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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 63

Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 270/21, Urteil v. 01.12.2021, HRRS 2022 Nr. 63


BGH 6 StR 270/21 - Urteil vom 1. Dezember 2021 (LG Neubrandenburg)

Totschlag, Mord (lückenhafte und widersprüchliche Beweiswürdigung: Erkennbarkeit der Vitalzeichen des Tatopfers; Verdeckungsmord: deutliche zeitliche Zäsur zwischen einer ersten und einer weiteren, nunmehr in Verdeckungsabsicht vorgenommenen Tötungshandlung).

§ 211 StGB; § 212 StGB; § 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Neubrandenburg vom 26. Oktober 2020, soweit es den Angeklagten T. betrifft, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte wegen Totschlags (Tat 1 der Urteilsgründe) verurteilt worden ist,

b) im Gesamtstrafenausspruch,

c) im Maßregelausspruch einschließlich der Anordnung des Vorwegvollzugs eines Teils der Gesamtfreiheitsstrafe.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags „in einem minder schweren Fall“ (Tat 1: Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten) und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (Tat 2: Freiheitsstrafe von einem Jahr) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt sowie seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt unter Vorwegvollzug eines Teils der Gesamtfreiheitsstrafe vor der Maßregel angeordnet. Die zuungunsten des Angeklagten eingelegte, wirksam auf die Verurteilung wegen Tat 1 beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Das Landgericht hat insoweit festgestellt:

Am Nachmittag des Tattages wurde im Innenhof des Wohnhauses des Angeklagten gegrillt. Anwesend waren unter anderem der Angeklagte, sein wegen versuchten Mordes mitangeklagter Sohn F., sein Freund P. sowie mehrere Kinder. Die Erwachsenen tranken in erheblichem Maße alkoholische Getränke. Die Kinder spielten an einem im Hof aufgestellten Planschbecken. Es war laut.

Der im oberen Stockwerk wohnende Nachbar R. fühlte sich gestört. Er litt infolge einer schweren Alkoholkrankheit unter dem Korsakowsyndrom und neigte „zu nörgeligem, unfreundlichem Verhalten“. Aus dem Fenster heraus beschwerte er sich über den durch die Kinder verursachten Lärm und bezeichnete sie als „Scheiß-Gören“. P. rief nach oben „Halt die Fresse, sonst zieh ich dir einen Scheitel“. Einige Zeit später beschwerte sich R. erneut und wurde abermals von P. beschimpft.

Der Angeklagte, der P. zuvor jeweils beschwichtigt hatte, schickte F. mit gegrilltem Fleisch nach oben. R. wollte nichts essen, kam aber mit F. in den Innenhof. Der Angeklagte sagte ihm, dass er mitfeiern könne, wenn er sich ruhig verhalte.

Nach 17 Uhr begleitete P. einen volltrunkenen Nachbarn in dessen Wohnung und verblieb dort einige Zeit. Die Kinder begaben sich mit F. in die Wohnung des Angeklagten. Der Angeklagte und R. blieben am Tisch zurück. Wiederum äußerte sich R. abfällig über die Kinder. Unter anderem bezeichnete er sie als „Pack“, das umgebracht werden müsse. Der Angeklagte fühlte sich hierdurch aufs Äußerste provoziert, wobei die Wut, die er wegen der vorherigen Rufe R. s nur unterdrückt, aber nicht verarbeitet hatte, seinen Zornesausbruch noch verstärkte. Er schlug R. mehrfach mit der Faust ins Gesicht bzw. auf den Kopf. R. kippte mit dem Stuhl nach hinten um und blieb liegen.

F., der einen Teil des Geschehens vom Fenster aus verfolgt hatte, ging hinunter. Als er den Hinterhof betrat, waren die Gewalthandlungen noch in vollem Gang. Der Angeklagte versetzte R. Faustschläge gegen den Kopf, ohne dass dieser eine Abwehrreaktion zeigte. Dann trat er ihm mehrfach sehr kräftig gegen Hals, Kopf und Oberkörper. Er stützte sich dabei mit der Hand an der Wand ab und sprach Sätze wie „Du tust meinen Kindern nichts an; Kinder sind das Wertvollste, was man hat in der Welt“. Bei den mehr als zwölf Schlägen und Tritten rechnete er damit, dass er R. töten werde, und nahm dies billigend in Kauf. Nach deren Abschluss ging er ein Stück in Richtung der anderen Seite des Hofs und sagte sinngemäß „Was habe ich gemacht, das wollte ich nicht“.

Nicht ausschließbar meinte F., dass R. bereits verstorben sei. Er verfiel auf den Gedanken, einen Ertrinkungstod vorzutäuschen, um den Angeklagten vor Strafverfolgung zu schützen. Zu diesem Zweck füllte er eine 0,7 I-Flasche mit Wasser, setzte sich rittlings auf den Oberkörper des am Boden liegenden Opfers und führte die Flasche kraftvoll tief in dessen Mund ein. Zusätzlich steckte er ihm eine mit Wasser gefüllte 1,25 I-PET-Flasche in den Mund.

„Zum Zeitpunkt des Einführens der Flaschen war der Angeklagte wieder auf die Seite des Hofes zurückgekehrt, auf der sich die Sitzecke befand“. P. kam auf den Hof, als beide Flaschen bereits eingeführt waren. Spätestens bei deren Einführen zeigte R. Lebenszeichen. Er zuckte an den Extremitäten, die Drosselvene schwoll an, der Kehlkopfbereich bewegte sich, er gab krächzende Geräusche von sich. Jedenfalls jetzt erkannte F., dass R. noch lebte. Er fuhr aber in seinem Tun fort, um einen Ertrinkungstod vorzutäuschen. Zeitweise hielt er R. die Nase zu.

P. fragte den Angeklagten, was das solle, worauf dieser antwortete: „Ich habe Dir doch gesagt, dass ich ihn umbringe“. F. reichte eine Flasche an den Angeklagten, der sie mit Wasser befüllte und an F. zurückgab, der sie abermals in den Mund R. s einführte. R. hob noch einmal kurz seine Unterarme an und hörte dann auf zu zucken.

Das Kind M. stand während des Geschehens am Fenster der Wohnung des Angeklagten und drückte eine Lamelle der innen angebrachten Jalousie auseinander. Durch den Spalt beobachtete es das Einführen der Flaschen zumindest teilweise. Das bemerkte der Angeklagte und brachte zum Ausdruck, dass er dann M. wohl auch noch umbringen müsse.

Die durch die Gewaltakte des Angeklagten verursachten Kehlkopfverletzungen waren schon für sich genommen tödlich. Auch ein schweres Schädel-Hirntrauma war lebensgefährlich und für das Sterbegeschehen möglicherweise relevant. Beim Zuführen des Wassers hatte das Opfer noch gelebt und einen Teil des Wassers eingeatmet. Es konnte jedoch nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, dass der Sterbevorgang hierdurch beschleunigt wurde.

2. Die Jugendkammer hat eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen vollendeten Totschlags bejaht. In ihrer rechtlichen Würdigung hat sie ausgeführt, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte bei den „Handreichungen“ gegenüber F. „seinen Vorsatz in Richtung auf die Herbeiführung eines Ertrinkungstodes geändert habe“. Denn es sei „nicht festgestellt“, dass der alkoholbedingt erheblich in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkte Angeklagte, der beim Einflößen des Wassers nicht unmittelbar bei R. gestanden habe, die Vitalzeichen des Opfers erkannt habe.

