Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 715/98, Beschluss v. 21.04.1999, HRRS-Datenbank, Rn. X
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das. Urteil des Landgerichts Potsdam vom 19. Mai 1998 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revisionen, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagten B und S der schweren räuberischen Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung so wie der versuchten Nötigung zum Nachteil des Nebenklägers, des Zeugen L, den Angeklagten K der Beihilfe zur schweren räuberischen Erpressung und der versuchten Nötigung in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Waffe für schuldig befunden, B und K ferner einer weiteren versuchten Nötigung zum Nachteil des Zeugen St. Das Landgericht hat Gesamtfreiheitsstrafen von sieben Jahren gegen B und von jeweils fünf Jahren und sechs Monaten gegen S und K verhängt. Die Revisionen der Angeklagten haben Erfolg.
1. Zur umfassenden Urteilsaufhebung führt eine von allen drei Beschwerdeführern erhobene Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO. Die Angeklagten beanstanden zurecht ihre Entfernung aus der Hauptverhandlung während der Vernehmung des Hauptbelastungszeugen L.
a) Der Zeuge hatte erklärt, er fühle sich "nicht wohl und habe wegen noch zu schildernder Vorfälle auch nach der Tat große Angst". Deshalb sei er "nicht bereit, in Gegenwart der Angeklagten auszusagen". Daraufhin erging auf Antrag des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft gegen den Widerspruch der Verteidiger der Beschluß nach § 247 Satz 1 StPO über die Entfernung der Angeklagten von der Hauptverhandlung für die Dauer der Vernehmung des Zeugen L. Der Beschluß wurde damit begründet, es sei zu besorgen, daß der Zeuge in Gegenwart der Angeklagten nicht die Wahrheit sagen werde.
Die Begründung allein mit der Wiedergabe des Gesetzeswortlauts war hier nicht ausreichend. Eine nähere Begründung wäre nur entbehrlich gewesen, wenn - anders als im vorliegenden Fall - evident gewesen wäre, daß die Voraussetzungen des § 247 StPO vorgelegen haben (vgl. BGHSt 15, 194, 196; BGHR StPO § 247 Satz 2 - Begründungserfordernis 1 und 2). Der bloße Wunsch eines Zeugen, in Abwesenheit des Angeklagten aussagen zu dürfen, kann die Anordnung nach § 247 Satz 1 StPO nicht rechtfertigen (BGHSt 22, 18, 21). Eine substantiierte Begründung, wie sie bei Anwendung des § 247 StPO stets angezeigt ist, kann in Fällen der vorliegenden Art dann als entbehrlich angesehen werden, wenn sich unmittelbar aus dem Anklagegegenstand sowie aus der Person von Zeugen und Angeklagtem und ihrer Beziehung zueinander ohne weiteres eine massive Furcht des Zeugen vor dem auszuschließenden Angeklagten aufdrängt, die geeignet erscheint, den Zeugen von wahren, insbesondere vollständigen Angaben in Gegenwart des Angeklagten abzuhalten, wie es beispielsweise bei psychisch schwer geschädigten Opfern von Sexualverbrechen auf der Hand liegt (vgl. dazu ferner BGHR StPO § 247 Satz 1 - Begründungserfordernis 2). Hier war dies indes mit der gebotenen Eindeutigkeit nicht der Fall, und zwar ungeachtet dessen, daß der Zeuge L nach den Anklagevorwürfen von den Angeklagten nachhaltig drangsaliert worden ist.
Daß die Jugendkammer Erkenntnisse über spätere, im Urteil festgestellte Einwirkungen auf den Zeugen nach Inhaftierung der Angeklagten (UA S. 20 ff.) bei der Beschlußfassung nach § 247 Satz 1 StPO verwertet hat, versteht sich nicht von selbst; nähere Erörterungen hierüber sind auch im Zusammenhang mit der Verhandlung über die Anordnung nach § 247 StPO nicht protokolliert (vgl. dazu BGHR StPO § 247 Satz 2 - Begründungserfordernis 2). Dann hätten derartige bedeutsame Umstände aber unbedingt in der Beschlußbegründung dargelegt werden müssen.
Im übrigen lag ein objektiver Anlaß für eine begründete Furcht des Zeugen L vor einer Aussage in Gegenwart der Angeklagten nicht besonders nahe. Schon infolge deren Inhaftierung drohten dem Zeugen aktuell keine Übergriffe von Seiten der Angeklagten selbst. Deren vollständige Information über den Inhalt seiner Aussage konnte der Zeuge ohnehin nicht verhindern (vgl. § 247 Satz 4 StPO). Eine gleichwohl nachvollziehbar von dem Zeugen empfundene Bedrohung durch kriminelle Helfershelfer der Angeklagten als unmittelbare Folge einer wahrheitsgemäßen und vollständigen Aussage in Gegenwart der Angeklagten versteht sich nicht ohne weiteres von selbst, zumal vor dem Hintergrund, daß die Jugendkammer offenbar auch nicht etwa einen Ausschluß der Öffentlichkeit nach § 172 Nr. 1a GVG erwogen hat.
Bei dieser Sachlage war hier eine sorgfältige Begründung der Anordnung nach § 247 Satz 1 StPO unerläßlich, in der das gewichtige Interesse der Angeklagten, während der Vernehmung des wichtigsten Belastungszeugen an der Hauptverhandlung teilzunehmen, mit berechtigten Interessen des Zeugen aufgrund begründeter Furcht vor den Angeklagten abzuwägen gewesen wäre. Es liegt nicht fern, daß der Tatrichter bei zutreffender Bewertung des Gewichts der gegenläufigen Interessen auch Maßnahmen - wie Anordnungen zum Verhalten der Angeklagten während der Vernehmung des Zeugen und zur Sitzordnung - hätte treffen können, durch welche die Anordnung der die Angeklagten erheblich belastenden Anwendung des § 247 StPO zu vermeiden gewesen wäre (vgl. Basdorf in: Festschrift für Hannskarl Salger, 1995, S. 203, 214).
b) Die Rügen ziehen schon deshalb die umfassende Aufhebung der Verurteilungen auch der Angeklagten B und K nach sich, weil bei der Beweiswürdigung zur versuchten Nötigung zum Nachteil des Zeugen St die Taten zum Nachteil des Zeugen L mitverwertet worden sind (UA S. 36).
2. Ob - gegebenenfalls inwieweit - das angefochtene Urteil sachlichrechtlicher Prüfung standgehalten hätte, bedarf danach keiner abschließenden Entscheidung. Der Senat sieht allerdings Anlaß, für die neue Hauptverhandlung auf einige Mängel und Zweifel hinzuweisen.
a) Die Beweiswürdigung im Zusammenhang mit den Angaben des Zeugen L unterliegt mehrfach erheblichen Bedenken.
aa) Die Erwägungen zu mangelnder Belastungstendenz des Zeugen im Blick auf seine späte Anzeige (UA S. 28) lassen einen Kreisschluß besorgen; denn insoweit sind nicht etwa zulässigerweise Schlüsse aus der Struktur der Aussage des Zeugen gezogen worden (vgl. BGHR StPO § 261 - Aussageverhalten 17), vielmehr ist vorangegangenes Tatverhalten, das seinerseits auch erst durch die Aussage des Zeugen zu beweisen war, bereits vorausgesetzt worden. Ein solcher Denkfehler müßte die umfassende Aufhebung des Urteils nach sich ziehen, wenn die entsprechende Erwägung als ein tragendes Indiz für die Annahme der Zuverlässigkeit der Angaben des Zeugen zu bewerten wäre.
bb) Soweit die Jugendkammer festgestellt hat, die Angeklagten hätten durch ihr Vorgehen gegen L keine Forderung des Zeugen G eintreiben wollen, erscheint dies - zumal vor dem Hintergrund der Erkenntnisse über anderweitige entsprechende Aktivitäten des Angeklagten B - bedenklich. Die Annahme, der Angeklagte K habe dies bei seinem als Beihilfe bewerteten Tatbeitrag zum Nachteil L's anders gesehen als beim Vorgehen mit B zum Nachteil St s, erscheint kaum folgerichtig. Im übrigen sind auch die Erwägungen der Jugendkammer im Zusammenhang mit der Höhe der G gegen L tatsächlich zustehenden Forderung im Blick auf die Feststellungen zu deren Entstehungsgrund zweifelhaft. Bei alledem hätte eine Bewertung des Vorgehens der Angeklagten gegen L als (bloße) brutale Eintreibung von Geld und "Pfandgegenständen" für G Forderung nicht ferngelegen. Entsprechende Tat(en) wären konsequent dem Grenzbereich zwischen (naheliegend besonders schwerer) Nötigung und (ebenso naheliegend minder schwerer) räuberischer Erpressung zuzurechnen gewesen (vgl. dazu BGHR StGB § 253 Abs. 1 - Bereicherungsabsicht 7 m.w.N.).
b) Die angenommene schwere räuberische Erpressung wäre aus dem im Vergleich zu § 250 Abs. 1 StGB a.F. milderen Strafrahmen des § 250 Abs. 1 (Nr. 1 lit. b) StGB n.F. zu bestrafen gewesen (§ 2 Abs. 3 StGB), da die Jugendkammer eine Verwendung geladener Schußwaffen (§ 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB n.F.) nicht festgestellt hat.
c) Bei der Beweiswürdigung der Tat zum Nachteil des Zeugen St fehlt es an einer ausreichenden Begründung, weshalb trotz der festgestellten massiven Divergenz zwischen den Angaben beider Wiedererkennungszeugen zur Größe des beschriebenen Mittäters und der tatsächlichen Größe des Angeklagten K (UA S. 25 f.) insoweit von einer zweifelsfreien Identifizierung (UA S. 36) auszugehen war. Vor diesem Hintergrund wird der neue Tatrichter der - zumindest in wesentlichen Randbereichen bestätigten (UA S. 23, 36) - Alibibehauptung dieses Angeklagten auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens hierzu besonders sorgfältig nachzugehen haben.
Externe Fundstellen: NStZ 1999, 419; StV 2000, 120
Bearbeiter: Karsten Gaede