HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 39
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 203/23, Urteil v. 06.12.2023, HRRS 2024 Nr. 39
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Görlitz vom 6. Oktober 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die Revision des Angeklagten gegen das vorbenannte Urteil wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat dem Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen auferlegt, einen Geldbetrag in Höhe von 1.800 Euro zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu zahlen. Die mit der Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft, die in beiden Fällen eine tateinheitliche Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung erstrebt, hat Erfolg. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet.
I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte und die zur Tatzeit elfjährige R. verbrachten aufgrund einer Freundschaft ihrer Eltern seit ihrer Kindheit Zeit miteinander; ihr Alter war ihm daher bekannt. Während einer Geburtstagsfeier im Zeitraum von Februar bis Mai 2014 hielten sich das Mädchen und der am 29. April 1998 geborene Angeklagte in dessen Zimmer im Obergeschoss seines Elternhauses auf. Er setzte sich neben die auf einer Couch sitzende Geschädigte, fasste sie am Oberschenkel an, hielt sie zunächst an ihrem Arm fest und zog ihr anschließend Hose und Slip aus. Als sie auf dem Rücken lag, kam der Angeklagte über sie, führte erst einen Finger in ihre Scheide ein, leckte sie dann im Genitalbereich und drang schließlich mit seinem Glied in ihre Scheide ein. Die Geschädigte gab währenddessen weder eine Äußerung von sich noch wehrte sie sich. Nachdem der Angeklagte ohne weitere Erklärung von ihr abgelassen hatte, zog sie sich an, ging ins Badezimmer und bat anschließend ihre Eltern, die Feier zu verlassen, weil sie Bauchschmerzen verspüre. Zuhause stellte sie eine leichte Blutung aus der Scheide fest (Fall 1 der Urteilsgründe).
2. Anfang März 2016 lernte der damals knapp 18 Jahre alte Angeklagte die zwölfjährige S. im Internet kennen. Im Rahmen der Kommunikation nannte ihm das Mädchen sein tatsächliches Alter. Etwa eine Woche nach dem ersten Kontakt vereinbarten sie auf Wunsch des Angeklagten ein persönliches Treffen. Er holte die Geschädigte an ihrem Wohnort ab und ging mit ihr über einen Trampelpfad zu einer im Verfall befindlichen Fabrik. Er nahm sie an die Hand und betrat mit ihr das unverschlossene Gebäude über einen breiten offenstehenden Zugang. In einem Raum auf der linken Seite im Gebäudeinnern entkleidete der Angeklagte das Mädchen bis auf den BH, zog seine Hose aus und legte die Geschädigte auf eine am Boden liegende Tür. Er küsste sie auf Mund und Hals, spreizte ihre Beine, legte sich auf sie und drang mit seinem Glied in ihre Scheide ein. Er vollzog an ihr den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss. Danach zog sich der Angeklagte an und verließ wortlos das Fabrikgebäude. Die Geschädigte hatte während des Geschehens weder geschrien noch sich zur Wehr gesetzt (Fall 2 der Urteilsgründe).
3. Das Landgericht hat die beiden Taten als sexuellen Missbrauch nach § 176 Abs. 1 StGB aF gewertet. Von einer Verurteilung des Angeklagten wegen einer tateinheitlich hierzu stehenden Vergewaltigung nach § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB aF hat es sich in keinem der beiden Fälle imstande gesehen. Der Angeklagte habe keines der Mädchen mit Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF genötigt, seine sexuellen Handlungen zu dulden. Im Fall 2 der Urteilsgründe sei die Geschädigte dem Angeklagten schon nicht im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF schutzlos ausgeliefert gewesen; zudem seien keine Feststellungen zu treffen gewesen, die eine kausale Verbindung zwischen einer „etwaigen Schutzlosigkeit“ der Geschädigten und deren Verhalten belegen würden.
Die Revision der Staatanwaltschaft hat Erfolg.
1. Zu Recht rügt sie, dass die Jugendkammer jeweils die Anwendung von Gewalt als Nötigungsmittel im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF verneint hat.
a) Eine Nötigung mit Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF ist gegeben, wenn der Täter durch eigene Kraftentfaltung das Opfer einem körperlich wirksamen Zwang aussetzt, um damit geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. April 2009 - 4 StR 88/09, NStZ-RR 2009, 202; vom 31. Juli 2013 - 2 StR 318/13, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 17). Es kommt mithin nicht darauf an, ob das Opfer des Übergriffs tatsächlich Widerstand leistet; es genügt, wenn die körperliche Zwangseinwirkung der Verhinderung von erwarteter Gegenwehr dient (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 1988 - 4 StR 201/88, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 2; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 177 Rn. 69; insoweit missverständlich BGH vom 31. Juli 2013 - 2 StR 318/13, aaO; vgl. zur Fortgeltung dieser Maßstäbe im geltenden Recht BGH, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 StR 7/20, NStZ-RR 2020, 312; Beschluss vom 12. Dezember 2018 - 5 StR 451/18, BGHR StGB § 177 nF Abs. 5 Gewalt 1).
b) Gemessen daran hält die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe keine Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF ausgeübt, der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Zwar hat es seiner rechtlichen Würdigung die zutreffenden rechtlichen Maßstäbe vorangestellt, sie aber bei der konkreten Subsumtion unvollständig und zu eng gehandhabt.
aa) Die Jugendkammer hat ihre Auffassung wie folgt begründet: Nach ihren Feststellungen, die sie aufgrund der glaubhaften Schilderungen der geschädigten Mädchen getroffen hat, habe keine „gegen sie gerichtete Kraftentfaltung“ vorgelegen, die von ihnen als körperlicher Zwang „empfunden“ worden sei. Zudem habe sie keine Abwehrhandlungen festzustellen vermocht, „aus denen der Angeklagte auf einen etwaigen Widerstand hätte schließen können“.
bb) Dies erweist sich unter zwei Gesichtspunkten als rechtsfehlerhaft.
(1) Das Landgericht ist von einem zu engen Gewaltbegriff ausgegangen. Nach den Feststellungen im Fall 1 der Urteilsgründe fasste der Angeklagte die elfjährige, auf einer Couch sitzende Geschädigte R. am Oberschenkel an, hielt sie am Arm fest, entkleidete ihren Unterkörper und führte unter anderem den Geschlechtsverkehr an dem nun auf dem Rücken liegenden Mädchen aus. Im Fall 2 der Urteilsgründe hat die Jugendkammer festgestellt, dass der Angeklagte die zwölfjährige Geschädigte S. auf eine am Boden des Fabrikgebäudes liegende Tür legte, ihre Beine spreizte, sich auf sie legte und dann mit seinem Glied in ihre Scheide eindrang. Handlungen wie das Festhalten eines Armes des Opfers unmittelbar vor dem sexuellen Übergriff, das Auseinanderdrücken der Beine oder der Einsatz überlegener Körperkraft (etwa durch das Legen des Opfers auf den Rücken) können im Einzelfall Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF darstellen; das Gleiche gilt, wenn der Täter sich mit seinem Körpergewicht auf das Opfer legt (vgl. BGH, Urteile vom 10. Februar 2011 - 4 StR 566/10, NStZ 2011, 456, 457; vom 10. Oktober 2002 - 2 StR 153/02, NStZ-RR 2003, 42, 43; vom 15. Juli 2020 - 6 StR 7/20, NStZ-RR 2020, 312). Soweit das Landgericht in der rechtlichen Würdigung ausgeführt hat, die geschädigten Mädchen hätten die Handlungen des Angeklagten nicht als körperlichen Zwang „empfunden“, handelt es sich um eine Wertung, für die es an einer ausreichenden Feststellungsgrundlage fehlt. Mangels einer genaueren Schilderung des Verhaltens sowohl des Angeklagten als auch der Geschädigten ist dem Senat eine Überprüfung verwehrt, ob die Jugendkammer im Ergebnis zu Recht eine von den Handlungen des Angeklagten ausgehende Zwangseinwirkung auf die Opfer verneint hat.
(2) Die Ausführungen des Landgerichts lassen außer Betracht, dass es genügen kann, wenn der Täter die Gewalthandlungen im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF vornimmt, um von ihm erwarteten Widerstand des Opfers zu begegnen, wenn die körperliche Zwangseinwirkung dazu dient, eine mögliche Gegenwehr (vorbeugend) zu verhindern. Die Jugendkammer hat ihre Auffassung damit begründet, dass sich die Geschädigten weder gegen den sexuellen Übergriff gewehrt noch sich währenddessen geäußert haben. Mit der Möglichkeit, dass der Angeklagte mit seiner Kraftentfaltung gegen die Geschädigten einen von ihm erwarteten Widerstand vorbeugend unterbinden wollte, hat sich das Landgericht indes nicht auseinandergesetzt. Mangels näherer Schilderung des Verhaltens des Angeklagten und der Geschädigten kann der Senat nicht nachprüfen, ob der Angeklagte mit dieser Intention handelte. Eine genauere Erörterung dieser Frage wäre umso mehr angezeigt gewesen, als der Angeklagte vor der ersten Tat seinen Bruder aus dem Zimmer schickte, die Geschädigte R. angegeben hat, sie habe sich wehren und den Angeklagten wegdrücken wollen, und die Geschädigte S. neben Schmerzen auch bekundet hat, dass sie „wie gelähmt“ und „ihre Muskeln … wie eingefroren“ gewesen seien, sie wie „in Schockstarre verfallen gewesen“ sei.
2. Soweit die Staatsanwaltschaft im Fall 2 der Urteilsgründe beanstandet, dass das Landgericht die Ausnutzung einer schutzlosen Lage nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF rechtsfehlerhaft verneint hat, dringt sie ebenfalls durch.
a) Eine schutzlose Lage liegt vor, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maße verringert sind, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben ist. Es kommt darauf an, dass das Tatopfer nach objektiver ex ante-Prognose möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert wäre, das heißt, ihnen weder mit Aussicht auf Erfolg körperlichen Widerstand entgegensetzen noch sich ihnen durch Flucht entziehen oder auf die Abwendung durch Hilfe dritter Personen hoffen kann; eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten bedarf es nicht. Der objektive Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF setzt zudem voraus, dass das Tatopfer unter dem Eindruck seines schutzlosen Ausgeliefertseins aus Furcht vor möglichen Einwirkungen des Täters auf einen ihm grundsätzlich möglichen Widerstand verzichtet; es muss mithin eine kausale Verbindung zwischen der Schutzlosigkeit und dem Verhalten des Opfers gegeben sein. Bei der Entscheidungsfindung sind Umstände in den äußeren Gegebenheiten, in der Person des Opfers oder des Täters im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu bewerten (vgl. BGH, Urteil vom 25. Januar 2006 - 2 StR 345/05, BGHSt 50, 359, 365 f.; Beschluss vom 1. Juli 2004 - 4 StR 229/04, BGHR StGB § 177 Abs. 1 schutzlose Lage 7 mwN; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 177 Rn. 101 f. mwN).
b) Nach diesen Maßstäben weist die Wertung des Landgerichts durchgreifende Rechtsfehler auf.
aa) Die Verneinung einer schutzlosen Lage hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Jugendkammer hat ihre Auffassung lediglich damit begründet, dass es sich bei dem Tatort um ein in Verfall befindliches Gebäude gehandelt habe, das allerdings nicht verschlossen und über einen breiten offenstehenden Zugang zu betreten gewesen sei. Damit ist sie ihrer Pflicht nicht gerecht geworden, alle für die Beurteilung einer schutzlosen Lage relevanten Umstände einzubeziehen und in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Sie hat schon nicht ersichtlich berücksichtigt, dass der Angeklagte, der die zwölfjährige Geschädigte vor dem einmaligen persönlichen Treffen nach ihren sexuellen Erfahrungen befragt hatte, sie über einen Trampelpfad zu der verfallenen Fabrik führte. Dies spricht dafür, dass der Angeklagte gezielt die abseits gelegene Gebäuderuine aufsuchte, um den sexuellen Übergriff an einem Ort zu begehen, an dem die Geschädigte nicht auf die Hilfe Dritter hoffen konnte. Zudem hätte das Landgericht den Altersunterschied zwischen dem fast 18 Jahre alten Angeklagten und der erst zwölfjährigen Geschädigten einbeziehen müssen, weil es sich angesichts der danach naheliegenden körperlichen Überlegenheit des Angeklagten jedenfalls nicht von selbst versteht, dass sich die Geschädigte dessen möglichen Gewalteinwirkungen hätte erfolgversprechend körperlich widersetzen können. Ob sie sich dem Angeklagten durch Flucht hätte entziehen können, kann der Senat schon mangels näherer Schilderung der örtlichen Verhältnisse am eigentlichen Tatort (ein Raum im Innern des Fabrikgebäudes) nicht nachprüfen. Außerdem lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, ob der Angeklagte die Geschädigte nur beim Betreten des Gebäudes am Handgelenk genommen hatte oder das Mädchen bis zum Erreichen des Raumes festhielt. Schließlich hätte die Jugendkammer auch insoweit berücksichtigen müssen, dass die Geschädigte nach ihren - vom Landgericht als glaubhaft bewerteten - Angaben „wie gelähmt“ und „ihre Muskeln … wie eingefroren“ waren und sie „wie in Schockstarre verfallen“ war.
bb) Die Ablehnung einer kausalen Verbindung zwischen der („etwaigen“) Schutzlosigkeit und dem Verhalten der Geschädigten ist ebenfalls rechtsfehlerhaft. Die Jugendkammer hat ihre Auffassung - im Eigentlichen hilfsweise - lediglich damit begründet, dass sie „aus den glaubhaften Bekundungen“ der Geschädigten „diesbezügliche Feststellungen … nicht treffen“ hat können. Es mangelt mithin auch insofern an der erforderlichen Gesamtwürdigung aller hierfür bedeutenden Umstände.
3. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Das gilt auch, soweit das Landgericht den Angeklagten in beiden Fällen - für sich genommen rechtsfehlerfrei - wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig gesprochen hat, weil diese Schuldsprüche jeweils rechtlich mit einer Verurteilung wegen Vergewaltigung zusammenträfen.
Die für sich genommen rechtsfehlerfreien Feststellungen hat der Senat gleichwohl aufgehoben, um der zur neuen Entscheidung berufenen Jugendkammer widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.
Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.
Die Verfahrensrüge erweist sich aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift aufgezeigten Gründen als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Überprüfung des Urteils auf die vom Angeklagten erhobene Sachrüge deckt keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 39
Bearbeiter: Christian Becker