3. Die vom Landgericht vorgenommene - im maßgebenden Punkt überaus knappe - Beweiswürdigung hält auch eingedenk des insoweit beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs rechtlicher Überprüfung nicht stand. Sie ist entsprechend den Ausführungen des Generalbundesanwalts lückenhaft und weist Widersprüche auf.

a) Der Senat kann anhand der Urteilsgründe nicht nachvollziehen, warum die Jugendkammer zugrunde gelegt hat, dass der Angeklagte die Lebenszeichen des Opfers nicht wahrgenommen hat. Der Angeklagte war „im Zeitpunkt des Einführens der Flaschen“ wieder zur Sitzecke zurückgekehrt, befand sich also jedenfalls nicht weit entfernt von dem auf dem Opfer sitzenden F. P. kam später hinzu und erkannte aufgrund der von ihm als „eindrucksvoll“ beschriebenen Reaktionen des Opfers (Anschwellen der Drosselvene, Bewegungen des Kehlkopfbereichs, Zucken an den Extremitäten, krächzende Geräusche) sogleich, dass R. noch lebte. Ferner sah er, dass F. dem Opfer die Nase zuhielt. Dies veranlasste ihn zu der Frage an den Angeklagten, „was das solle“, worauf der „äußerlich nicht mehr erregt wirkende“ Angeklagte äußerte, er habe ihm doch gesagt, dass er ihn umbringe. Daraufhin reichte F. dem spätestens jetzt nahe bei ihm befindlichen Angeklagten eine Flasche, der sie befüllte und sie an F. zurückgab. Noch danach hob das Opfer seine Arme an.

Angesichts dieses Ablaufs hätte die abweichende Wertung des Landgerichts eingehender Begründung bedurft. Der bloße Hinweis auf die eingeschränkte Steuerungsfähigkeit des Angeklagten genügt den Anforderungen nicht. Das gilt schon deswegen, weil auch der Schuldfähigkeitsprüfung keine Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der Kognitionsfähigkeit des Angeklagten zu entnehmen sind. Hinzu kommt, dass der Angeklagte in der Lage war zu erkennen, dass das Kind M. das Geschehen durch einen Spalt in der Jalousie beobachtet hatte, und darauf mit der Aussage reagierte, dann müsse er dieses wohl auch noch umbringen.

b) Unzureichend befasst sich das Landgericht darüber hinaus mit den Bekundungen des Zeugen P. bei seinen Vernehmungen durch die Polizei am Tag nach der Tat und durch den Ermittlungsrichter einen knappen Monat später. Dort hatte der Zeuge jeweils ausgesagt, der Angeklagte habe F. aufgefordert, dem Opfer die Nase zuzuhalten, was nur bei einem aus seiner Sicht noch lebenden Opfer einen Sinn ergibt. Zwar hatte der Zeuge sich an diesen Umstand in der Hauptverhandlung nicht mehr erinnert, jedoch zum Ausdruck gebracht, dass er dies nicht ausschließen wolle. Es fehlen beweiswürdigende Erwägungen zu der Frage, ob auch angesichts einer vom Landgericht insgesamt als glaubhaft angesehenen Aussage des Zeugen P. die noch in frischer Erinnerung erfolgten Bekundungen den Feststellungen zugrunde zu legen sein könnten.

4. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht den Angeklagten bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung wegen Mordes bzw. (auch) wegen versuchten Mordes verurteilt hätte. Er hebt die Feststellungen betreffend Tat 1 insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

Die Aufhebung der Verurteilung entzieht der für die Tat 1 verhängten Freiheitsstrafe sowie der Gesamtfreiheitsstrafe die Grundlage. Auch der Maßregelausspruch einschließlich des Ausspruchs über den Vorwegvollzug kann nicht bestehen bleiben. Denn das Landgericht hat bei der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt auf die Tötungshandlung als maßgebende Anlasstat abgestellt.

5. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Sollte sich ergeben, dass der Angeklagte die Vitalzeichen des Opfers wahrgenommen hat, so wird zu beachten sein:

In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein Verdeckungsmord gegeben sein kann, wenn zwischen einer ersten und einer weiteren, nunmehr in Verdeckungsabsicht vorgenommenen Tötungshandlung eine deutliche zeitliche Zäsur liegt (vgl. BGH, Urteile vom 15. Oktober 1991 - 1 StR 442/91, NStZ 1992, 127; vom 9. April 1997 - 3 StR 612/96, NStZ 1997, 434, 435; Beschluss vom 2. März 1999 - 5 StR 48/99, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Verdeckung 11; MüKo-StGB/Schneider, 4. Aufl., § 211 Rn. 236 mwN). Eine solche könnte hier in dem Weggehen des Angeklagten nach Abschluss der gegen das Opfer gerichteten massiven Gewalthandlungen erblickt werden. Mit dem später im Zusammenwirken mit F. ausgeführten Einflößen des Wassers zur Vortäuschung eines Ertrinkungstodes hätte der Angeklagte an dem von seinem Sohn F. begangenen versuchten Verdeckungsmord mitgewirkt, wobei die Annahme von Tatmehrheit naheläge (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 1999 - 5 StR 48/99, aaO).

Wäre nach den neu zu treffenden Feststellungen hingegen von einem einheitlichen Tatgeschehen auszugehen, so hätte der Angeklagte nicht zur Verdeckung einer anderen Tat gehandelt, sondern die von vornherein mit Tötungsvorsatz verübte Tat nunmehr mit Verdeckungsabsicht vollenden wollen (vgl. BGH, Urteile vom 15. Oktober 1991 - 1 StR 442/91, aaO; vom 10. Oktober 2002 - 4 StR 185/02, NStZ 2003, 259). Für diesen Fall wäre indessen das Mordmerkmal der sonstigen niedrigen Beweggründe zu prüfen (vgl. BGH, Urteil vom 15. Oktober 1991 - 1 StR 442/91, aaO; MüKo-StGB/Schneider, aaO, § 211 Rn. 86 mwN).

b) Auch die im angefochtenen Urteil erfolgte Schuldfähigkeitsprüfung hätte rechtlicher Überprüfung nicht standgehalten. Das Landgericht hat nämlich insoweit nicht hinreichend zwischen der hier relevanten Tat 1 und der Stunden danach verübten Tat 2 unterschieden. Dies wäre jedoch notwendig gewesen. Denn die durch den psychiatrischen Sachverständigen angesprochenen ausgeprägten affektiven Veränderungen (Wechsel zwischen Weinerlichkeit und aggressiver Reizbarkeit, Impulsivität und Streit- und Kampfbereitschaft), die dieser und ihm folgend die Jugendkammer tragend für die Annahme des § 21 StGB herangezogen haben, waren vornehmlich bei Tat 2 aufgetreten. Demgegenüber sind den bisherigen Feststellungen betreffend Tat 1, nach der der Angeklagte überdies „weiteren Alkohol in nicht feststellbarer Menge“ konsumiert hat (UA S. 17), Ausfallerscheinungen der beschriebenen Art nicht in gleicher Weise zu entnehmen.

c) Sollte die neu verhandelnde Schwurgerichtskammer abermals zur Annahme verminderter Schuldfähigkeit gelangen, so wird sie die bei der Strafrahmenwahl nach ständiger Rechtsprechung erforderliche Prüfungsreihenfolge einzuhalten haben (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2019 - 2 StR 17/19, NStZ 2019, 409; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 1153 ff., jeweils mwN), wobei die für und gegen den Angeklagten sprechenden Strafzumessungstatsachen im Rahmen einer sorgfältigen Gesamtschau auch bei der Strafhöhenbemessung gegeneinander abzuwägen sind. Dabei wird die - ihm bekannte - Neigung des nicht unerheblich vorbestraften Angeklagten, unter der Wirkung von Alkohol Gewalttaten zu begehen, mit dem ihr zukommenden Gewicht einzustellen sein (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2017 - GSSt 3/17, BGHSt 62, 247). Nicht zu Unrecht weist die Beschwerdeführerin ferner darauf hin, dass die dem Angeklagten von der Jugendkammer zugute gehaltene „besondere Sensibilisierung“ für das Wohl von Kindern in deutliche Spannung zu dessen Aussage tritt, dass er nun auch noch das Kind M. umbringen müsse.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 63

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2022, 44

Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi