HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 980
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 470/21, Urteil v. 18.05.2022, HRRS 2022 Nr. 980
Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 7. Mai 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Totschlags freigesprochen. Hiergegen wendet sich der Nebenkläger mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in Einklang mit der Auffassung des Generalbundesanwalts Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Seit Anfang November 2019 entwickelte sich beim Angeklagten die überwertige wahnhafte Idee, seine Ehefrau habe ein Verhältnis mit dem Nebenkläger. Nicht ausschließbar beruhte diese auf einer akuten, nicht andauernden wahnhaften psychotischen Störung, ohne dass Anhaltspunkte dafür bestanden, dass der Defektzustand bereits vor diesem Zeitpunkt vorgelegen hatte. Der Wahn verfestigte sich bis zum 13. November 2019 so sehr, dass der Angeklagte den Nebenkläger im Straßenverkehr „ausbremste“ und ihm durch das geöffnete Autofenster mit der Faust ins Gesicht schlug. Drei Tage später rief er dessen Arbeitgeber an und stellte in Aussicht, dass er dem Nebenkläger den Kopf „abmachen“ werde, wenn er sich jemals wieder „im Gebiet“ des Angeklagten blicken lasse.
Familienangehörige versuchten, dem Angeklagten medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Am 9. Dezember 2019 wurde er von seiner Tochter in eine Klinik gebracht. Sie gab an, dass er unter massivem „Eifersuchtswahn“ in Bezug auf seine Frau leide. Der Angeklagte entzog sich jedoch einer Behandlung. Ein in der Folge aufgesuchtes psychiatrisches Krankenhaus verließ er gleichfalls wieder. Bei einem Moscheebesuch kündigte er die Tötung des Nebenklägers an. Einige Tage vor der Tat wurde der Nebenkläger gewarnt, dass der Angeklagte mit einem Messer auf der Suche nach ihm sei. Der Nebenkläger legte einen Stock in sein Auto, um sich gegen den Angeklagten verteidigen zu können.
Am Vormittag des 24. Dezember 2019 „hatte der Angeklagte sich derart in seinen akuten Eifersuchtswahn hineingesteigert, dass er keine Handlungsalternative dazu sah, den Nebenkläger durch einen gewaltsamen Angriff mit einem Messer zur Aufgabe der nur in der Vorstellung des Angeklagten bestehenden Affäre mit seiner Frau zu zwingen“. Er fuhr mit einem Messer bewaffnet zur Wohnung des Nebenklägers und wurde dort von dessen Tochter gesehen. Der Nebenkläger und sein Bruder verließen das Haus, um den Angeklagten zur Rede zu stellen. Dieser war jedoch mittlerweile wieder weggefahren, wobei er seinen Plan nicht aufgegeben hatte. Der Nebenkläger und sein Bruder bestiegen ein Auto, um den Angeklagten zu suchen.
Als sie an einer Ampel warteten, fuhr der Angeklagte neben den Wagen des Nebenklägers. Sinngemäß sagte er, er habe „die Schnauze voll“ und werde dem Nebenkläger „den Kopf wegmachen“ oder ihn „schlachten“. Beide stiegen aus ihren Autos aus und trafen vor dem Auto des Angeklagten aufeinander. Der Angeklagte hielt sein Messer in der Hand, das der Nebenkläger aber nicht als solches erkannte. Der Nebenkläger hatte seinen Stock dabei. Der Angeklagte machte eine Bewegung mit dem Messer in Richtung des Nebenklägers. Der Nebenkläger schlug ihm den Stock kräftig gegen den Kopf. Beide Angriffe erfolgten „in offensiver Absicht“. Der Nebenkläger schlug ein weiteres Mal zu. Den Schlag blockte der Angeklagte mit dem Unterarm ab. Der Nebenkläger rutschte aus und fiel auf den Rücken. Im Zuge dessen verlor er den Stock. Unmittelbar danach beugte sich der Angeklagte hinunter und stach ihm das Messer in den Oberbauch. Es war ihm bewusst, dass die Handlung eine lebensgefährliche oder gar tödliche Verletzung verursachen konnte, was ihm zumindest gleichgültig war.
Es schloss sich ein Kampfgeschehen an, in dessen Verlauf der Nebenkläger das auf den Boden gefallene Messer aufnahm und den Angeklagten in das Bein und den Arm stach. Schließlich gelang es Passanten, die beiden zu trennen. Während des letzten Gerangels warf der Angeklagte dem Nebenkläger vor, er habe seine Familie zerstört.
Der Nebenkläger erlitt durch den Stich eine Oberbauchverletzung mit Öffnung des Dünndarms. Aufgrund des Austritts von Darminhalt in die Bauchhöhle bestand Lebensgefahr, die nur durch rasche medizinische Behandlung abgewendet werden konnte und einen neuntägigen Aufenthalt im Krankenhaus notwendig machte. Auch der Angeklagte wurde erheblich verletzt. Insbesondere mussten Schnittverletzungen chirurgisch vernäht werden. Seine stationäre Behandlung dauerte sieben Tage.
2. Die Schwurgerichtskammer hat angenommen, dass der Angeklagte einen versuchten Totschlag nach § 212 Abs. 1, §§ 22, 23 StGB begangen habe.
Jedoch sei er freizusprechen, weil seine Steuerungsfähigkeit bei der Tat womöglich vollständig aufgehoben gewesen sei. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte jedenfalls im Augenblick der Tat so sehr unter dem Bann seines „Eifersuchtswahns“ gestanden habe, dass er zu keiner anderen Handlung in der Lage gewesen sei. Mangels überdauernden Defektzustandes im Sinne von § 63 Satz 1 StGB scheide eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus aus.
3. Die Schuldfähigkeitsprüfung hält rechtlicher Überprüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand. Sie beruht auf einer unzureichenden Beweiswürdigung und legt nahe, dass das Landgericht der psychiatrischen Sachverständigen und deren Zweifel an erhalten gebliebener Steuerungsfähigkeit („könne nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden“) gefolgt ist, ohne sich - wie es geboten gewesen wäre (st. Rspr. vgl. etwa BGH, Urteil vom 26. Juni 1997 - 4 StR 153/97, NJW 1997, 3101 mwN) - unter Berücksichtigung aller Umstände, die deren Bewertung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in Frage stellen, ein eigenes Urteil zur Schuldfähigkeit zu bilden.
a) Das Urteil enthält nur unzureichende Feststellungen zu den medizinisch-psychiatrischen Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten.
Bereits der von der psychiatrischen Sachverständigen diagnostizierte „akute Eifersuchtswahn“ ist nicht hinreichend belegt. Den Urteilsgründen ist lediglich zu entnehmen, dass der - im gesamten Verfahren schweigende - Angeklagte grundlos davon überzeugt war, seine Ehefrau habe ein Verhältnis mit dem Nebenkläger, und dass er diesem deshalb nach dem Leben trachtete. Die insoweit getroffenen - eher kursorischen - Feststellungen beruhen dabei wohl auf der Aussage eines Polizeibeamten, zu der das Landgericht Einzelheiten nicht mitteilt. Auf dieser Basis kann nicht beurteilt werden, ob die Wertung der Sachverständigen zutrifft, der Angeklagte sei einem Wahnsystem verfallen. Die erforderliche umfassende Erörterung und Würdigung der Befundtatsachen, im Rahmen derer namentlich auch zu erörtern gewesen wäre, ob nur eine keiner Eingangsvoraussetzung des § 20 StGB unterfallende pathologisch akzentuierte Eifersucht vorgelegen haben könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 1998 - 3 StR 331/98, NStZ-RR 1999, 137; Winckler/Foerster, NStZ 1998, 297, 298), lassen das Gutachten und damit auch das Urteil vermissen.
b) Aus den Urteilsgründen ergibt sich ferner nicht, ob der von der psychiatrischen Sachverständigen in Abgrenzung zu einer akuten Psychose aufgrund einer paranoiden Schizophrenie wohl angenommene „Eifersuchtswahn“ im Rahmen einer „wahnhaften psychotischen Störung“ der krankhaften seelischen Störung oder der schweren anderen seelischen Störung unterfällt (zur regelmäßigen Zuordnung des „Eifersuchtswahns“ zum vierten „biologischen“ Eingangsmerkmal des § 20 StGB vgl. LK-StGB/Schöch, 12. Aufl., § 20 Rn. 82; MüKo-StGB/Streng, 4. Aufl., § 20 Rn. 45, jeweils mwN; s. auch BGH, Urteil vom 26. Juni 1997 - 4 StR 153/97, aaO, S. 3102). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf für die Anwendung der §§ 20, 21 StGB aber nicht offenbleiben, welche Eingangsvoraussetzung des § 20 StGB vorliegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. November 2004 - 2 StR 367/04, BGHSt 49, 347, 351; vom 2. August 2016 - 2 StR 574/15; SSW-StGB/Kaspar, 5. Aufl., § 20 Rn. 16). Das gilt schon deswegen, weil Zustände, die den schweren anderen seelischen Störungen zuzurechnen sind, anders als endogene und exogene Psychosen (krankhafte seelische Störungen) nur in seltenen Ausnahmefällen zur Exkulpation führen (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 26. Juni 1997 - 4 StR 153/97, aaO, S. 3102; LK-StGB/Jähnke, 11. Aufl., § 20 Rn. 64; Perron/Weißer in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 20 Rn. 22, jeweils mwN). Die Störung muss dafür ein solches Gewicht aufweisen, dass sie den Angeklagten im Kern seiner Persönlichkeit beeinträchtigt und damit seine Fähigkeit zu sinnvollem Handeln völlig oder in gewissen Beziehungen zerstört (st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52 f.; vom 26. Juni 1997 - 4 StR 153/97, aaO, S. 3102; vom 14. August 2014 - 4 StR 163/14, NJW 2014, 3382, 3384, jeweils mwN).
Diese dem Tatgericht obliegende Prüfung hat die Schwurgerichtskammer nicht vorgenommen. Sie hat sich vielmehr ohne eigene Wertung den eher abstrakten Ausführungen der Sachverständigen angeschlossen, wonach unter der Wirkung der Störung „eifersuchtsgeleitetes Handeln im Extremfall zwanghaft sein“ könne. Das lässt zudem besorgen, dass das Landgericht in rechtsfehlerhafter Weise davon ausgegangen ist, bereits die Diagnose einer Störung nach ICD eröffne ohne Weiteres den Anwendungsbereich der §§ 20, 21 StGB (vgl. auch BGH, Urteil vom 25. Februar 2015 - 2 StR 495/13, NJW 2015, 2055, 2056). Ob ein Defektzustand den erforderlichen Schweregrad aufweist, ist indessen eine Rechtsfrage, die das Tatgericht wertend in eigener Verantwortung zu entscheiden hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Mai 2014 - 5 StR 168/14, NStZ-RR 2014, 244, 245; vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 494/12, NStZ-RR 2013, 309, 310).
c) Das freisprechende Urteil kann schließlich deshalb keinen Bestand haben, weil das Landgericht der allein ihm obliegenden Aufgabe nicht gerecht geworden ist zu prüfen, ob der diagnostizierte „Eifersuchtswahn“ zur vollständigen Aufhebung der Steuerungsfähigkeit bei der Tat geführt hat. Ohne eigene Erwägungen ist es der Auffassung der Sachverständigen gefolgt, dies könne „nicht mit letzter Sicherheit“ ausgeschlossen werden, weil der Angeklagte „auf offener Straße“ mit blankem Messer auf den Nebenkläger „losgegangen“ sei, obwohl dieser in Begleitung einer hilfswilligen Person gewesen sei. Allein dieser Umstand ist indessen für die Annahme eines vollständigen Kontrollverlusts bzw. eines unwiderstehlichen Zwangs (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 1997 - 4 StR 153/97, aaO, S. 3102) wenig aussagekräftig. Denn auch nicht wahnbedingt eifersüchtige oder sonst in affektiver Erregung handelnde Personen begehen - bei erhaltener Schuldfähigkeit - Taten ohne Sicherungstendenzen in Gegenwart anderer. Demgegenüber hätte sich die Schwurgerichtskammer damit auseinandersetzen müssen, dass Hinweise auf psychotische Situationsverkennungen oder auf einen wahnhaft gestörten Realitätsbezug des Angeklagten nicht festgestellt sind (vgl. auch BGH, Urteil vom 25. Februar 2015 - 2 StR 495/13, aaO). Zudem ging der Angeklagte planmäßig vor und konnte sich immerhin dahin steuern, dass er seinen in Tatabsicht aufgesuchten Standort vor der Wohnung des Nebenklägers zunächst wieder verließ.
4. Die Sache bedarf damit - naheliegend unter Heranziehung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen - neuer Verhandlung und Entscheidung. Das gilt auch für die an sich rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen. Denn der freigesprochene Angeklagte hatte keine Möglichkeit, diese mit einem Rechtsmittel anzugreifen.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 980
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi