HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 800
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 68/21, Beschluss v. 28.06.2022, HRRS 2022 Nr. 800
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stendal vom 10. November 2020 aufgehoben.
Die Angeklagte wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Tötung auf Verlangen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat Erfolg und führt zu ihrem Freispruch (§ 349 Abs. 4, § 354 Abs. 1 StPO).
Dem Urteil liegen folgende Feststellungen und rechtliche Wertungen zugrunde:
1. Die Angeklagte arbeitete jahrzehntelang als Krankenschwester, bis sie im Jahr 2010 in Rente ging. Sie war seit 1970 mit R. S. verheiratet, der aufgrund einer Lendenwirbelfraktur, die er sich als Jugendlicher zugezogen hatte, und eines Bandscheibenvorfalls seit Anfang der 1990er Jahre unter Schmerzen im Rücken und Schulter-Nacken-Bereich litt. Ab 1993 entwickelte sich ein chronisches Schmerzsyndrom. Seitdem war er krankheitsbedingt arbeitsunfähig und berentet. Er litt seither unter einem schmerzgeleiteten Psychosyndrom, Adipositas, Myalgie, Hypertonie, insulinpflichtigem Diabetes mellitus, einem zervikalen Bandscheibenschaden mit Radikulopathie, psychosomatischen Schlafstörungen, einem Restless-Legs-Syndrom, einer mittelgradigen depressiven Episode und Arthrose in den Händen. Im Jahr 2016 musste er sich überdies einer Hüftoperation unterziehen.
Seit 2016 wurde R. S. zu Hause von der Angeklagten gepflegt. Eine Heimunterbringung oder ambulante Pflege sowie ärztliche Behandlung lehnte er ab, abgesehen von halbjährlichen Besuchen der Hausärztin. Er wurde unter anderem mit Hydromorphon in Tablettenform, Diazepam, Prothazin liquidum sowie Insulininjektionen behandelt. Das Insulin verabreichte ihm seit 2017 die Angeklagte, die ihm auch die Tabletten aus den Blistern drückte, weil es ihm aufgrund seiner Arthrose schwerfiel, die Spritzen selbst aufzuziehen und die Tabletten herauszudrücken. Seit Anfang 2019 war er bettlägerig. Er äußerte vermehrt den Wunsch zu sterben und kam mit der Angeklagten dahin überein, dass kein Arzt geholt werden solle, wenn er seinem Leben ein Ende setzen wolle.
Als seine Schmerzen seit dem Frühjahr 2019 weiter zunahmen und sich sein gesundheitlicher Zustand stetig verschlechterte, erwog R. S. die Inanspruchnahme eines Sterbehilfevereins, sah sich daran aber durch das seinerzeit geltende gesetzliche Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe in Deutschland gehindert. Er sagte nun nahezu wöchentlich, „gehen“ zu wollen. Im Juni 2019 bat er die Angeklagte, ein paar Tage wegzufahren, weil er sich zu Hause mit Tabletten das Leben nehmen wolle; sie kam dieser Aufforderung jedoch nicht nach.
Am 7. August 2019 litt R. S. an schwersten Schmerzen und hatte seit Tagen keinen Stuhlgang gehabt. Kurz nach 15 Uhr versuchte die Angeklagte, ihn aus dem Pflegebett aufzurichten und auf den Nachtstuhl zu setzen, was ihr jedoch nicht gelang. Seine Rückenschmerzen waren so stark, dass er laut aufschrie. Erst nachdem sie ihm auf seine Bitte vier schnellwirkende, hochdosierte Schmerztabletten (Hydromorphon 25 mg akut) gegeben hatte, gelang es ihr gegen 17 Uhr, ihn auf den Nachtstuhl zu setzen; er hatte jedoch nach wie vor keinen Stuhlgang.
Als sie anschließend zusammen Kaffee tranken und er zwei Zigaretten rauchte, sagte er: „Heute machen wir’s“. Der Angeklagten war klar, dass er damit meinte, seinem Leben an diesem Tag ein Ende setzen zu wollen. Im weiteren Verlauf des Abends äußerte er, die Schmerzen nicht mehr auszuhalten und an diesem Tag „gehen“ zu wollen. Er sprach mit ihr über die gemeinsamen Ehejahre und sagte, dass er sie nicht gern allein lasse, aber trotzdem heute „gehen“ müsse. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war ihr bewusst, dass der Sterbewunsch ihres Mannes ernst war.
R. S. forderte die Angeklagte gegen 23 Uhr auf, ihm alle im Haus vorrätigen Tabletten zu geben. Sie fragte ihn, ob er keinen Abschiedsbrief schreiben wolle, weil sonst „noch alle denken“ würden, dass sie ihn umgebracht habe. Er hielt dies zunächst nicht für nötig, schrieb dann aber mit zitternden Händen in ein Notizbuch, dass er unter den großen Schmerzen nicht weiterleben wolle, seiner Frau verboten habe, einen Arzt einzuschalten, und hoffe, dass sein Tablettenvorrat ausreiche, um von seinen großen Schmerzen erlöst zu werden. Anschließend trug die Angeklagte seinem Wunsch entsprechend alle verfügbaren Medikamente zusammen, brach die Tabletten (ca. zehn Tabletten Hydromorphon 25 mg akut und 15 Diazepamtabletten) aus den Verpackungen und gab ihm diese in die Hand. Sie schüttete den Inhalt einer noch fast vollen 50-ml-Flasche Prothazin in ein Wasserglas und reichte es ihm. Er nahm alle Tabletten selbständig ein und schluckte sie mit dem Inhalt des Trinkglases hinunter.
Nun forderte er die Angeklagte auf, alle noch vorhandenen Insulinspritzen zu holen. Er legte sich hin und rauchte. Die Angeklagte holte sechs schnell wirkende Insulinspritzen mit jeweils 100 Einheiten. Ihr war bewusst, dass sie ihrem Mann nunmehr entsprechend der üblichen Handhabung die sechs Insulinspritzen in die Bauchdecke injizieren sollte, was sie auch tat. Sie wusste, dass die Insulingabe geeignet war, seinen Tod herbeizuführen.
Nachdem sie ihm die Insulinspritzen verabreicht hatte, fragte R. S. die Angeklagte, ob dies auch alle vorrätigen Spritzen gewesen seien, „nicht, dass er noch als Zombie“ zurückkehre, und bat sie, ihm die Urinflasche anzulegen. Sie bejahte seine Frage und legte ihm die Urinflasche an. Ihm fiel es nun zunehmend schwer, seine letzte Zigarette sicher in der Hand zu halten, weshalb die Angeklagte ihm diese aus der Hand nahm. Er fuhr sich noch einmal mit der Hand über den Kopf und schlief ein. Die Angeklagte vergewisserte sich immer wieder, ob er noch atme, und stellte schließlich gegen 3:30 Uhr seinen Tod fest. Einen Arzt informierte sie aufgrund der mit ihrem Ehemann getroffenen Absprache nicht. R. S. starb an Unterzuckerung infolge des injizierten Insulins. Die anfangs mittels der Tabletten eingenommenen Wirkstoffe waren ebenfalls geeignet, seinen Tod herbeizuführen, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt.
2. Das Landgericht hat den Tatbestand des § 216 Abs. 1 StGB als verwirklicht angesehen. Die Angeklagte habe nicht nur straflose Beihilfe zum Suizid geleistet. Sie habe R. S. aktiv handelnd die Insulinspritzen gesetzt. Obwohl er bei vollem Bewusstsein gewesen sei, habe er nicht bis zum Eintritt des Todes die Möglichkeit gehabt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Als sie ihm das Insulin injiziert habe, habe er sich bereits entschlossen, ihre auf seinen Tod hinzielende Handlung duldend hinzunehmen, und dies auch getan. Denn er habe nicht gewusst, ob und wann die Insulingabe tödliche Wirkung haben und bis wann es ihm möglich sein werde, sich dieser tödlichen Wirkung zu entziehen, was der Angeklagten bewusst gewesen sei. Er habe mithin sein Leben in ihre Hand gelegt.
Die Revision ist begründet. Die Angeklagte hat sich unter keinem Gesichtspunkt strafbar gemacht.
1. Die Verurteilung der Angeklagten wegen Tötung auf Verlangen (§ 216 Abs. 1 StGB) wird von den Feststellungen nicht getragen. Das Verhalten der Angeklagten stellt sich nicht als Tötung ihres Ehemanns durch aktives Tun, sondern als straflose Beihilfe zu dessen Suizid dar.
a) Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterordnet. Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Gibt sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, dann hat dieser die Tatherrschaft. Behält der Sterbewillige dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Dies gilt nicht nur, wenn die Ursachenreihe von ihm selbst, sondern auch, wenn sie vom anderen bewirkt worden war. Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 14. August 1963 - 2 StR 181/63, BGHSt 19, 135, 139 f. [„Gisela-Fall“]; vom 4. Juli 2018 - 2 StR 245/17, BGHSt 63, 161, 165; vom 3. Juli 2019 - 5 StR 132/18, BGHSt 64, 121, 125; OLG München NJW 1987, 2940, 2941).
Die Abgrenzung strafbarer Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zum Suizid kann dabei nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln vorgenommen werden. Geboten ist vielmehr eine normative Betrachtung (vgl. BGH, Urteile vom 25. Juni 2010 - 2 StR 454/09, BGHSt 55, 191, 202 f.; vom 3. Juli 2019 - 5 StR 393/18, BGHSt 64, 135, 138).
b) Danach beherrschte nicht die Angeklagte das zum Tode führende Geschehen, sondern ihr Ehemann. Dem steht nicht entgegen, dass die Angeklagte ihm das todesursächliche Insulin durch aktives Tun verabreichte. Eine isolierte Bewertung dieses Verhaltens trägt dem auf die Herbeiführung des Todes gerichteten Gesamtplan nicht hinreichend Rechnung. Danach wollte sich R. S. in erster Linie durch die Einnahme sämtlicher im Haus vorrätigen Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel das Leben nehmen, während die zusätzliche Injektion des Insulins vor allem der Sicherstellung des Todeseintritts diente; er wollte keinesfalls „als Zombie zurückkehren“. Bei wertender Betrachtung bildeten die Einnahme der Tabletten und die Injektion des Insulins nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt, über dessen Ausführung allein R. S. bestimmte. Die Medikamente nahm er eigenständig ein, während die Angeklagte ihm der jahrelangen Übung entsprechend die Insulinspritzen setzte, weil ihm dies aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen schwerfiel. Nach dem Gesamtplan war es letztlich dem Zufall geschuldet, dass das Insulin seinen Tod verursachte, während die Medikamente ihre tödliche Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt entfaltet hätten. In Anbetracht dessen wird die Annahme des Landgerichts, dass R. S. sich in die Hand der Angeklagten begeben und den Tod duldend von ihr entgegengenommen habe, den Besonderheiten des Falles nicht gerecht.
Dies gilt umso mehr, als R. S. das zu seinem Tod führende Geschehen auch noch beherrschte, nachdem die Angeklagte ihm das Insulin injiziert und ihren aktiven Beitrag damit abgeschlossen hatte. Er blieb anschließend noch eine gewisse Zeit lang bei Bewusstsein und sah eigenverantwortlich davon ab, Gegenmaßnahmen einzuleiten, etwa die Angeklagte aufzufordern, den Rettungsdienst zu alarmieren. Er ließ sich im Gegenteil von ihr versichern, dass sie ihm „alle vorrätigen Spritzen“ gesetzt hatte.
c) Dieser Bewertung steht die Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs im sogenannten Gisela-Fall (Urteil vom 14. August 1963 - 2 StR 181/63, aaO) nicht entgegen, weil sich der ihr zugrundeliegende Sachverhalt und der nunmehr zu beurteilende in rechtlich bedeutsamer Hinsicht unterscheiden. Seinerzeit hatten der Angeklagte auf dem Fahrersitz und die ebenfalls sterbewillige Geschädigte auf dem Beifahrersitz eines Autos Platz genommen, und der Angeklagte ließ mittels eines an das Auspuffrohr angeschlossenen Schlauchs Abgas in das Wageninnere strömen, indem er das Gaspedal durchtrat, bis er die Besinnung verlor. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hob den Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf der Tötung auf Verlangen auf, obwohl die Geschädigte zunächst noch in der Lage gewesen war, die Beifahrertür zu öffnen oder den Fuß des Angeklagten vom Gaspedal zu stoßen. Die Tatherrschaft des Angeklagten sah er darin begründet, dass dieser nach dem Gesamtplan durch das fortdauernde Durchtreten des Gaspedals das Geschehen bis zuletzt in der Hand haben sollte. Der aktive Beitrag des Angeklagten war mithin während des Zeitraums noch nicht abgeschlossen, in dem die Geschädigte sich noch hätte retten können. Das Treten des Gaspedals als eigentliche Tötungshandlung hatte die gleichzeitige Selbstrettungsmöglichkeit der Sterbewilligen derart überlagert, dass bei wertender Betrachtung der Angeklagte, nicht jedoch die Sterbewillige die Herrschaft über das Geschehen innehatte (vgl. Otto in Festschrift Tröndle, 1989, S. 157, 161, 163; Sowada in Festschrift Merkel, 2020, S. 1109, 1114, 1116). Hier erschöpfte sich der aktive Beitrag der Angeklagten nach dem Gesamtplan demgegenüber darin, R. S. die Insulinspritzen zu verabreichen, „bis zuletzt“ sollte sie das gesamte Geschehen dementsprechend nicht in der Hand haben.
Der festgestellte Sachverhalt ist hingegen mit demjenigen vergleichbar, der dem Urteil des Reichsgerichts vom 27. August 1920 - 905/20 II, JW 1921, 579 („Gashahn-Fall“) zugrunde lag. Dort hatten der Angeklagte und die Geschädigte ein Hotelzimmer bezogen, um gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Zu diesem Zweck verstopfte die Geschädigte die Türritzen, während der Angeklagte die Gashähne öffnete. Die Geschädigte starb infolge einer Gasvergiftung, der Angeklagte konnte indes gerettet werden. Wie in dem hier zu beurteilenden Fall hätte die Geschädigte ohne Weiteres Rettungsmaßnahmen ergreifen können, nachdem der aktive Beitrag des Angeklagten abgeschlossen war. Das Reichsgericht bejahte gleichwohl die Tatherrschaft des Angeklagten, leitete diese allerdings allein daraus her, dass er die Tat als eigene gewollt habe. Diese nach subjektiven Merkmalen ausgerichtete Unterscheidung von strafloser Beihilfe zur Selbsttötung und Tötung auf Verlangen verwarf der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seiner Entscheidung im „Gisela-Fall“ (vgl. BGH, Urteil vom 14. August 1963 - 2 StR 181/63, aaO, S. 138 f.), wobei er zugleich zutreffend klarstellte, dass der Angeklagte im „Gashahn-Fall“ bei richtiger Bewertung lediglich Beihilfe zur Selbsttötung geleistet habe (vgl. BGH, aaO, S. 140; ebenso Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 24; Otto, aaO, S. 164; Sowada, aaO, S. 1116; aA LK-StGB/Rissing-van Saan, 12. Aufl., § 216 Rn. 44; MüKo-StGB/Schneider, 4. Aufl., § 216 Rn. 47, 52; Schroeder, ZStW 1994, 565, 578).
Auch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25. November 1986 (1 StR 613/86, NJW 1987, 1092 [„Scophedal-Fall“]) gebietet keine andere Beurteilung. Denn R. S. hatte - anders als der dortige Sterbewillige - gerade nicht die Möglichkeit verloren, das Geschehen zu beeinflussen. Vielmehr hielt er es bis zuletzt selbst in der Hand.
d) Da die Angeklagte den Tatbestand des § 216 Abs. 1 StGB danach mangels Tatherrschaft nicht durch aktives Tun verwirklicht hat, kann dahinstehen, ob und inwieweit die Vorschrift diesbezüglich mit Blick auf das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf selbstbestimmtes Sterben auf Bedenken stößt.
aa) Nach den dazu vom Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das gemäß § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (vgl. BVerfGE 153, 182) entwickelten Grundsätzen gewährleistet Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG das Recht, selbstbestimmt die Entscheidung zu treffen, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden und bei der Umsetzung der Selbsttötung auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen (vgl. BVerfG, aaO, Rn. 203 ff.). Ist die Wahrnehmung des Grundrechts von der Einbeziehung dritter Personen abhängig, schützt es auch davor, dass es durch ein Verbot gegenüber Dritten beschränkt wird, im Rahmen ihrer Freiheit Unterstützung anzubieten (vgl. BVerfG, aaO, Rn. 213). In dieses Recht können auch strafrechtliche Normen eingreifen, die sich nicht an den Suizidenten, sondern an die dritten Personen richten. Der legitime Einsatz des Strafrechts zum Schutz der autonomen Entscheidung des Einzelnen über die Beendigung seines Lebens findet indessen seine Grenze dort, wo die freie Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht wird (vgl. BverfG, aaO, Rn. 273). Dies hat das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des ausnahmslosen Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gemäß § 217 Abs. 1 StGB aF bejaht.
