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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 763

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 559/23, Beschluss v. 29.04.2024, HRRS 2024 Nr. 763


BGH 5 StR 559/23 - Beschluss vom 29. April 2024 (LG Lübeck)

Prozessuale Handlungsfähigkeit als Voraussetzung wirksamer Rechtsmittelrücknahme.

§ 302 Abs. 1 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die prozessuale Handlungsfähigkeit setzt voraus, dass ein Angeklagter bei Abgabe einer Rechtsmittelrücknahmeerklärung in der Lage ist, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen und bei hinreichender Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung die Bedeutung seiner Erklärung zu erkennen. Dies wird allein durch eine Geschäfts- oder Schuldunfähigkeit nicht notwendig ausgeschlossen. Vielmehr ist von einer Unwirksamkeit der Rücknahmeerklärung erst auszugehen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Rechtsmittelführer nicht dazu in der Lage war, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Erklärung zu erfassen. Verbleiben Zweifel an seiner prozessualen Handlungsfähigkeit, geht dies zu seinen Lasten.

Entscheidungstenor

Es wird festgestellt, dass die Revision des Beschuldigten gegen das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 24. März 2022 wirksam zurückgenommen worden ist.

Die erneut eingelegte Revision des Beschuldigten gegen das vorbenannte Urteil wird als unzulässig verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Der Antrag des Beschuldigten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird als unzulässig verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat am 24. März 2022 die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

Hiergegen richtete sich die vom Beschuldigten mit Schreiben vom 25. März 2022 eingelegte Revision, die am 29. März 2022 beim Landgericht einging. Mit Fax vom 19. Mai 2022 schrieb der Beschuldigte seinem Verteidiger: „Ich ziehe die Revision zurück! Bitte teilen Sie dies dem Gericht mit.“ Der Verteidiger nahm daraufhin mit dem Landgericht am 23. Mai 2022 zugegangenem Schreiben vom 20. Mai 2022 „in Absprache mit meinem Mandanten“ die Revision zurück. Die Strafkammervorsitzende übersandte unter dem 24. Mai 2022 eine Kopie der Rücknahmeerklärung an den Beschuldigten. Am 27. Juni 2022 beschloss das Landgericht die Kostenfolge nach § 473 Abs. 1 StPO.

Mit einem an das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht gerichteten Schreiben vom 19. September 2023 hat der Beschuldigte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und mit Schreiben vom 24. September 2023 (erneut) Revision eingelegt. Er sei infolge akuter paranoider Schizophrenie in seiner Handlungsfähigkeit „behindert“ und nicht in der Lage gewesen, seine Rechte wahrzunehmen. Der Beschuldigte hat damit die Wirksamkeit der Rechtsmittelrücknahme bestritten, was in der Regel eine feststellende Klärung durch förmliche Entscheidung des Rechtsmittelgerichts erfordert (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 2017 - 2 StR 410/17, NStZ 2018, 615; vom 12. Juli 2000 - 3 StR 257/00, NStZ 2001, 104).

1. Der Beschuldigte hat die Revision durch seinen Verteidiger wirksam zurückgenommen (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Er war bei der entsprechenden Auftragserteilung seines ausdrücklich von ihm ermächtigten Verteidigers (§ 302 Abs. 2 StPO) verhandlungsfähig. Zwar stand der Beschuldigte unter Betreuung. Es bedurfte ausweislich des vom Verteidiger vorgelegten Betreuerausweises aber für die Wirksamkeit von Willenserklärungen gegenüber Behörden nicht der Einwilligung des Betreuers. Der Beschuldigte war zudem prozessual handlungsfähig.

a) Die prozessuale Handlungsfähigkeit setzt voraus, dass ein Angeklagter oder Beschuldigter bei Abgabe einer Rechtsmittelrücknahmeerklärung in der Lage ist, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen und bei hinreichender Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung die Bedeutung seiner Erklärung zu erkennen. Dies wird - wie etwa § 415 Abs. 1 und 3 StPO für das Sicherungsverfahren gegen einen Schuldunfähigen belegen - allein durch eine Geschäfts- oder Schuldunfähigkeit nicht notwendig ausgeschlossen. Vielmehr ist von einer Unwirksamkeit der Rücknahmeerklärung erst auszugehen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Rechtsmittelführer nicht dazu in der Lage war, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Erklärung zu erfassen. Verbleiben Zweifel an seiner prozessualen Handlungsfähigkeit, geht dies zu seinen Lasten (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. März 2022 - 3 StR 29/22; vom 8. Oktober 2019 - 1 StR 327/19; vom 20. Februar 2017 - 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487, 488 jeweils mwN).

b) Nach diesen Maßstäben liegen keine Anhaltspunkte vor, die Zweifel daran begründen könnten, der Beschuldigte sei sich zum Zeitpunkt der Rechtsmittelrücknahme nicht der Bedeutung und Tragweite der Erklärung bewusst gewesen. Dies stellt der Senat im Wege des Freibeweises auf Grundlage des Akteninhalts und der beim Verteidiger zu den Umständen der Rücknahme eingeholten Stellungnahme fest.

Zwar folgt aus den Urteilsgründen, dass der psychiatrische Sachverständige beim Beschuldigten eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert hat und sich offensichtlich wahnhaft geprägte Gedankengänge auch noch in den Einlassungen des Beschuldigten in der Hauptverhandlung offenbart haben. Dies ist für die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung jedoch nicht von maßgeblicher Bedeutung (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Februar 2017 - 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487, 488 mwN). Vielmehr zeigt schon das Schreiben vom 25. März 2022, mit dem er zunächst selbst die Revision einlegte und in dem er die „Gesamtanfechtung“ des Urteils und Verletzung seines Notwehrrechts nach § 32 StGB anführte, ebenso wie sein Aufforderungsschreiben an seinen Verteidiger vom 19. Mai 2022, dem Gericht die Rücknahme mitzuteilen, dass der Beschuldigte über Förmlichkeiten informiert war und entsprechend handelte. Der Verteidiger hat zudem in seiner Stellungnahme erklärt, es habe keinen Hinweis auf eine vorgelegene Geschäftsunfähigkeit des Beschuldigten gegeben. Dass dieser bei Abfassen seines Schreibens vom 19. Mai 2022 infolge der schizophrenen Erkrankung in seiner Willensentschließung und Willensbetätigung beschränkt war, ist danach nicht ersichtlich.

2. Der Antrag auf Wiedereinsetzung war als unzulässig zu verwerfen, da dieser die wirksame und damit nicht widerrufbare oder anfechtbare Rücknahmeerklärung entgegensteht, die zum Verlust des Rechtsmittels führt. Eine Wiedereinsetzung ist rechtlich ausgeschlossen und daher unzulässig (BGH, aaO).

3. Die Revision hätte im Übrigen in der Sache keinen Erfolg gehabt, weil das Urteil keinen den Beschuldigten beschwerenden Rechtsfehler aufweist.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 763

Bearbeiter: Christian Becker