HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 810
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 303/23, Urteil v. 24.04.2024, HRRS 2024 Nr. 810
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 15. Dezember 2022 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Entscheidung und Verhandlung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt. Vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Insofern hat ihm die Staatsanwaltschaft mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage zur Last gelegt, am 16. November 2020 gegen 23.35 Uhr den Geschädigten M. gemeinschaftlich mit dem gesondert rechtskräftig Verurteilten J. mittels eines von diesem geführten Messers und einer (auch) vom Angeklagten verwendeten Eisenstange lebensgefährlich verletzt zu haben. Das Landgericht hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der Angeklagte einer der beiden Täter war.
Die allein gegen den Teilfreispruch gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers beanstanden die Verletzung materiellen Rechts; der Nebenkläger hat zudem eine Verfahrensrüge erhoben. Während die Verfahrensrüge nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entspricht und damit unzulässig ist, haben beide Beschwerdeführer mit ihren Sachrügen Erfolg.
Das Landgericht hat den Freispruch im Wesentlichen wie folgt begründet:
Der Geschädigte habe den Tathergang so geschildert, wie er sich aus der Anklageschrift und den - wortwörtlich in die Urteilsgründe übernommenen - Feststellungen des rechtskräftigen Urteils gegen J. ergebe. Er habe insbesondere erneut glaubhaft angegeben, dass der ihm seit langem bekannte J. mit dem Messer zugestochen, während der von ihm nicht erkannte Mittäter ihn mit der Eisenstange geschlagen habe. Angesichts dessen könne daraus, dass sich der Angeklagte gegenüber seiner vormaligen Lebensgefährtin B. und dem Zeugen I. ausweislich derer Angaben damit gebrüstet habe, auf den Geschädigten eingestochen zu haben, nicht „der sichere Schluss“ auf seine Tatbeteiligung gezogen werden. Hinsichtlich der Zeugin B. komme ungeachtet dessen hinzu, dass deren Bekundungen „wegen fehlender Belastbarkeit vollkommen unbrauchbar“ seien. Die Angaben des Zeugen I. seien zwar glaubhaft. Es sei aber „nicht unwahrscheinlich“, dass der Angeklagte sich der Tat lediglich berühmt habe, um den Zeugen, den er eines Liebesverhältnisses mit der zu diesem Zeitpunkt bereits von ihm getrennten Zeugin B. bezichtigte, weiter einzuschüchtern.
Ein Motiv des Angeklagten für eine Tatbeteiligung habe sich aus der Beweisaufnahme nicht ergeben. Zwar sei er mit J. befreundet gewesen und habe bei ihm gewohnt, nachdem die Zeugin B. ihn der gemeinsamen Wohnung verwiesen habe. Dass er sich aus „falsch verstandener Kumpanei“ mit J. an dessen „Racheaktion“ gegen den neuen Lebensgefährten seiner ehemaligen Partnerin und Mutter seines Sohnes beteiligt habe, sei aber eine „spekulative Version“.
Die Vernehmung der Polizisten, die J. und den Angeklagten in der Nähe des Tatortes festgestellt und befragt haben, hätte ebenfalls nichts „Entscheidendes“ zur Überführung des Angeklagten erbracht. Zwar habe einer der Polizeibeamten, der den Angeklagten bereits kurz zuvor beim Betreten des Wohnhauses des Verurteilten J. gesehen hatte, bemerkt, dass der Angeklagte die Bekleidung gewechselt habe. Hierfür seien aber „verschiedene Erklärungen denkbar, die keine zwingenden Schlüsse“ auf eine Tatbeteiligung des Angeklagten zuließen.
Auch bei einer „Gesamtbetrachtung“ aller Beweismittel und Indizien habe die Strafkammer nicht die sichere Überzeugung gewinnen können, dass der Angeklagte der zweite Täter gewesen sein „muss“. Dass die Körpergröße des Mittäters nach den Angaben des Geschädigten der des Angeklagten entspreche, reiche hierfür nicht aus.
Die vom Generalbundesanwalt vertretenen Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers richten sich allein gegen den Teilfreispruch; die Staatsanwaltschaft hat ihr Rechtsmittel wirksam darauf beschränkt. Sie haben mit den Sachrügen Erfolg.
1. Die Urteilsgründe entsprechen bereits nicht den Anforderungen, die nach § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO an ein freisprechendes Urteil zu stellen sind.
a) Spricht das Tatgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen frei, muss es regelmäßig in einer geschlossenen Darstellung die als erwiesen angesehenen Tatsachen feststellen, bevor es in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können. Denn es ist Aufgabe der Urteilsgründe, dem Revisionsgericht auf diese Weise eine umfassende Nachprüfung der freisprechenden Entscheidung zu ermöglichen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2022 - 5 StR 170/22 Rn 18 f.).
b) Diesen Anforderungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden.
Es hat seine Begründung des Teilfreispruchs mit der Mitteilung begonnen, dass der Angeklagte sich nicht zur Sache eingelassen und der als Zeuge geladene Verurteilte J. keine Angaben gemacht hat. Anschließend hat es die Feststellungen zum „Tatgeschehen“ aus dem Urteil der Schwurgerichtskammer gegen den Zeugen J. wortwörtlich zitiert, wobei es diesen Abschnitt wie folgt eingeleitet hat: „Das Schwurgericht hat folgende Feststellungen getroffen …:“. Die Strafkammer hat mithin lediglich in der Beweiswürdigung Feststellungen referiert, die von einem anderen Gericht getroffen worden waren. Eine geschlossene Darstellung der von ihr als erwiesen erachteten Feststellungen enthält das Urteil hingegen nicht.
2. Ungeachtet dessen erweisen sich die von einer Feststellungsgrundlage losgelösten Erwägungen, die nach Auffassung der Strafkammer gegen eine Täterschaft des Angeklagten sprechen sollen, als rechtsfehlerhaft.
a) Dies gilt insbesondere für den Umstand, dass der Angeklagte in der Zeitspanne von zehn Minuten zwischen dem Eintreffen der Polizei im Tatortbereich und seiner Feststellung durch die Beamten zusammen mit J. seine Bekleidung gewechselt hatte. Dieses Indiz hat das Landgericht mit der Begründung entwertet, es seien verschiedene Erklärungen hierfür „denkbar“, die keine „zwingenden Schlüsse“ auf eine Tatbeteiligung des Angeklagten zuließen.
aa) Diese Ausführungen begegnen schon für sich genommen unter zwei Aspekten durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zum einen ist es weder im Hinblick auf den Zweifelsgrundsatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte vorhanden sind; alternative, für den Angeklagten günstige Geschehensabläufe sind vielmehr erst dann bedeutsam, wenn für ihr Vorliegen konkrete Anhaltspunkte erbracht sind (vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2020 - 3 StR 288/19 Rn. 19). Zum anderen ist es das Wesensmerkmal von Indizien, dass diese keine zwingenden Schlüsse zulassen, sondern ihren Beweiswert erst im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller für und gegen einen Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte gewinnen; es genügt daher, dass ein Schluss möglich ist (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 1983 - 1 StR 823/82, NStZ 1983, 277, 278).
bb) Das Landgericht hätte in diesem Zusammenhang zudem einstellen müssen, dass die Zeugin B. bei der Polizei angegeben hat, der Angeklagte sei nach 23 Uhr mit einer blutigen Hose zu ihr in die Wohnung gekommen und habe die Hose gewechselt. Denn dies steht im Einklang mit dem von einem der Polizisten festgestellten Bekleidungswechsel und spricht für die Glaubhaftigkeit dieser Angabe der Zeugin. Darauf hat sich das Landgericht aber den Blick verstellt, weil es die Angaben der Zeugin insgesamt als „vollkommen unbrauchbar“ bewertet hat. Es existiert jedoch kein Erfahrungssatz des Inhalts, dass einem Zeugen nur entweder insgesamt geglaubt oder insgesamt nicht geglaubt werden darf (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 2017 - 5 StR 520/17, NStZ 2018, 116). Sollte das Landgericht diesem Aussageaspekt der Zeugin zudem deshalb keine Bedeutung beigemessen haben, weil der betreffende Polizist in der hiesigen Hauptverhandlung ausdrücklich lediglich ein anderes Oberteil erwähnt hat, wäre auch dies nicht rechtsfehlerfrei. Denn es hätte dann erkennbar berücksichtigen müssen, dass der Polizeibeamte in der Hauptverhandlung gegen J. ausweislich der wortwörtlich wiedergegebenen Auszüge aus dem Urteil in jener Sache angegeben hatte, der Angeklagte sei „nunmehr völlig anders gekleidet“ gewesen.
b) Soweit das Landgericht ausgeführt hat, dass die Vernehmung der Polizisten, die J. vorläufig festgenommen hatten, auch im Übrigen nichts „Entscheidendes“ erbracht habe, ist auch dies rechtlich bedenklich. Denn nach den in den Urteilsgründen zitierten Feststellungen aus dem Urteil gegen den Verurteilten J. hatte dieser bei seiner Festnahme gegenüber den Beamten angegeben, dass er „Streit mit dem neuen Freund seiner Ex“ gehabt habe und deshalb mit seinem Freund „R.“ spazieren gegangen sei. Dies hätte das Landgericht mit Blick auf den gleichlautenden Vornamen des Angeklagten und dessen ersichtliches Näheverhältnis zu J. erörtern und in die erforderliche Gesamtbetrachtung einstellen müssen.
c) Das Gleiche gilt, soweit das Landgericht den Freispruch darauf gestützt hat, dass sich aus der Beweisaufnahme kein Motiv des Angeklagten für eine Tatbeteiligung ergeben habe und die Annahme, er habe sich aus „falsch verstandener Kumpanei“ mit seinem Freund J. an dessen „Racheaktion“ gegen den neuen Lebensgefährten seiner ehemaligen Partnerin und Mutter seines Sohnes 17 18 beteiligt, deshalb spekulativ sei. Denn es hat nicht erkennbar in den Blick genommen, dass das gewalttätige und mit Todesdrohungen verbundene Vorgehen des Angeklagten gegen den Zeugen I. vom gleichen Motiv geprägt war wie die Gewaltakte des Verurteilten J. gegen den Nebenkläger.
d) Schließlich erweisen sich die Erwägungen des Landgerichts im Hinblick auf den Umstand, dass der Angeklagte sich gegenüber den Zeugen B. und I. der Tatbegehung mittels eines Messers berühmt hat, als rechtsfehlerhaft.
Das Landgericht hat dem Umstand einen Beweiswert abgesprochen, weil hieraus nicht der „sichere Schluss“ gezogen hätte werden können, dass der Angeklagte der Mittäter des Verurteilten J. gewesen sei. Es sei nicht unwahrscheinlich, dass sich der Angeklagte nur deshalb gegenüber dem Zeugen I. mit der Tat gebrüstet habe, um diesen weiter einzuschüchtern. Der Zeugin B. hat es die Aussage insbesondere schon gar nicht geglaubt, weil es - für sich genommen rechtsfehlerfrei - den Angaben des Nebenklägers gefolgt ist, wonach J. mit dem Messer auf ihn eingestochen habe. Ihre Angaben seien zudem „völlig unbrauchbar“.
Abgesehen davon, dass das Landgericht auch in diesem Zusammenhang verkannt hat, dass Schlüsse aus Indizien nur möglich sein müssen (s. o. zu II.2.a), hat es die Angaben nicht in der Gesamtschau mit den anderen festgestellten Indizien gewürdigt. So hat es die Schilderungen zweier Zeugen über eine inhaltsgleiche Selbstbezichtigung nicht zueinander in Bezug gesetzt. Es erschließt sich aber nicht ohne weiteres, weshalb das Landgericht die Angaben der Zeugin B. auch insoweit für „völlig unbrauchbar“ hält, obwohl es die inhaltsgleichen Angaben des Zeugen I. für glaubhaft erachtet hat. Dass es den Angaben des Nebenklägers gefolgt ist, wonach J. ihn verletzt habe, steht der 19 20 21 Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin nicht entgegen. Denn diese hat nur bekundet, was der Angeklagte ihr gegenüber geäußert, nicht was sie gesehen hat. Durch die pauschale Entwertung der Angaben der Zeugin B. hat sich das Landgericht den Blick darauf verstellt, dass deren Aussage insoweit von dem Zeugen I. gestützt wird, und seine das Indiz entwertende Erklärung für die Selbstbezichtigung gegenüber dem Zeugen I. für die Aussage der Zeugin B. nicht greift.
3. Nach alledem bedarf die Sache, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist, neuer Verhandlung und Entscheidung.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 810
Bearbeiter: Christian Becker