HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 407
Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 461/21, Beschluss v. 11.01.2022, HRRS 2022 Nr. 407
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 30. April 2021 werden als unbegründet verworfen. Jedoch werden die den Angeklagten A. betreffenden Einziehungsentscheidungen aufgehoben; diese Entscheidungen entfallen. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat die Angeklagte K. wegen gewerbsmäßigen Handeltreibens mit einem neuen psychoaktiven Stoff in elf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten sowie den Angeklagten A. wegen gewerbsmäßigen Handeltreibens mit einem neuen psychoaktiven Stoff in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Gegen beide Angeklagten hat es ferner auf die Einziehung von Taterträgen bzw. ihres Wertes erkannt. Die gegen das Urteil gerichteten Revisionen der Angeklagten bleiben im Wesentlichen ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).
Schuld- und Strafausspruch sind nicht zu beanstanden. Namentlich hat das Landgericht die bis April 2020 begangenen Taten der Angeklagten zutreffend als gewerbsmäßiges Handeltreiben mit neuen psychoaktiven Stoffen gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a NpSG gewertet und die Freiheitsstrafen unter Ablehnung eines minder schweren Falls (§ 4 Abs. 4 NpSG) dem Regelstrafrahmen entnommen.
1. Die zwischen Tatbegehung und Verkündung des tatgerichtlichen Urteils erfolgte Aufnahme der von den Angeklagten gehandelten synthetischen Cannabinoide 5FMDMB-2201 und 4FADB in die Anlage II zum Betäubungsmittelgesetz hat nicht zu einer für die Angeklagten günstigeren Rechtslage geführt (§ 2 Abs. 3 StGB).
a) Infolge der Auflistung der vorbezeichneten Stoffe in der Anlage II zum Betäubungsmittelgesetz (vgl. § 1 Abs. 1 BtMG) mit Wirkung vom 17. Juli 2020 (5F-MDMB-2201; vgl. Verordnung vom 10. Juli 2020, BGBl. I S. 1691) bzw. vom 21. Januar 2021 (4F-ADB; vgl. Verordnung vom 14. Januar 2021, BGBl. I S. 70) richtet sich eine mögliche Strafbarkeit nicht mehr nach § 4 NpSG (§ 1 Abs. 2 NpSG), sondern nach den Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes (vgl. BT-Drucks. 18/8579, S. 18), wobei § 4 NpSG und §§ 29 ff. BtMG gleichermaßen das Handeltreiben mit bestimmten Konsum- und Rauschmitteln unter Strafe stellen. Die erforderliche Unrechtskontinuität ist mithin gegeben (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 1991 - 5 StR 523/90, BGHSt 37, 320, 322; Beschluss vom 10. Juli 1975 - GSSt 1/75, BGHSt 26, 167, 172).
b) Die gebotene konkrete Gesamtbetrachtung (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 - 5 StR 46/18, NStZ-RR 2018, 320, 321 mwN) führt zur Anwendung von § 4 Abs. 3 NpSG im Schuld- und Strafausspruch (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2014 - 3 StR 167/14 Rn. 30). Da die Angeklagten nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen jeder für sich (§ 28 Abs. 2 StGB) in allen Fällen das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit erfüllten und die gehandelten Stoffe jeweils den Grenzwert zur nicht geringen Menge im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG überschritten, ist diejenige Strafvorschrift maßgeblich, die eine gegenüber § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG niedrigere Höchststrafe vorsieht (§ 38 Abs. 2 StGB; vgl. SK-StGB/Jäger, 9. Aufl., § 2 Rn. 39), während eine Bestrafung nach dem von § 29 Abs. 1 BtMG vorgesehenen Strafrahmen ausschied.
2. Für die Festsetzung der schuldangemessenen Strafe hat das Landgericht sachverständig beraten nähere Feststellungen zur Gefährlichkeit und zum Wirkstoffgehalt der gehandelten Substanzen getroffen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2001 - 4 StR 110/01, NStZ-RR 2002, 52, 53) und sich zur Ermittlung einer von ihm bei der Strafrahmenwahl berücksichtigten „erheblichen Menge“ an den Grenzwerten der nicht geringen Menge im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG orientiert, in der sich Gefährlichkeit und Toxizität des Stoffes widerspiegeln (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2008 - 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89 Rn. 13 mwN). Dies ist nicht zu beanstanden.
a) Allerdings ist der Gesetzgeber dem Vorschlag des Bundesrates, bei den Strafvorschriften des § 4 NpSG die Konzeption der §§ 29 ff. BtMG zu übernehmen (vgl. BT-Drucks. 18/8964, S. 1), nicht gefolgt, weil die neuen psychoaktiven Stoffe sich hinsichtlich der Evidenz ihrer Wirkung und des Gefahrenpotenzials für die Gesundheit von den in den Anlagen des Betäubungsmittelgesetzes umfassten Stoffen unterschieden (vgl. die Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drucks. 18/8964, S. 4). Nicht anders als das Betäubungsmittelgesetz dient indessen auch das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und des Einzelnen, insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, vor den häufig unkalkulierbaren und schwerwiegenden Gefahren, die mit dem Konsum der zur Umgehung des Drogenverbots entwickelten Stoffe verbunden sind (BT-Drucks. 18/8579, S. 15). Trotz fehlender „Vertatbestandlichung“ der nicht geringen Menge in § 4 NpSG kommt dem Maß einer etwaigen Grenzwertüberschreitung des jeweiligen psychoaktiven Stoffs für die Strafzumessung - wie im Betäubungsmittelgesetz (vgl. Maier in Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl., § 29a Rn. 54 mit zahlreichen Nachweisen) - auch im Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz überragende Bedeutung zu. Die Tatgerichte werden demgemäß jeweils diesbezügliche Feststellungen zu treffen haben.
b) Nach Maßgabe der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urteile vom 17. November 2011 ? 3 StR 315/10, BGHSt 57, 60 Rn. 10, und vom 14. Januar 2015 - 1 StR 302/13, BGHSt 60, 134, 136 f. Rn. 35; jeweils mwN) hat das Landgericht den Grenzwert der nicht geringen Menge durch einen Vergleich mit verwandten Wirkstoffen festgelegt, weil nach seinen Feststellungen ausreichende Erkenntnisse zu einer äußerst gefährlichen, gar tödlichen Dosis des Wirkstoffs oder zum Konsumverhalten nicht zu gewinnen waren.
aa) Für das synthetische Cannabinoid 5F-MDMB-2201 (auch 5F-MDMB-PICA) hat das Landgericht ohne Rechtsfehler den Grenzwert bei jedenfalls zwei Gramm festgestellt. Das Cannabinoid entspreche, wie Tier- und Selbstversuche sowie Befragungsstudien mit Konsumenten gezeigt hätten, in seiner Wirkungsweise und den bei Vergiftungen auftretenden Symptomen dem zur Tatzeit bereits in Anlage II zum Betäubungsmittelgesetz aufgeführten synthetischen Cannabinoid JWH-018, bei dem der Grenzwert der nicht geringen Menge zwei Gramm beträgt (vgl. BGH, Urteil vom 14. Januar 2015 - 1 StR 302/13, aaO Rn. 34), wobei für eine berauschende Wirkung sogar eine geringere Dosis 5F-MDMB-2201 genüge. Auch mit dem hochpotenten Stoff 5F-ADB (auch 5F-ADMB-PINACA), der seit 2016 dem Betäubungsmittelgesetz unterfällt, und für den der Grenzwert mit einem Gramm festgestellt ist (vgl. LG Kleve, Urteil vom 2. November 2020 - 120 KLs 36/20, juris Rn. 41; Patzak in ders./Volkmer/Fabricius, BtMG, 10. Aufl., § 29a Rn. 71a) bestehe eine Vergleichbarkeit.
bb) Die nicht geringe Menge für das synthetische Cannabinoid 4F-ADB und das - (noch) nicht in Anlage II zum Betäubungsmittelgesetz aufgelistete - synthetische Cannabinoid 5-CL-ADB-A hat das Landgericht rechtsfehlerfrei ebenfalls mit zwei Gramm bestimmt. Beide Stoffe entsprechen nach den durch Sachverständigengutachten belegten Feststellungen in ihrer Wirkweise und Potenz den unter das BtMG fallenden Stoffen JWH-018 und 5F-ADB. Insofern irrelevante Unterschiede ergäben sich lediglich in der Abbaureaktion.
Jedoch hält die gegen den Angeklagten A. angeordnete Einziehung von Taterträgen (§ 73 Abs. 1 StGB) und des Wertes von Taterträgen (§ 73c StGB) rechtlicher Überprüfung nicht stand (§ 349 Abs. 4 StPO).
Nach den Feststellungen des Landgerichts erzielten die Angeklagten aus dem gemeinschaftlichen Verkauf der am 6. Februar 2020 bestellten neuen psychoaktiven Stoffe (Tat I.2.a.10 der Urteilsgründe) unter Abzug eines Sicherheitsabschlags insgesamt 2.813,20 Euro. Hiervon konnten am 3. April 2020 in der Handtasche der Mitangeklagten 1.500 Euro Bargeld sichergestellt werden.
Der Angeklagte A. hat die tatsächliche Verfügungsgewalt über das Kaufgeld indessen nicht erlangt. Denn ein Vermögenswert ist nach § 73 Abs. 1 StGB durch die Tat erlangt, wenn er dem Beteiligten in irgendeiner Phase des Tatablaufs unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestands so zugeflossen ist, dass er hierüber tatsächliche Verfügungsgewalt ausüben kann. Bei mehreren Beteiligten genügt insofern, dass sie jeweils zumindest eine faktische bzw. wirtschaftliche Mitverfügungsmacht über den Vermögensgegenstand erlangt haben. Dies ist der Fall, wenn sie im Sinne eines rein tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses ungehinderten Zugriff auf den Vermögensgegenstand nehmen können (vgl. BGH, Beschluss vom 22. September 2020 - 6 StR 234/20 Rn. 3, mwN). Allein die Mittäterschaft belegt für sich betrachtet keine tatsächliche Verfügungsgewalt im Sinne von § 73 StGB (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. April 2021 - 6 StR 61/21 Rn. 2 und vom 11. Juni 2020 - 5 StR 154/20, jeweils mwN). Eine ungehinderte Zugriffsmöglichkeit auf das bei der Mitangeklagten sichergestellte Bargeld oder die weiteren Verkaufserlöse hatte der Angeklagte A. nach den Feststellungen nicht. Vielmehr erhielt stets die Mitangeklagte das Geld von den Käufern in bar oder per Überweisung auf das in ihrem Namen geführte Konto.
Der Senat schließt aus, dass noch Feststellungen getroffen werden können, die eine Einziehung von Taterträgen oder ihres Wertes auch beim Angeklagten A. rechtfertigen, und korrigiert die Einziehungsentscheidung daher entsprechend § 354 Abs. 1 StPO.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 407
Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi