 8). Sie erschöpfen sich vielmehr im Wesentlichen in der wiederholten Mitteilung der Diagnose und skizzenhaften Beschreibungen wahnhafter Gewissheiten des Angeklagten.

Namentlich erschließt sich aber aufgrund der Ausführungen des Landgerichts nicht, weshalb die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht seines Tuns einzusehen, in den Fällen 2a bis 13c erhalten geblieben war. Da er sich bei den betreffenden Taten „von Gott berufen“ fühlte, sein Handeln als „durch einen höheren Auftrag (…) legitimiert“ ansah sowie „seinen stark dominanten und sein Handeln bestimmenden“ Wahngedanken „unterworfen“ war, liegt es nahe, dass er ohne Unrechtseinsicht handelte. Die insoweit gebotene nähere Erörterung lassen die Urteilsgründe vermissen.

Auch die sich anschließenden Darlegungen zur Steuerungsfähigkeit halten rechtlicher Prüfung nicht stand. Denn die Strafkammer setzt sich nicht mit der sich angesichts des schweren Krankheitsbildes aufdrängenden Frage auseinander, ob die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zu den Tatzeitpunkten aufgehoben war.

Wenngleich sich den Urteilsgründen zufolge in den Fällen 1a und 1b „keine Anhaltspunkte für ein Auswirken der unbehandelten Wahnerkrankung auf das Verhalten des Angeklagten“ ergeben haben, kann der Schuldspruch in Anbetracht der insgesamt unzureichenden Ausführungen zu der Erkrankung des Angeklagten auch diesbezüglich keinen Bestand haben.

3. Die Sache bedarf daher - naheliegend unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen - neuer Verhandlung und Entscheidung. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum jeweiligen objektiven Tatgeschehen können jedoch bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Sie dürfen durch ihnen nicht widersprechende ergänzt werden.

4. Da das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) rechtsfehlerfrei unter Verweis darauf abgelehnt hat, dass von diesem keine erheblichen rechtswidrigen Taten zu erwarten seien, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an das Amtsgericht Stendal - Strafrichter - zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 3 StPO).

Das neue Tatgericht wird auch zu prüfen haben, ob der Angeklagte in den Fällen 1b, 2b, 8d und 11g mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch der Nötigung zurückgetreten ist (§ 24 Abs. 1 Satz 1 StGB). Das Landgericht hat es rechtsfehlerhaft unterlassen, Feststellungen zu dem insoweit maßgeblichen Vorstellungsbild des Angeklagten nach dem Abschluss der jeweils letzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung zu treffen (vgl. zum „Rücktrittshorizont“ etwa BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227 f.).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 686

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede