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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 325

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 163/22, Urteil v. 25.01.2023, HRRS 2023 Nr. 325


BGH 6 StR 163/22 - Urteil vom 25. Januar 2023 (LG Cottbus)

Mord (Heimtücke: offene Feindseligkeit; Arg- und Wehrlosigkeit, bewusstes Ausnutzen; sonstiger niedriger Beweggrund: „Bestrafung“ des Partners mit der Tötung des Kindes, Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung); Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (kein Ausgehen bzw. Unterstellen von Annahmen zugunsten des Angeklagten ohne konkrete tatsächliche Anhaltspunkte).

§ 211 StGB; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen bzw. Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat. Erweist sich eine Annahme ausschließlich als spekulativ, kann sie auch nicht als Folge des Zweifelssatzes zu Gunsten des Angeklagten den Urteilsfeststellungen zu Grunde gelegt werden.

2. Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers können auch dann gegeben sein, wenn der Täter ihm feindselig gegenübertritt, das Tatopfer die drohende Gefahr aber erst im letzten Augenblick erkennt, so dass ihm keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen.

3. Für ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinn erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 2. Dezember 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen.

Er hat die Kosten seines Rechtsmittels und die hierdurch der Nebenklägerin entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Nebenklägerin, die sich mit der Sachrüge gegen die Nichtannahme von Mordmerkmalen wendet, hat Erfolg. Die ebenfalls auf die Sachrüge gestützte und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision des Angeklagten erweist sich hingegen als unbegründet.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts trennte sich die Nebenklägerin im Dezember 2019 von ihrem Ehemann, dem Angeklagten. Sie zog mit der gemeinsamen Tochter, der am 31. Dezember 2015 geborenen E., und ihrer 2014 geborenen, aus einer früheren Beziehung stammenden Tochter aus dem Einfamilienhaus der Eheleute aus. Jedes zweite Wochenende - jeweils bis 18 Uhr am Sonntag - hielt sich E. beim Angeklagten auf, der das Haus weiterhin bewohnte, allerdings Schwierigkeiten mit dessen Finanzierung hatte und in Sorge war, die Nebenklägerin werde ihren neuen Lebenspartner heiraten und gemeinsam mit diesem das Haus übernehmen.

Am 18. April 2021 - einem Sonntag - befanden sich der Angeklagte und E. gegen 17 Uhr im Badezimmer des Hauses. Das Kind war unbekleidet. Der Angeklagte drückte E. s Kopf in Tötungsabsicht so in die befüllte Badewanne, dass Wasser in ihre Luftröhre und Lunge gelangte und sie das Bewusstsein verlor. In der Annahme, der Tod des Kindes sei bereits eingetreten, trug er es sodann in ein anderes Zimmer und legte es auf ein Bett. Dort erbrach sich E. Als der Angeklagte dies bemerkte, holte er ein Kabel, wickelte es ihr zweimal um den Hals und zog wiederum in Tötungsabsicht an den Kabelenden, bis infolge des Drosselns der Tod des Kindes eintrat. Anschließend unternahm er einen Suizidversuch.

II.

Die Revision der Nebenklägerin ist zulässig und begründet. Sie beanstandet zu Recht, dass die Ablehnung der Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe nicht tragfähig begründet ist.

1. Die Ablehnung heimtückischen Handelns des Angeklagten begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Das Landgericht hat das Mordmerkmal Heimtücke mit der Begründung abgelehnt, es habe keine Feststellungen zum konkreten Tatablauf treffen können, insbesondere dazu, wie der erste Angriff auf das Tatopfer erfolgt sei. Es erscheine „zwar sehr plausibel und wahrscheinlich, dass die Geschädigte ihrem Vater vertraute und sich daher in einer Situation befand, in der sie mit keinem Angriff rechnete“; immerhin seien auch keine Abwehrverletzungen oder Kampfspuren feststellbar. „Letzte Zweifel“, dass der Angeklagte dem Tatopfer „beispielsweise offen feindselig gegenübertrat“, habe „die Kammer gleichwohl nicht zu überwinden“ vermocht.

Darüber hinaus habe sich „auch ein bewusstes Ausnutzen einer auf Arglosigkeit beruhenden Wehrlosigkeit“ nicht feststellen lassen. Der Angeklagte habe sich nicht eingelassen, und „äußere Anhaltspunkte für ein bewusstes Ausnutzen“ seien „nicht ersichtlich“ (UA S. 37).

b) Diese Erwägungen halten rechtlicher Prüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand.

aa) Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen bzw. Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. BGH, Urteile vom 3. Juni 2015 - 5 StR 55/15, Rn. 11; vom 21. Oktober 2008 - 1 StR 292/08, Rn. 24). Erweist sich eine Annahme ausschließlich als spekulativ, kann sie auch nicht als Folge des Zweifelssatzes zu Gunsten des Angeklagten den Urteilsfeststellungen zu Grunde gelegt werden (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2008 - 1 StR 327/08, Rn. 8, 14).

So liegt der Fall hier. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei dem Tatopfer möglicherweise „offen feindselig gegenüber getreten“, erweist sich ausschließlich als spekulativ. Aus den Urteilsgründen ergeben sich keine Hinweise, die für ein solches Verhalten des Angeklagten im Zeitpunkt seines ersten Angriffs auf das Leben des Kindes sprechen würden. Im Gegenteil teilt das Urteil eine Reihe von Umständen mit, die gegen eine „offene Feindseligkeit“ des Angeklagten gegenüber dem Tatopfer sprechen. So hat die Schwurgerichtskammer festgestellt, dass der Angeklagte für seine Tochter E. „bis zu ihrem Tod väterlich-liebevolle Gefühle hegte, ihr sehr nah stand“ und sich „stets sehr gut um sie kümmerte“ (UA S. 6). Auch die festgestellten objektiven Umstände, dass sich das Kind im Zeitpunkt des ersten Angriffs unbekleidet und bei befüllter Badewanne im Badezimmer befand, keine Abwehrverletzungen aufwies und der Angeklagte es nach dem Ertränkungsversuch in eines der Kinderzimmer trug, dort mit dem Rücken auf ein Bett legte und bis zum Hals mit einer Bettdecke zudeckte (UA S. 8), bieten keinen Anhaltspunkt für eine etwaige „offene Feindseligkeit“ des Angeklagten gegenüber seiner Tochter.

bb) Darüber hinaus ist zu besorgen, dass das Landgericht an die Prüfung der Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers einen unzutreffenden Maßstab angelegt hat. Denn selbst wenn sich die Unterstellung der Schwurgerichtskammer als wahr erwiese, dass der Angeklagte der Geschädigten „offen feindselig gegenübertrat“, stünde dies der Annahme von Heimtücke nicht in jedem Fall entgegen. Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers können vielmehr auch dann gegeben sein, wenn der Täter ihm feindselig gegenübertritt, das Tatopfer die drohende Gefahr aber erst im letzten Augenblick erkennt, so dass ihm keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen (vgl. BGH, Urteile vom 16. Juni 1999 - 2 StR 68/99, NStZ 1999, 506, 507; vom 5. Februar 1997 - 2 StR 509/96, NStZRR 1997, 168). Mit einem solchen Geschehen hat sich das Landgericht rechtsfehlerhaft nicht auseinandergesetzt.

cc) Schließlich halten die Erwägungen, mit denen das Landgericht ein „bewusstes Ausnutzen“ der Arg- und Wehrlosigkeit verneint hat, rechtlicher Prüfung nicht stand. Hierfür genügt es, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinn erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (vgl. BGH, Urteile vom 11. Oktober 2005 - 1 StR 250/05, Rn. 9; vom 16. Juni 1999 - 2 StR 68/99, aaO; Beschluss vom 10. Juli 2018 - 3 StR 204/18, Rn. 4).

Der Angeklagte stand zur Tatzeit weder unter Alkohol- noch unter Drogeneinfluss und war uneingeschränkt schuldfähig. Auch im Übrigen liegt kein Anhaltspunkt dafür vor, ihm könnte nicht bewusst gewesen sein, dass das Kind seinem überraschenden Angriff schutzlos ausgeliefert war. Vor diesem Hintergrund hätte die Schwurgerichtskammer ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers nicht allein mit dem Hinweis ablehnen dürfen, der Angeklagte habe sich nicht eingelassen und „äußere Anhaltspunkte für ein bewusstes Ausnutzen“ seien nicht ersichtlich, zumal sich das von ihr festgestellte „sehr stringente, zweiaktige Geschehen“ (UA S. 39) mit einem fehlenden Bewusstsein bezüglich der Schutzlosigkeit der Geschädigten schwerlich vereinbaren lässt.

2. Die Ablehnung des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe hält rechtlicher Prüfung ebenfalls nicht stand. Die diesbezüglichen Erwägungen des Landgerichts erweisen sich als lückenhaft.

Der Generalbundesanwalt hat hierzu im Wesentlichen das Folgende ausgeführt:

Die Schwurgerichtskammer hat das Vorliegen sonstiger niedriger Beweggründe abgelehnt. Sie geht davon aus, dass die Tötung der Geschädigten vollkommen grundlos erfolgt sei (UA S. 35: „überhaupt kein Motiv erkennbar, weshalb der Angeklagte seine Tochter getötet hat“).

Mit dem naheliegenden Motiv, das als sonstiger niedriger Beweggrund von der Rechtsprechung anerkannt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2005 - 5 StR 401/05 mwN), die getrenntlebende Ehefrau mit der Tötung ihres Kindes zu „bestrafen“, hat sich die Schwurgerichtskammer nicht auseinandergesetzt. Dies drängte sich angesichts der getroffenen Feststellungen jedoch auf: Am Tattag sollte die stets pünktlich erscheinende Nebenklägerin ihre Tochter um 18 Uhr beim Angeklagten abholen. In der Erwartung ihres Eintreffens hatte der Angeklagte ein Auffindeszenario konstruiert, das lediglich Einblick in das Badezimmer des Hauses, im dem er selbst in der Badewanne lag, gewährte. Zuvor hatte er um 17:39 Uhr eine lange Textnachricht an die Nebenklägerin versandt, in der er unter anderem schrieb: „Schönen Dank, dass du mein Leben kaputt gemacht hast“, „(du) setzt mich unter Druck, nimmst mir die Kinder weg“ (UA S. 10).

Dem schließt sich der Senat an.

3. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, damit das neue Tatgericht umfassende widerspruchsfreie Feststellungen treffen kann.

III.

Die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg. Die sachlich-rechtliche Prüfung des Strafausspruchs hat keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 325

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede