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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1445

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 456/24, Beschluss v. 24.09.2024, HRRS 2024 Nr. 1445


BGH 5 StR 456/24 - Beschluss vom 24. September 2024 (LG Berlin I)

Abweichung von der Einschätzung des Sachverständigen bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit.

§ 20 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Diagnose einer paranoiden und schizoiden Persönlichkeitsstörung gilt, dass der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit entscheidend dafür sind, ob sie die Schwelle des Eingangsmerkmals der schweren anderen seelischen Störung nach § 20 StGB erreicht. Dies erfordert eine Gesamtschau auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Angeklagten und deren Entwicklung, der Vorgeschichte, des unmittelbaren Anlasses und der Ausführung der Tat sowie seines Verhaltens nach der Tat. Für die Schwere der Persönlichkeitsstörung ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens des Angeklagten gekommen ist. Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens, das gewöhnlich im frühen Erwachsenenalter in Erscheinung tritt, sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als Merkmal der schweren anderen seelischen Störung angesehen werden.

2. Das Tatgericht ist nicht gehindert, bei der Beurteilung der faktischen Grundlagen von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen, weil dieses stets nur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann. Will es aber eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe in Anspruch genommen hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantworten, muss es die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung ermöglicht, ob das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen wurden. Hierzu bedarf es einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Sachverständigen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf die das Gericht seine abweichende Auffassung stützt.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin I vom 22. Mai 2024 mit den Feststellungen, ausgenommen diejenigen zum äußeren Tatgeschehen, aufgehoben.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter schwerer Brandstiftung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Seine Revision hat - dem Antrag des Generalbundesanwalts entsprechend - mit der Sachrüge überwiegend Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts setzte der Angeklagte am 3. Dezember 2023 in den Gängen einer psychiatrischen Klinik des T. -W. -W. in B. mittels Brandbeschleuniger eine Zeitung in Brand und entfernte sich anschließend. Dabei rechnete er mit der Möglichkeit, dass wesentliche Gebäudeteile wie der Fußboden oder die Tür zum Ärztezimmer in Brand geraten, und nahm dies billigend in Kauf. Allerdings ging er auch davon aus, dass der an einer Gangkreuzung gelegte Brand bald entdeckt werden würde. So geschah es auch und der Brand wurde ohne großen Aufwand gelöscht. Mit seiner Tat wollte der Angeklagte seine Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus erreichen.

Hintergrund sind jahrelange psychische Probleme des Angeklagten, die ab 2011 zu einer Vielzahl von teils freiwilligen, teils unfreiwilligen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken geführt haben. Von Mitte Mai 2014 bis Februar 2016 war der Angeklagte wegen einer massiven Essstörung (er wog bei einer Körpergröße von 192 cm nur noch 47 kg) überwiegend stationär in der psychiatrischen Klinik des T. -W. -W. in B., wo er teilweise zwangsernährt wurde. Dort entwickelte der Angeklagte die Vorstellung, die ihm zugeführte hochkalorische Nahrung sei Gift mit der Nebenwirkung Gewichtsverlust bis zum Hungertod, und eine zunehmende Affinität zu Verschwörungstheorien, zu Spiritualität und zu alternativen Erklärungsmustern. Er war der Meinung, die Behandlung von Essgestörten sei skandalös, weil diese vor allem durch die Behandlung, nicht aber durch ihre Erkrankung sterben würden. Diese Ansichten verbreitete er unter anderem in sozialen Medien und über eine eigene Webseite.

Er war der Überzeugung, dass der behandelnde Oberarzt ihn habe töten wollen, und wollte ihn wegen Behandlungsfehlern verklagen. Vor der psychiatrischen Klinik des T. -W. -W. begann er 2019 und 2020 mehrere Hungerstreiks. Als die erhoffte Aufmerksamkeit ausblieb, entschied er sich zu einer Radikalisierung. Er wollte nunmehr seine Zwangseinweisung erreichen, um dort wieder einen Hungerstreik zu beginnen und auf die aus seiner Sicht skandalösen Umstände aufmerksam zu machen. Regelmäßig suchte er trotz Hausverbots den von ihm verantwortlich gemachten Oberarzt auf, weshalb die Klinik einen eigenen Sicherheitsdienst engagierte. Nach einigen Reisen suchte er ab August 2023 entgegen einer Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz und des ausgesprochenen Hausverbots wiederholt den Oberarzt in der Klinik auf, bedrohte ihn mit Worten und näherte sich ihm einmal auch mit einem auf Bauchhöhe gehaltenen Messer.

Die Sachverständige hat bei ihm eine komorbide paranoide und schizoide Persönlichkeitsstörung (differentialdiagnostisch eine schizotype Störung) diagnostiziert, bei der sich zudem passivaggressive Züge fänden. Diese Störung habe sich ab dem 12. Lebensjahr entwickelt und führe seitdem dazu, dass der Angeklagte in sozialen Situationen durchgehend aneckend auffalle. Aufgrund des Ausprägungsgrades der Störung sei sie dem Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung zuzuordnen, weil die Erkrankung das ganze Leben des Angeklagten bestimme (Abbruch des Studiums, keine Berufsausbildung, kein längerfristiges Arbeitsverhältnis) und die Rigidität seines Denkmusters hinsichtlich seiner Verdauung und seines Kampfes gegen Ungerechtigkeit zu erheblich eingeschränkten Verhaltensspielräumen mit massiven Einengungen der Lebensführung geführt habe. Dies führe in der Tatsituation zu einer erheblichen Reduzierung der Steuerungsfähigkeit, wobei die Tat symptomatisch auf die Erkrankung zurückgehe. Krankheitsbedingt seien vom Angeklagten auch erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten.

Entgegen der Einschätzung der hinzugezogenen psychiatrischen Sachverständigen ist die Strafkammer davon ausgegangen, dass bei dem Angeklagten kein Eingangsmerkmal des § 20 StGB vorliegt und auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht in Betracht kommt. Die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung erreiche in der gebotenen Gesamtschau nicht die Schwelle der schweren anderen seelischen Störung.

2. Die Verurteilung des Angeklagten hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die Schuldfähigkeitsbeurteilung an durchgreifenden Rechtsfehlern leidet. Dies führt dazu, dass auch über die Frage der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus neu entschieden werden muss.

a) Im Ansatz zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Frage, ob ein psychiatrischer Befund einem Eingangsmerkmal des § 20 StGB zuzuordnen ist, eine Rechtsfrage darstellt, die es in eigener Verantwortung zu beantworten hat.

Gerade bei einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung gilt, dass der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit entscheidend dafür sind, ob sie die Schwelle des Eingangsmerkmals der schweren anderen seelischen Störung nach § 20 StGB erreicht. Dies erfordert eine Gesamtschau auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Angeklagten und deren Entwicklung, der Vorgeschichte, des unmittelbaren Anlasses und der Ausführung der Tat sowie seines Verhaltens nach der Tat. Für die Schwere der Persönlichkeitsstörung ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens des Angeklagten gekommen ist. Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens, das gewöhnlich im frühen Erwachsenenalter in Erscheinung tritt, sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als Merkmal der schweren anderen seelischen Störung angesehen werden (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 21. August 2024 - 6 StR 204/24 mwN).

Insoweit ist das Tatgericht auch nicht gehindert, bei der Beurteilung der faktischen Grundlagen von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen, weil dieses stets nur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann. Will es aber eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe in Anspruch genommen hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantworten, muss es die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung ermöglicht, ob das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen wurden. Hierzu bedarf es einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Sachverständigen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf die das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 12. Juli 2023 - 1 StR 106/23 mwN).

b) An einer solchen fehlt es vorliegend. In seine Gesamtwürdigung hätte das Landgericht einstellen müssen, dass der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen bereits zahlreiche Straftaten im Zusammenhang mit dem von ihm verfolgten Oberarzt und der psychiatrischen Klinik des T. -W. -W. begangen hat, (nämlich Hausfriedenbrüche, Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz und eine Bedrohung,) obwohl mit der Einrichtung eines eigenen Sicherheitsdienstes, der Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz und dem Hausverbot zahlreiche Gegenmaßnahmen gegen sein Vorgehen getroffen wurden. Dass dieses Verhalten unter steter Steigerung der Maßnahmen vom Hungerstreik über den Messereinsatz bis zur Brandlegung „durch ein planvolles, kalkuliertes Abwägen geprägt war“, erschließt sich vor dem Hintergrund der Abwegigkeit des Handlungsziels nicht. Unberücksichtigt bleibt bei der Bewertung der Strafkammer auch der Umstand, dass die Störung - worauf die Sachverständige abgestellt hat - den Angeklagten schon seit frühen Jahren begleitet und seitdem zu ganz erheb10 11 lichen Problemen in seiner Lebensführung beiträgt. Soweit die Strafkammer darauf rekurriert, die Sachverständige habe „nicht zweifelsfrei feststellen [können], dass die Essstörung Folge der Persönlichkeitsstörung ist“, lässt dies nicht erkennen, welche Gründe aus Sicht des Gerichts für oder gegen diesen Zusammenhang sprechen (vgl. auch BGH, Urteil vom 23. November 2022 - 5 StR 347/22 Rn. 17). Der relativierende allgemeine Einwand, eine Vielzahl von Menschen sei Anhänger von wahnhaft anmutenden Verschwörungstheorien, lässt die Besonderheiten in der Person des Angeklagten außer Betracht.

c) Die Rechtsfehler bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung entziehen hier bereits dem Schuldspruch die Grundlage. Auch die Frage einer Unterbringung nach § 63 StGB bedarf erneuter Prüfung; das Verschlechterungsverbot stünde einer solchen Anordnung nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO).

3. Soweit die Feststellungen den äußeren Tatablauf betreffen, sind sie rechtsfehlerfrei und können bestehen bleiben (vgl. § 353 Abs. 2 StPO); in diesem Umfang bleibt die Revision ohne Erfolg.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1445

Bearbeiter: Christian Becker