HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1082
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 148/22, Urteil v. 13.12.2022, HRRS 2024 Nr. 1082
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Verden (Aller) vom 13. Juli 2021 mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen Auslagen zu tragen.
- Von Rechts wegen -
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit einer Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und ein Mobiltelefon eingezogen. Gegen dieses Urteil wenden sich die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte mit ihren jeweils auf die Rügen der Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützten Revisionen. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat bereits mit der Sachrüge überwiegend Erfolg. Die Revision des Angeklagten bleibt erfolglos.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs - rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Senat besorgt, dass die Strafkammer an die für eine Verurteilung des Angeklagten wegen einer schweren Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Nr. 1 und Abs. 7 Nr. 2 StGB erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt hat.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hielt sich die damals 25-jährige Nebenklägerin am Tatabend im Haus des Angeklagten, ihres Onkels, auf. Gemeinsam konsumierten sie Alkohol. Als die Nebenklägerin die Toilette aufsuchte, mischte der Angeklagte ihr ein Getränk aus Wodka und Brausepulver und fügte dieser Mischung zehn Milligramm Diazepam bei. Nachdem die Nebenklägerin dieses Getränk in Unkenntnis der Beimengung des Diazepams ausgetrunken hatte und krümelartige Reste am Boden des Glases verblieben waren, füllte der Angeklagte ihr Glas mit einem Schnaps wieder auf, um auch diese Reste vollständig mit der Flüssigkeit zu vermengen. Dieses Glas trank die Nebenklägerin ebenfalls vollständig aus. Wenig später setzte die Wirkung des Diazepams ein. Die Nebenklägerin fühlte sich stark betrunken und benommen; bedingt durch die Wirkung des Diazepams verlor sie nachfolgend mehrfach jeweils vorübergehend das Bewusstsein. Der Angeklagte nutzte diesen Zustand der Nebenklägerin aus, um sexuelle Handlungen an ihr vorzunehmen, wobei ihm ihr entgegenstehender Willen bewusst war. Er schob ihre Oberbekleidung beiseite, manipulierte an ihren nackten Brüsten, filmte dies mit seinem Mobiltelefon, entkleidete ihren Unterkörper, griff so an ihr Gesäß, dass ihr Anus sichtbar war, was er ebenfalls filmte, und führte einen seiner Finger in ihre Vagina und zweimal in ihren Anus ein; hierbei gelangte Samenflüssigkeit des Angeklagten an den Anus der Nebenklägerin.
2. Das Landgericht hat dieses Geschehen als Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 6 Nr. 1 StGB in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit einer Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen gewürdigt. Qualifikationen des § 177 StGB hat es verneint. Diejenige des § 177 Abs. 7 Nr. 2 StGB sei nicht erfüllt, weil sich nicht habe feststellen lassen, dass der Angeklagte der Nebenklägerin das Diazepam verabreicht habe, um die sexuellen Handlungen an ihr vorzunehmen; zu seinen Gunsten sei davon auszugehen, dass er den Entschluss zur Vergewaltigung erst gefasst habe, nachdem bei der Nebenklägerin die Wirkung des Diazepams eingesetzt habe und sie sich nicht mehr habe bewegen können. Aus demselben Grund sei auch die Qualifikation des § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB nicht gegeben. Zwar stelle das Verabreichen von „K.O.-Tropfen“ Anwendung von Gewalt im Sinne dieser Vorschrift dar. Es sei aber nicht feststellbar, dass der Angeklagte bereits bei Verabreichung des Mittels den Vorsatz zur Vornahme einer sexuellen Handlung gehabt habe.
In der Beweiswürdigung hat die Strafkammer hierzu ausgeführt, allein der Umstand, dass der Angeklagte die Nebenklägerin im weiteren Verlauf des Abends vergewaltigt habe, habe sie - die Strafkammer - nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der Angeklagte dies bereits bei Verabreichen des Getränks beabsichtigt habe. Es sei „beispielweise ebenfalls möglich, dass der Angeklagte die Substanz ihrem Getränk beimengte, um die Geschädigte oder ihren Körper zu betrachten und sich selbst zu befriedigen“. Auch seien „andere Konstellationen ohne jeglichen sexuellen Bezug denkbar, so wollte der Angeklagte womöglich an der Geschädigten die Wirkungen von Diazepam beobachten“.
3. Diese Erwägungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand. In der Antragsschrift des Generalbundesanwalts heißt es hierzu zutreffend:
„Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen bzw. Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. BGH, Urteil vom 03.06.2015 - 5 StR 55/15; BGH, Urteil vom 11.01.2005 - 1 StR 478/04; BGH, Urteil vom 21.10.2008 - 1 StR 292/08; BGH, Urteil vom 27.04.2010 - 1 StR 454/09; BGH, Urteil vom 18.09.2008 - 5 StR 224/08). Erweist sich eine Annahme ausschließlich als spekulativ, kann sie auch nicht als Folge des Zweifelssatzes zu Gunsten des Angeklagten den Urteilsfeststellungen zu Grunde gelegt werden (BGH, Urteil vom 04.12.2008 - 1 StR 327/08).
So liegt der Fall hier. Die Annahme, der Angeklagte habe der Geschädigten das Diazepam möglicherweise aus einem anderen Grund verabreicht, als die sexuellen Handlungen zu ermöglichen, beispielsweise habe er möglicherweise die Wirkung des Diazepams beobachten oder die Geschädigte betrachten wollen, erweist sich ausschließlich als spekulativ. Aus den Urteilsgründen ergeben sich keine Hinweise, die für derartige alternative Motive sprechen könnten. Ihnen ist nicht zu entnehmen, warum der Angeklagte ein praktisches Experiment an einer lebenden Frau vornahm, um die Wirkung des Diazepams mit einer muskelrelaxierenden Wirkung zu erforschen bzw. zu beobachten.
Auch für die Annahme, der Angeklagte habe die Geschädigte sediert, um sich ungestört selbst vor ihr zu befriedigen, lassen sich aus den Urteilsfeststellungen keinerlei Anhaltspunkte entnehmen.“
Die Sache bedarf daher neuer tatrichterlicher Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen sind von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen und können bestehen bleiben.
4. Einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten hat die sachlich-rechtliche Überprüfung des angefochtenen Urteils nicht ergeben (§ 301 StPO).
Die Revision des Angeklagten ist unbegründet. Insoweit nimmt der Senat auf die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts Bezug. Die die Zeugin W. betreffende Verfahrensrüge ist unabhängig von den fehlenden Angaben zum Fortgang des Wehrdisziplinarverfahrens unzulässig.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1082
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede