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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 652/96, Urteil v. 21.08.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 652/96 - Urteil vom 21. August 1997 (LG Berlin)

BGHSt 43, 183; Rechtsbeugung von Staatsanwälten der DDR durch Nichtverfolgung von Wahlfälschungen in der DDR.

§ 336 StGB; § 244 StGB-DDR; § 87 StPO-DDR; § 92 Nr. 6 StPO-DDR; § 95 Abs. 1 StPO-DDR; § 98 Abs. 1 StPO-DDR; § 101 Abs. 1 StPO-DDR

Leitsätze

1. Rechtsbeugung durch Nichtverfolgung von Wahlfälschung in der DDR. (BGHSt)

2. Eine Bestrafung von Richtern und Staatsanwälten der DDR wegen Rechtsbeugung ist, abgesehen von Einzelexzessen, auf Fälle zu beschränken, in denen die Rechtswidrigkeit der Entscheidung so offensichtlich war und in denen insbesondere die Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenrechte, derart schwerwiegend verletzt worden sind, dass sich die Entscheidung als Willkürakt darstellt. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 19. April 1996 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten B. vom Vorwurf der Rechtsbeugung und die Angeklagten Dr. S., H. und M. vom Vorwurf der Beihilfe zur Rechtsbeugung freigesprochen. Hiergegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft jeweils mit einer Verfahrensrüge und der Sachrüge. Die vom Generalbundesanwalt vertretenen Revisionen haben mit der Sachrüge Erfolg.

I.

1. Die zugelassene Anklage legt den Angeklagten folgendes zur Last:

Dem Angeklagten B. wird vorgeworfen, nach den DDR-Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 in seiner damaligen Funktion als erster Stellvertreter des Generalstaatsanwalts der DDR durch mündliche Erklärungen, eine fernschriftliche Anweisung und weitere Entscheidungen eine strafrechtliche Prüfung des Verdachts der Wahlfälschung unterbunden zu haben, wobei ihm in Kenntnis zahlreicher Strafanzeigen bewußt gewesen sei, daß eine am Gesetz orientierte Prüfung es nicht zugelassen hätte, von der Einleitung von Ermittlungsverfahren wegen Wahlfälschung abzusehen. Dies habe er insbesondere durch ein Fernschreiben vom 19. Mai 1989 an alle Staatsanwälte der Bezirke der DDR und den Generalstaatsanwalt von Berlin getan. Den Angeklagten Dr. S., H. und M. wird vorgeworfen, in dem genannten Sachzusammenhang im Rahmen ihrer damaligen Funktionen in der Staatsanwaltschaft der DDR - Dr. S. als Generalstaatsanwalt von Berlin, H. als Leiter der Abteilung I A des Generalstaatsanwalts von Berlin und M. als Leiterin der Abteilung I A des Bezirksstaatsanwalts Cottbus - dem Angeklagten B. zu dessen Tat Hilfe geleistet zu haben, indem sie sich daran beteiligt hätten, die Maßnahme des Angeklagten B. innerhalb der Staatsanwaltschaft der DDR nach außen hin umzusetzen; hierbei hätten sie in Kenntnis zahlreicher Strafanzeigen und in dem Bewußtsein gehandelt, daß eine am Gesetz orientierte Prüfung es nicht zugelassen hätte, von der Einleitung von Ermittlungsverfahren wegen Wahlfälschung abzusehen. Dementsprechend sei bei allen Anzeigen wegen des Verdachts der Wahlfälschung ohne sachliche Prüfung von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abgesehen worden, wobei es auch in den Fällen von Beschwerden geblieben sei.

2. Das Landgericht hat im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen: Am 7. Mai 1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt. Wegen der Besorgnis etwaiger Manipulationen des Wahlergebnisses wohnten zahlreiche kritische Bürger der DDR, meist in kirchlichen Gruppierungen organisiert, den öffentlichen Stimmenauszählungen in den Wahllokalen bei. Sie notierten insbesondere die jeweils mündlich bekanntgegebenen Zahlen der Stimmen gegen den Wahlvorschlag. Anschließend trugen diese Bürger ihre Ergebnisse zusammen und verglichen die so ermittelten Zahlen mit den veröffentlichten amtlichen Endergebnissen der Wahlen. Sie stellten erhebliche Abweichungen fest, nämlich erheblich mehr selbst gezählte Gegenstimmen und ungültige Stimmen als im amtlich bekanntgegebenen Wahlergebnis. Daraufhin erstatteten zahlreiche Personen jeweils Strafanzeige wegen des Verdachts der Wahlfälschung - meist (von zwei Fällen abgesehen) gegen Unbekannt. Diese Anzeigen betrafen u. a. die Bezirke Berlin-Weißensee, Berlin-Friedrichshain und Cottbus. Meist wurden in diesen Anzeigen die von den Anzeigenerstattern ermittelten Zahlen der Nein-Stimmen und der ungültigen Stimmen mitgeteilt und hierfür Zeugen benannt.

Am 19. Mai 1989 erging eine Weisung in der Form eines Fernschreibens an alle Bezirksstaatsanwälte der DDR, das folgenden Wortlaut hatte:

"Generalstaatsanwalt der DDR, Erster Stellvertreter Generalstaatsanwalt von Berlin, Staatsanwälte der Bezirke. In Fortsetzung langfristig vorbereiteter und teilweise realisierter Störaktionen gegen die Durchführung der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 werden gegenwärtig provokatorische Handlungen von feindlich-negativen Kräften zur Diskreditierung der Ergebnisse der Kommunalwahlen unternommen bzw. vorbereitet. Zur wirksamen Zurückweisung und Unterbindung festgestellter bzw. beabsichtigter provokativer rechtswidriger Handlungen wurde zentral die folgende Verfahrensweise festgelegt:

1. Wird festgestellt, daß Personen die Ergebnisse der Kommunalwahlen in der Öffentlichkeit herabwürdigen, sollten entsprechende Prüfungshandlungen eingeleitet werden. Im Falle der Bestätigung einer Täterschaft ist in Abhängigkeit von der Persönlichkeit, den Beweggründen und der konkret verfolgten Zielstellung über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Die Einleitung strafprozessualer Maßnahmen ist dabei auf einen engen offenen feindlich handelnden Personenkreis zu beschränken, der in schwerwiegender Weise die strafrechtlichen Bestimmungen verletzt.

2. Sachlich gehaltene Eingaben, andere Schreiben oder Erklärungen zum Wahlergebnis an staatliche Organe sollten den zuständigen örtlichen Wahlkommissionen übergeben werden. Durch die Sekretäre der Wahlkommissionen könnte wie folgt geantwortet werden: 'Die Wahlkommission hat anhand der von den Wahlvorständen entsprechend § 39 Abs. 1 des Wahlgesetzes exakt gefertigten Niederschriften die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen geprüft, das Wahlergebnis festgestellt und veröffentlicht. Dem ist nichts hinzuzufügen.' Auf jeden Fall ist zu vermeiden, daß zur Sache selbst oder zu den angeblichen Faktoren argumentiert wird. Schreiben, die vorher den westlichen Medien übermittelt worden sind, werden nicht bearbeitet.

3. Sachliche Anfragen von Bürgern, die sich auf das Wahlergebnis beziehen oder die Vorschläge für künftige Veränderungen des Wahlverfahrens unterbreiten, sollten durch die zuständigen örtlichen Räte entgegengenommen und in individuellen Gesprächen direkt behandelt werden.

4. Anzeigen, die nach § 211 Strafgesetzbuch erstattet werden, sind ohne Kommentar entgegenzunehmen. Nach Ablauf der vorgesehenen Fristen für die Anzeigenbearbeitung ist von den jeweils zuständigen Organen zu antworten, daß keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen. Außerdem ist auf die offizielle Verlautbarung über die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen zu verweisen. Beschwerden gegen die getroffenen Entscheidungen sind gemäß § 91 StPO zu bearbeiten und abschlägig zu entscheiden.

In Durchsetzung der zentralen Aufgabenstellung ist zu sichern:

Prüfungshandlungen und Entscheidungen nach Ziffer 1 erfolgen nur durch die Untersuchungsabteilung der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Abstimmung mit dem Staatsanwalt. Schreiben nach Ziffer 2 und 3 sind nach Abstimmung mit den genannten Untersuchungsorganen des MfS entsprechend zu übergeben. Für Entscheidungen nach Ziffer 4, die ebenfalls mit den U-Organen des MfS abzustimmen sind, ist meine Zustimmung einzuholen. Es ist zu gewährleisten, daß außer den Leitern der Abteilung I A und der Abteilung IV die Staatsanwälte der Kreise informiert sind und einheitlich handeln und daß die schnelle Information des Generalstaatsanwaltes gesichert ist. B"

Gemäß dieser fernschriftlichen Weisung wurde in allen Fällen verfahren. Bei sämtlichen Anzeigen sah die Staatsanwaltschaft von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ab. Beschwerden einzelner Anzeigender gegen die Absehensentscheidungen wurden schriftlich kurz und ohne sachliche Erläuterung zurückgewiesen.

Der Angeklagte H. erteilte in einem Einzelfall einem ihm untergebenen Staatsanwalt Weisungen, wie - im Sinne des Fernschreibens des Generalstaatsanwaltes der DDR - zu verfahren sei. Die Angeklagte M. erteilte in dem genannten Sinne einer ihr untergebenen Staatsanwältin Weisung zur Behandlung von vier Anzeigen wegen Wahlfälschung. Die Weisungen wurden jeweils befolgt. Tathandlungen der Angeklagten B. und Dr. S. sind nicht festgestellt.

Das Landgericht ist zu der Beurteilung gelangt, daß die Angeklagten aus rechtlichen Gründen freizusprechen seien, weil der Tatbestand der Rechtsbeugung bereits objektiv nicht erfüllt sei.

II.

Die Freisprechung der vier Angeklagten hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand. Dem angefochtenen Urteil liegt ein zu enges Verständnis der Strafbarkeit von Staatsanwälten der DDR wegen Rechtsbeugung zugrunde. Das den Angeklagten durch die zugelassene Anklage zur Last gelegte Verhalten würde sich objektiv als Rechtsbeugung bzw. Beihilfe zur Rechtsbeugung darstellen.

1. Zutreffend ist der Ausgangspunkt des Landgerichts: Auch Staatsanwälte der DDR können in der Bundesrepublik Deutschland wegen Rechtsbeugung nach § 244 StGB-DDR, § 336 StGB bestraft werden. Dies hat der Senat in BGHSt 40, 169, 174 ff. ausführlich dargelegt. Es ist inzwischen ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Willnow JR 1997, 221, 265 m.N.).

2. Nach der gegenüber der Vorschrift des § 336 StGB engeren Norm des § 244 StGB-DDR besteht die hier bedeutsame Voraussetzung, daß die Tat "bei der Durchführung ... eines Ermittlungsverfahrens" begangen worden ist. Daß auch dieses Tatbestandsmerkmal in der dem Angeklagten B. vorgeworfenen Tat erfüllt wäre, hat das Landgericht zu Recht angenommen.

Die Verteidiger ziehen dies mit folgendem Argument in Zweifel: Unter das in § 244 StGB-DDR genannte Tatbestandsmerkmal "bei der Durchführung ... eines Ermittlungsverfahrens" fielen nur Taten innerhalb eines durchgeführten Ermittlungsverfahrens, nicht aber Handlungen im Rahmen der Entscheidung über die Einleitung des Ermittlungsverfahrens, weil die Strafprozeßordnung der DDR zwischen der "Einleitung des Ermittlungsverfahrens" (Überschrift des Zweiten Abschnittes des Dritten Kapitels) und der "Durchführung des Ermittlungsverfahrens" (Überschrift des Dritten Abschnitts des Dritten Kapitels) unterscheide und das Verfahren zur Einleitung des Ermittlungsverfahrens ein gesondert zu sehendes Anzeigenprüfungsverfahren sei. Dies trifft nicht zu (so auch BbgOLG NJ 1994, 376 und LG Dresden NJ 1993, 519; a.A. von der Heide NJ 1990, 252 und 1994, 67).

a) Der Senat hat bereits entschieden, daß in einer auf § 96 StPO-DDR gestützten staatsanwaltschaftlichen Verfügung, durch die "von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abgesehen" wurde, eine Rechtsbeugung liegen kann. Jedoch betraf diese Entscheidung den Sonderfall, daß ein Ermittlungsverfahren bereits eingestellt worden war und die Tathandlung diese Einstellung des Ermittlungsverfahrens "bekräftigte" (BGHSt 40, 169, 172 f., 177 f.).

b) Schon die Systematik der Strafprozeßordnung der DDR spricht dafür, daß als rechtsbeugerische Taten "bei der Durchführung ... eines Ermittlungsverfahrens" im Sinne des § 244 StGB-DDR auch solche Handlungen taugen, die im Rahmen des Anzeigenprüfungsverfahrens nach §§ 92 bis 100 StPO-DDR begangen wurden. Die Strafprozeßordnung der DDR regelte im Dritten Kapitel das "Ermittlungsverfahren" (§§ 87 bis 155). Darin waren der Erste Abschnitt der "Leitung des Ermittlungsverfahrens" (§§ 87 bis 91), der Zweite Abschnitt der "Einleitung des Ermittlungsverfahrens" (§§ 92 bis 100) und der Dritte Abschnitt der "Durchführung des Ermittlungsverfahrens" (§§ 101 bis 107) sowie weitere drei Abschnitte zusätzlichen Einzelregelungen gewidmet. Oberbegriff war also das im Dritten Kapitel geregelte "Ermittlungsverfahren". Ersichtlich knüpfte § 244 StGB-DDR mit dem Tatbestandsmerkmal "bei der Durchführung ... eines Ermittlungsverfahrens" hier an und nicht etwa an die Überschrift des Dritten Abschnitts des Dritten Kapitels.

c) Sinn und Zweck der Rechtsbeugungsvorschriften sprechen dafür, auch Handlungen bei der Prüfung, ob ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird, insbesondere die Verhinderung eines Ermittlungsverfahrens, in den Wirkungsbereich der Rechtsbeugungsvorschriften einzubeziehen. Die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens ist in der Rechtsprechung wiederholt als taugliche Tat einer Rechtsbeugung befunden worden (BGHSt 40, 169; BGH NJW 1984, 2711; OLG Köln GA 1975, 341; OLG Bremen NStE § 336 StGB Nr. 2). Es liegt auf der Hand, daß entsprechendes für die Vereitelung der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gilt.

d) Schließlich besagt die offizielle Kommentierung aus der DDR das gleiche: "Das gerichtliche und das Ermittlungsverfahren umfassen auch die zur Einleitung oder zur Beendigung bestimmten Entscheidungen, z. B. Überprüfung von Anzeigen und Mitteilungen nach § 95 StPO" (Strafrecht der DDR, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 1987, § 244 Anm. 2).

1. Die Verteidigung zweier Angeklagter macht geltend, daß in der dem Angeklagten B. vorgeworfenen Tat eine Rechtsbeugung auch deshalb nicht liegen könne, weil die Handlung dieses Angeklagten nicht "zuungunsten eines Beteiligten" (§ 244 StGB-DDR) bzw. nicht "zum Nachteil einer Partei" (§ 336 StGB) erfolgt sei; denn die jeweiligen Anzeigenerstatter hätten nicht die Stellung eines Beteiligten bzw. einer Partei gehabt.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die letztgenannte Prämisse zutreffend ist. Jedenfalls wirkte die dem Angeklagten B. vorgeworfene Tat "zugunsten eines Beteiligten" (§ 244 StGB-DDR) bzw. "zugunsten einer Partei" (§ 336 StGB), nämlich zugunsten derjenigen Personen, gegen die die Anzeigen sich richteten. Dies waren in zwei Fällen konkret bezeichnete Personen, nämlich die Leiterin der Stadtbezirkswahlkommission von Berlin-Friedrichshain (UA S. 17) und der namentlich benannte Vorsitzende des Wahlvorstandes des Wahlbezirkes 11 von Neuruppin, der der "Unterschlagung" von Nein-Stimmen bei der öffentlichen Auszählung im Wahllokal bezichtigt wurde (UA S. 26). Die übrigen Anzeigen waren gegen Unbekannt gerichtet. Dabei ergab sich aus dem Inhalt der Anzeigen ohne weiteres, daß sie sich gegen denjenigen begrenzten Personenkreis richteten, der an der Auszählung, Weiterleitung, Feststellung und Bekanntgabe der Wahlergebnisse beteiligt war. Auch in einem solcherart beschriebenen Personenkreis können die von den Rechtsbeugungsvorschriften gemeinten begünstigten (oder benachteiligten) Beteiligten bzw. Parteien gefunden werden.

Die Vorschrift des § 244 StGB-DDR diente nach dem in der DDR herrschenden Verständnis "der Gewährleistung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz (vgl. Art. 20 Verfassung, Art. 5 StGB, § 5 StPO) sowie der Sicherung einer in allen Fragen gerechten und gesetzlichen Rechtsprechung" (Strafrecht der DDR aaO § 244 Anm. 1). Rechtsgut und Rechtsgrund der Vorschrift des § 336 StGB ist - bei manchen Differenzen in den Einzelheiten - der Schutz der Rechtspflege (Spendel in LK 10. Aufl. § 336 Rdn. 5 bis 8 m.N.). Dies indiziert, daß eine Rechtsbeugung - nach beiden genannten Vorschriften - nicht voraussetzt, daß die begünstigte oder benachteiligte Person bereits individuell feststeht oder gar namentlich bekannt ist. Andererseits spricht nichts dafür, Strafsachen, die gegen Unbekannt geführt werden, unter dem hier in Rede stehenden Gesichtspunkt vom Schutz der Rechtsbeugungsvorschriften auszunehmen.

2. Der Maßstab, den das Landgericht bei der Prüfung angelegt hat, ob die dem Angeklagten B. vorgeworfene Tat substantiell eine Rechtsbeugung darstellt, ist zu eng.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt nicht jede unrichtige Rechtsanwendung eine Rechtsbeugung dar. Nur der Rechtsbruch als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege soll unter Strafe gestellt sein. Rechtsbeugung begeht daher nur der Amtsträger, der sich bewußt in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt. Selbst die (bloße) Unvertretbarkeit einer Entscheidung begründet eine Rechtsbeugung nicht (BGHSt 41, 247, 251 m.w.N.; BGHR StGB § 336 Rechtsbeugung 11). Hieran anknüpfend, hat der Bundesgerichtshof speziell zur Strafbarkeit von Unrechtstaten der DDR-Justiz unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes für Personen, die in das Rechtssystem der DDR eingebunden waren und sich systemkonform verhielten, folgende Leitlinien entwickelt: Eine Bestrafung von Richtern und Staatsanwälten der DDR wegen Rechtsbeugung ist, abgesehen von Einzelexzessen, auf Fälle zu beschränken, in denen die Rechtswidrigkeit der Entscheidung so offensichtlich war und in denen insbesondere die Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenrechte, derart schwerwiegend verletzt worden sind, daß sich die Entscheidung als Willkürakt darstellt. Hierzu hat der Bundesgerichtshof für diejenigen Fälle, in denen Strafverfolgung stattgefunden hat, namentlich drei Fallgruppen aufgezeigt: Fälle, in denen Straftatbestände unter Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder unter Ausnutzung ihrer Unbestimmtheit bei der Anwendung derart überdehnt worden sind, daß eine Bestrafung, zumal mit Freiheitsstrafe, als offensichtliches Unrecht anzusehen ist; ferner Fälle, in denen die verhängte Strafe in einem unerträglichen Mißverhältnis zu der abgeurteilten Handlung gestanden hat, so daß die Strafe, auch im Widerspruch zu den Vorschriften des DDR-Strafrechts, als grob ungerecht und schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte erscheinen muß; des weiteren schwere Menschenrechtsverletzungen durch die Art und Weise der Durchführung von Verfahren, namentlich Strafverfahren, in denen die Strafverfolgung und die Bestrafung überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern der Ausschaltung des politischen Gegners oder einer bestimmten sozialen Gruppe gedient haben.

Diese Fallgruppen sind jedoch keineswegs abschließend. Außer in solchen Fällen, bei denen sich die zugrundeliegenden Willkürakte in menschenrechtsverletzenden Verfolgungsakten niederschlagen, kann eine Bestrafung von Richtern und Staatsanwälten der DDR wegen Rechtsbeugung auch in Betracht kommen, wenn nicht Verurteilungen, sondern begünstigende Entscheidungen den Anknüpfungspunkt für die Frage bilden, ob Rechtsbeugung vorliegt. Auch in diesen Fällen bleiben Einzelexzesse uneingeschränkt als Rechtsbeugung strafbar. Aber auch systembedingte Nichtverfolgung von Straftaten kann Rechtsbeugung sein. Ein solcher Fall lag schon der in BGHSt 40, 169 abgedruckten Entscheidung des Senats zugrunde. Daß es der Senat als erforderlich angesehen hätte, daß durch die begünstigende Entscheidung, die naturgemäß nicht zu einer unmittelbaren Menschenrechtsverletzung führen kann, mittelbar ein anderer verletzt worden sein müßte, worauf das Landgericht ersichtlich abstellt, ist dieser Entscheidung nicht zu entnehmen. Der Senat hat vielmehr in jenem Fall, der dem vorliegenden vergleichbar ist, maßgeblich darauf abgestellt, daß die Rechtswidrigkeit der in Rede stehenden Entscheidung so offensichtlich ist, daß sie sich ohne weiteres als Willkürakt darstellt. Dies kommt namentlich in Betracht, wenn dieser Akt für das Zusammenleben der Menschen seinem Gewicht nach einer Menschenrechtsverletzung entspricht. Jenseits davon kommt es insbesondere auf das Maß der in der Tat liegenden Pflichtwidrigkeit an. Daneben können auch der Wert des - jenseits des Rechtsgutes der Rechtsbeugung - tangierten Rechtsgutes und schließlich der Schweregrad der Auswirkungen der Tat Bedeutung haben. An diesem Maßstab sind die Fälle zu messen, bei denen von der Verfolgung von Straftätern zur Erreichung politisch erwünschter Ziele abgesehen worden ist (vgl. schon BGHSt 40, 169, 181).

b) Danach ergibt die Beurteilung der dem Angeklagten B. vorgeworfenen Tat, daß der Tatbestand der Rechtsbeugung objektiv erfüllt wäre. Die dem Angeklagten B. vorgeworfene Tat wäre ein Willkürakt.

Mit den zahlreichen, vom Landgericht im einzelnen festgestellten Anzeigen wegen Wahlfälschung gegen Unbekannt bzw. in zwei Fällen gegen benannte Personen wurde substantiiert und vielfach unter Benennung von Beweismitteln, nämlich von Zeugen der einzelnen Stimmenauszählungen, der Vorwurf erhoben, daß Straftaten, nämlich Wahlfälschungen nach § 211 StGB-DDR (bedroht mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren), begangen worden seien. Die - von den Anzeigenden zumindest konkludent behauptete - wahrheitswidrige Weitergabe regionaler Wahlergebnisse innerhalb des Systems der Ermittlung des Gesamtwahlergebnisses der DDR-Kommunalwahlen erfüllte in der Person der jeweils tauglichen Täter den Tatbestand der Wahlfälschung nach § 211 StGB-DDR (BGHSt 39, 54; 40, 307).

Die Staatsanwaltschaft der DDR war nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung der DDR, insbesondere §§ 87, 92, 95, 98, 101, und nach dem Gesetz über die Staatsanwaltschaft der DDR vom 7. April 1977 (GBl. I S. 93), insbesondere §§ 1 bis 3, 15, grundsätzlich in gleicher Weise zur Verfolgung von Straftaten verpflichtet, wie dies im Recht der Bundesrepublik Deutschland mit dem Legalitätsprinzip begriffen wird, wenngleich das Recht der DDR diesen Terminus nicht kannte. Aus diesen Regelungen ist hervorzuheben: Anlässe zur Prüfung der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens konnten Anzeigen und Ermittlungen von Bürgern sein (§ 92 Nr. 6 StPO-DDR). Die Staatsanwaltschaft war verpflichtet, jede Anzeige oder Mitteilung entgegenzunehmen und zu überprüfen, ob der Verdacht einer Straftat besteht. Im Ergebnis der Prüfung war zu entscheiden, ob (1) von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen ... oder (3) ein Ermittlungsverfahren einzuleiten ist (§ 95 Abs. 1 StPO-DDR). Die Staatsanwaltschaft hatte die den Verdacht einer Straftat begründende Handlung allseitig und unvoreingenommen aufzuklären und den Täter zu ermitteln (§ 101 Abs. 1 StPO-DDR). Gegen alle diese Gesetzesvorschriften hätte der Angeklagte B. mit dem Fernschreiben, wie es ihm in der Anklage zugerechnet wird, in eklatanter Weise verstoßen. Insbesondere Nr. 4 des Fernschreibens enthielt im Ergebnis die Weisung, Anzeigen wegen Wahlfälschung nicht sachlich zu prüfen, sondern ohne sachliche Prüfung zurückzuweisen, und obendrein die Weisung, über Beschwerden gegen solche Entscheidungen (§ 91 StPO-DDR) abschlägig zu befinden.

Die genannte Tat wäre durch ein außerordentlich hohes Maß der Pflichtwidrigkeit gekennzeichnet. Nach § 5 Abs. 1 Gesetz über die Staatsanwaltschaft der DDR wurde die Staatsanwaltschaft vom Generalstaatsanwalt geleitet. Damit hatte der Angeklagte B. als erster Stellvertreter des Generalstaatsanwaltes der DDR eine besonders hervorgehobene Pflichtstellung. Eine ebenfalls hervorgehobene Pflichtstellung hatten die Angeklagten Dr. S., H. und M. in ihren jeweiligen Funktionen.

Die Bedeutung von Wahlen in der DDR, insbesondere der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989, hat der 3. Strafsenat in der Entscheidung BGHSt 39, 54 (vgl. auch BGHSt 40, 307) ausführlich dargelegt. Danach unterschieden sich zur Tatzeit Wahlen in der DDR nach ihrer Vorbereitung, ihrem Ablauf und ihrer staats- und verfassungsrechtlichen Funktion grundlegend von freien Wahlen in einer parlamentarischen Demokratie (BGHSt 39, 54, 68). Gerade deshalb gilt folgendes: Durch ihre Nein-Stimmen, die sich gegen die Einheitsliste der Nationalen Front insgesamt und damit gegen die durch sie repräsentierte Zwangsherrschaft der SED richteten, machten die Wähler von den ihnen verbliebenen rudimentären Elementen freier parlamentarisch-demokratischer Wahlen Gebrauch (BGH aaO S. 70). Dieser Restbestand an Mitwirkung wurde den Bürgern der DDR überall dort, wo Wahlfälschungen im Interesse des Systems begangen wurden, genommen. Etwaige solche Taten gegenüber einer Aufklärung im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Wahlfälschung zu decken, war naheliegend das Ziel der dem Angeklagten B. vorgeworfenen Tat. Damit war mittelbar ein bedeutsames Rechtsgut angegriffen.

Die ersichtlich erstrebten und die objektiv eingetretenen Auswirkungen der genannten Tat waren zudem gravierend. Für die gesamte DDR sollte die aufgrund der Anzeigen gebotene sachliche Prüfung vereitelt werden. Die Anklage und die Feststellungen des angefochtenen Urteils beschreiben entsprechend eingetretene Wirkungen für die Regionen Berlin, Potsdam, Brandenburg-Stadt, Cottbus und Neuruppin. Indem unter Nr. 4 des Fernschreibens vom 19. Mai 1989 angeordnet wurde, daß über etwaige Beschwerden gemäß § 91 StPO-DDR "abschlägig zu entscheiden" sei, wurde von vornherein selbst die Möglichkeit abgeschnitten, daß etwa noch im Einzelfall im Rechtsmittelverfahren dem Recht hätte zur Geltung verholfen werden können.

Die Tat liegt damit letztlich auf derselben Bewertungsebene, wie die in BGHSt 40, 169, 181 behandelten Taten, durch die ein Sachverhalt in schwerwiegender Weise verfälscht wurde, um ein politisch erwünschtes Ziel zu erreichen.

III.

Für die neue Hauptverhandlung wird auf folgendes hingewiesen:

1. Wegen der inneren Tatseite der Rechtsbeugung ist auf BGHSt 41, 247, 276 f. und 41, 317, 336 ff. hinzuweisen.

2. Im Falle der Verurteilung wegen Rechtsbeugung kommt auch eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Begünstigung (Strafvereitelung im Amt) bzw. wegen Beihilfe hierzu nach §§ 233, 22 StGB-DDR, §§ 258, 258a, 27 StGB in Betracht. Solche Taten können mit einer Rechtsbeugung bzw. mit einer Beihilfe zur Rechtsbeugung tateinheitlich zusammentreffen (vgl. zu alledem BGHSt 40, 169, 186 f.).

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 183; NJW 1998, 248; NStZ 1998, 195

Bearbeiter: Rocco Beck