bb) Der Senat neigt zu der Auffassung, dass die vom Bundesverfassungsgericht in Bezug auf § 217 Abs. 1 StGB entwickelten Grundsätze (vgl. zum Recht auf selbstbestimmtes Sterben ferner EGMR, NJW 2002, 2851; BVerwGE 158, 142; BGH, Urteil vom 3. Juli 2019 - 5 StR 393/18, aaO, S. 142) auf § 216 Abs. 1 StGB übertragbar sind, weil diese Vorschrift in vergleichbarer Weise in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben eingreift (in diesem Sinne Kienzerle, Paternalismus im Strafrecht der Sterbehilfe, 2021, S. 433; Godinho, GA 2015, 329, 331; Huber/Ruf, medstra 2021, 135, 141; Kunze, medstra 2022, 88, 91; Lindner, NStZ 2020, 505, 507; Öz, JR 2021, 428, 429; Rostalski, JR 2021, 477, 480; aA Leipold/Tsambikakis/Zöller/Mitsch, Anwaltkommentar StGB, 3. Aufl., § 216 Rn. 1; LK-StGB/Rissing-van Saan, aaO, § 216 Rn. 4; Matt/Renzikowski/Safferling, StGB, 2. Aufl., § 216 Rn. 2; MüKo-StGB/Schneider, aaO, § 216 Rn. 60; Grünewald, JR 2021, 99, 105; Höfling, GesR 2021, 351, 354; Scholz, medstra 2021, 157, 161). Er hält es für naheliegend, dass § 216 Abs. 1 StGB einer verfassungskonformen Auslegung bedarf, wonach jedenfalls diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen, aus dem Leben zu scheiden, sie vielmehr darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt (vgl. dazu Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., § 216 Rn. 15a; Godinho, aaO, S. 338; Kunze, aaO, S. 92; Leitmeier, NStZ 2020, 508, 512; Lindner, aaO, S. 507; aA Matt/Renzikowski/Safferling, aaO, § 212 Rn. 39).
2. Die Angeklagte hat sich auch nicht wegen Tötung auf Verlangen durch Unterlassen (§ 216 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht, indem sie davon absah, Rettungsmaßnahmen zu veranlassen, nachdem R. S. eingeschlafen war. Denn es fehlte insoweit an einer strafbarkeitsbegründenden Einstandspflicht für die Abwendung seines Todes. Sie ergab sich weder aus der bestehenden Ehe noch aus Ingerenz.
a) Zwar erwuchs der Angeklagten aus § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB die Stellung als Garantin für Leib und Leben ihres Ehemannes (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 1952 - 1 StR 59/50, BGHSt 2, 150, 153; Schönke/Schröder/Bosch, StGB, aaO, § 13 Rn. 18; Ceffinato, NStZ 2021, 65 mwN; Herzberg, NJW 1986, 1635, 1638). Aus dieser Verantwortungsstellung folgte aber für das konkrete Geschehen keine Pflicht zur Abwendung seines Todes. Denn der ohne Wissens- und Verantwortungsdefizit frei gefasste und erklärte Sterbewille ihres Mannes, der sich darin manifestierte, dass er ihr verbot, ärztliche Hilfe zu holen, führte zur situationsbezogenen Suspendierung ihrer Einstandspflicht für sein Leben. Insoweit gilt Entsprechendes wie für Garantenpflichten, die sich aus dem Arzt-Patienten-Verhältnis oder aus einer Wohn- und Lebensgemeinschaft ergeben.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs endet die Schutzposition eines Arztes für Leib und Leben seines Patienten, wenn dieser seinen Sterbewunsch äußert und nur noch um Begleitung im Sterben bittet (vgl. BGH, Urteil vom 3. Juli 2019 - 5 StR 393/18, aaO, S. 142). Denn das grundgesetzlich geschützte Selbstbestimmungsrecht gewährt auch die Freiheit, Heilbehandlungen selbst dann abzulehnen, wenn sie lebenswichtig sind, und so über das eigene Leben zu verfügen. Ein in diese Richtung geäußerter Wille ist auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit zu respektieren (vgl. § 1901a BGB), solange er ohne Wissens- oder Verantwortlichkeitsdefizit freiverantwortlich gebildet und umgesetzt wurde und sich später keine Hinweise auf eine Änderung des Sterbewillens ergeben (vgl. BGH, aaO, S. 145 mwN).
bb) Der Bundesgerichtshof hat ferner entschieden, dass die Begründung einer Wohn- und Lebensgemeinschaft zwar Obhuts- und Schutzpflichten zu erzeugen vermag. Hieraus folgt aber keine Rechtspflicht, den anderen am selbstgewollten Ableben zu hindern, sofern sich dieser in freier Willensbestimmung dazu entschlossen hat, dem für ihn erkennbar herannahenden Tod keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen, sondern dem dazu führenden Geschehen seinen Lauf zu lassen (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 1982 - 2 StR 494/82 Rn. 9).
cc) Die Auffassung, nach der das Selbstbestimmungsrecht und die Eigenverantwortlichkeit des Sterbewilligen die Einstandspflicht im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB begrenzen, wird auch in der Literatur weithin vertreten (vgl. Hoffmann, Der sogenannte natürliche Wille und sein Verhältnis zur Patientenautonomie im Recht der ärztlichen Heilbehandlung, 2021, 114; Kienzerle, aaO, S. 211; Öz, Das Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Opfers und dem strafrechtlichen Lebensschutz, 2021, S. 40; Otto, Recht auf den eigenen Tod? in: Verhandlungen des 56. Deutschen Juristentages, 1986, D 66; Roxin in Festschrift Fischer, 2018, S. 509, 519; Sowada in Festschrift Merkel, aaO, S. 1109; Leipold/Tsambikakis/Zöller/Mitsch, aaO, § 216 Rn. 26; MüKo-StGB/Schneider, aaO, Vor § 211 Rn. 75, 77, § 216 Rn. 66; Ceffinato, aaO, S. 66; Engländer JZ 2019, 1049, 1051; Hillenkamp, JZ 2019, 1053, 1056; Merkel, ZStW 1995, 545, 553; Miebach, NStZ 2016, 530, 537; Roxin, NStZ 1987, 345, 346; ders. GA 2013, 313, 317; Saliger, medstra 2015, 132, 136; Schroth, GA 2006, 549, 568; Sowada, NStZ 2019, 670, 671; Windsberger, ZErb 2021, 95, 96).
dd) Für eine durch Eheschließung begründete Garantenpflicht kann nichts anderes gelten, zumal die vom 5. Strafsenat zur Begrenzung der ärztlichen Schutzposition für das Leben seiner Patienten herangezogenen Gründe (vgl. BGH, Urteil vom 3. Juli 2019 - 5 StR 393/18, aaO, S. 142) mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 153, 182) zum Recht auf selbstbestimmtes Sterben zusätzliches Gewicht erlangt haben. Dieses Recht schützt auch vor Verboten gegenüber Dritten, von denen die Wahrnehmung des Grundrechts abhängig ist (BVerfG, aaO, Rn. 213). Deshalb kann eine strafbewehrte Pflicht, den Ehepartner zu retten, wenn dieser infolge einer freiverantwortlichen Selbsttötungsentscheidung eingeschlafen ist, fortan keinen Bestand haben.
ee) Das Urteil des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 12. Februar 1952 (1 StR 59/50, BGHSt 2, 150) steht dieser Beurteilung nicht in einer ein Anfrageverfahren nach § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG erfordernden Weise entgegen. Zum einen unterscheidet sich der ihm zugrundeliegende Sachverhalt von dem nunmehr zu beurteilenden wesentlich dadurch, dass R. S. der Angeklagten ausdrücklich verboten hatte, ärztliche Hilfe zu holen. Zum anderen ist - abgesehen von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum verfassungsrechtlich verbürgten Recht auf selbstbestimmtes Sterben - die damalige Gesetzeslage mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl. I 2286) überholt. Hierdurch hat der Gesetzgeber die Verbindlichkeit des Willens des Betroffenen für Behandlungsentscheidungen über den Zeitpunkt des Eintritts seiner Einwilligungsunfähigkeit hinaus klargestellt (§ 1901a BGB). Die Maßgeblichkeit dieses Willens ist nicht auf bestimmte Erkrankungen beschränkt. Vielmehr ist der Wille des Betroffenen selbst bei Selbstgefährdung und Selbstaufgabe, mithin auch im Fall des Eintretens pathologischer Zustände im Verlauf einer Selbsttötung, nunmehr von Gesetzes wegen zu beachten (vgl. BGH, Urteil vom 3. Juli 2019 - 5 StR 393/18, aaO, S. 143). Adressat dieser verfügenden Willensbekundung ist in Fällen der vorliegenden Art auch der Ehepartner, denn die Patientenverfügung richtet sich an alle, die am Dialog über die Behandlung beteiligt sind (vgl. BT-Drucks. 16/8442, S. 9).
b) Die Angeklagte traf auch keine Rettungspflicht aus vorangegangenem gefährdenden Tun.
Eine Garantenstellung wegen Ingerenz wurde nicht dadurch begründet, dass die Angeklagte R. S. die Medikamente reichte und ihm die Insulinspritzen setzte. Hiergegen stehen die freiverantwortlichen Entscheidungen des Sterbewilligen, die Medikamente einzunehmen und die durch das Spritzen des Insulins in Gang gesetzte Ursachenreihe nicht zu unterbrechen. Das Risiko für die Verwirklichung der durch das Vorverhalten des Angeklagten erhöhten Gefahr lag allein im Verantwortungsbereich von R. S. (vgl. BGH, Urteil vom 3. Juli 2019 - 5 StR 393/18, aaO, S. 145; Engländer, aaO, S. 1051).
3. Eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen versuchter Tötung auf Verlangen (§ 216 Abs. 1, § 22 StGB) scheidet ebenfalls aus.
a) Eine Versuchsstrafbarkeit käme in Betracht, wenn nach dem Vorstellungsbild der Angeklagten ihrem Ehemann nach dem Setzen der Insulinspritzen keine Möglichkeit mehr geblieben wäre, eine Entscheidung über Rettungsmaßnahmen zu treffen. Innere Tatsachen dieser Art hat das Landgericht nicht festgestellt. Sie liegen bei der Angeklagten, die als Krankenschwester ihren seit langem an Diabetes mellitus erkrankten Ehemann pflegte und bei der Insulintherapie unterstützte, auch fern.
b) Das Landgericht hat zudem keine Fehlvorstellung der Angeklagten über die Grenzen der Verantwortlichkeit als Ehefrau für Leib und Leben ihres Mannes nach Eintritt der Bewusstlosigkeit festgestellt; eine solche beträfe ohnehin kein Tatbestandsmerkmal, sondern die Frage der strafrechtlichen Bewehrung. Selbst wenn die Angeklagte irrig angenommen hätte, sie verletze eine bestehende Garantenpflicht, läge mithin lediglich ein strafloses Wahndelikt vor (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. Mai 1961 - GSSt 1/61, BGHSt 16, 155, 160; vom 8. Juni 2017 - 1 StR 614/16; LK-StGB/Murmann, 13. Aufl., § 22 Rn. 299).
c) Eine Fehlvorstellung der Angeklagten über die Voraussetzungen einer Garantenstellung aus Ingerenz ist ebenso wenig festgestellt. Der Senat schließt aus, dass sie einem Irrtum über Tatsachen hätte erlegen sein können. Ein Irrtum über die normativen Bedingungen einer Einstandspflicht im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB vermag hingegen keine Strafbarkeit zu begründen (vgl. oben b).
4. Schließlich hat sich die Angeklagte nicht wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB) strafbar gemacht, indem sie es unterließ, Rettungsmaßnahmen einzuleiten, nachdem R. S. eingeschlafen war. Eine dem von ihm geäußerten Willen zuwiderlaufende Hilfeleistung war ihr aus den bereits genannten Gründen nicht zumutbar (vgl. dazu BGH, Urteil vom 3. Juli 2019 - 5 StR 132/18, BGHSt 64, 121, 133 ff.).
5. Das angefochtene Urteil kann mithin keinen Bestand haben. Der Senat entscheidet in der Sache selbst und spricht die Angeklagte gemäß § 354 Abs. 1 StPO frei. Denn es ist auszuschließen, dass ein neues Tatgericht Feststellungen treffen könnte, die einen Schuldspruch gegen die Angeklagte tragen würden. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist umfassend.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 800
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi