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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1007

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 143/23, Beschluss v. 10.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1007


BGH 5 StR 143/23 - Beschluss vom 10. Juli 2023 (LG Berlin)

Freiheitsberaubung (Behinderung in der Fortbewegungsfreiheit als Mittel zur Begehung eines anderen Deliktes); Reichweite der verjährungsunterbrechenden Wirkung der ersten Beschuldigtenvernehmung (Tat; historisches Geschehen; Maßgeblichkeit des Verfolgungswillens).

§ 239 StGB; § 78c Abs. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bildet die Behinderung in der Fortbewegungsfreiheit lediglich das tatbestandsmäßige Mittel zur Begehung eines anderen Deliktes (hier: einer Vergewaltigung) und geht nicht über das hinaus, was zu dessen Verwirklichung dient, kommt § 239 StGB als das allgemeinere Delikt nicht zur Anwendung.

2. Die Wirkung einer Unterbrechungshandlung nach § 78c Abs. 1 StGB erstreckt sich grundsätzlich auf die Tat als ein „historisches“ oder „konkretes“ Geschehen. Dabei braucht dieses Geschehen noch nicht in allen Einzelheiten, die zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens oft erst noch geklärt werden müssen, festzustehen. Ausreichend und insoweit auch erforderlich sind jedoch Anhaltspunkte, die es von denkbaren anderen ähnlichen oder gleichartigen Lebenssachverhalten unterscheiden. Maßgeblich ist der im Zeitpunkt der Untersuchungshandlung aktenkundige geschichtliche Vorgang, der vom Verfolgungswillen der Ermittlungsbehörden umfasst ist.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 15. November 2022

im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte

im Fall II.5 der Urteilsgründe der Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung schuldig ist; die tateinheitliche Verurteilung wegen Freiheitsberaubung entfällt;

im Fall II.9 der Urteilsgründe der Bedrohung schuldig ist; die tateinheitliche Verurteilung wegen Beleidigung entfällt;

im Ausspruch über die Einzelstrafen in den Fällen II.5 und II.9 der Urteilsgründe und im Gesamtstrafausspruch aufgehoben.

Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen (II.5 und II.6), davon in einem Fall in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und vorsätzlicher Körperverletzung (II.5), gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung (II.2) und in zwei Fällen in Tateinheit mit Bedrohung (II.3 und II.7), vorsätzlicher Körperverletzung (II.4), versuchter Nötigung in Tateinheit mit Beleidigung (II.8) und Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung (II.9) unter Einbeziehung einer Einzelstrafe aus einer anderen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und das Verfahren wegen eines weiteren Anklagevorwurfs (II.1) eingestellt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der Schuldspruch im Fall II.5 bedarf der Korrektur; die tateinheitliche Verurteilung wegen Freiheitsberaubung entfällt.

a) Nach den Feststellungen betrat der - zu dieser Zeit von der Nebenklägerin getrennte - Angeklagte an einem Sonnabendmorgen im April oder Mai 2019 das von der Nebenklägerin und den Kindern genutzte Schlafzimmer, in dem diese sich aufhielten. Nachdem er die Kinder hinausgeschickt hatte, schloss er die Tür von innen ab und legte den Schlüssel, für die Nebenklägerin unerreichbar, auf den Kleiderschrank. Da die auf dem Bett sitzende Nebenklägerin seinen Versuch, sie zu küssen, abgewehrt und ihn weggestoßen hatte, versetzte er ihr eine schmerzhafte Ohrfeige und bezeichnete sie mit herabwürdigenden Worten. Gegen ihren Widerstand zog er ihr anschließend die Hose aus und riss ihren Slip weg. Ihre Versuche, sich zu erheben, unterband er, schubste sie auf das Bett zurück und legte sich auf sie. Nachdem er seine Hose heruntergezogen hatte, führte er gegen den erklärten Willen der Nebenklägerin sowie den von ihr geleisteten Widerstand überwindend den vaginalen Geschlechtsverkehr durch, wobei er außerhalb der Scheide ejakulierte. Anschließend öffnete er die Schlafzimmertür und ging ins Bad.

b) Das Landgericht hat den Sachverhalt als schweren sexuellen Übergriff (Vergewaltigung) in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und vorsätzlicher Körperverletzung gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 und Abs. 6 Nr. 1, § 239 Abs. 1 und § 223 Abs. 1 StGB gewertet. Die tateinheitliche Verurteilung wegen Freiheitsberaubung hält revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand.

Bildet die Behinderung in der Fortbewegungsfreiheit lediglich das tatbestandsmäßige Mittel zur Begehung eines anderen Deliktes und geht nicht über das hinaus, was zu dessen Verwirklichung dient, kommt § 239 StGB als das allgemeinere Delikt nicht zur Anwendung (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Februar 2019 - 3 StR 14/19; vom 15. November 2006 - 2 StR 447/06; vom 1. Oktober 1998 - 4 StR 347/98; vom 8. Juni 1995 - 4 StR 262/95; vom 7. Juni 1994 - 1 StR 281/94, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Konkurrenzen 10; vom 19. Juni 1991 - 3 StR 172/91, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Konkurrenzen 8; Urteil vom 3. August 1962 - 4 StR 155/62, BGHSt 18, 26 f.).

Das ist hier der Fall. Die Freiheitsberaubung war Mittel der Verwirklichung der Vergewaltigung und ging nicht über das hierfür Erforderliche hinaus. Die tateinheitliche Verurteilung wegen Freiheitsberaubung hat daher zu entfallen. Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend.

2. Soweit das Landgericht den Angeklagten im Fall II.9 wegen tateinheitlicher Beleidigung verurteilt hat, fehlt es an dem gemäß § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB erforderlichen Strafantrag der Nebenklägerin als der Verletzten, weshalb dieser Schuldspruch zu entfallen hat.

Der Strafantrag ihrer Rechtsanwältin vom 13. November 2020, auf den der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift Bezug genommen hat, betraf inhaltlich nicht die im Fall II.9 abgeurteilte Tat vom 18. November 2020; dies ist bereits in zeitlicher Hinsicht ausgeschlossen. Auch ein weiterer Strafantrag vom 15. Dezember 2020 bezog sich auf eine andere, hier nicht verfahrensgegenständliche Tat. Die Strafanzeige der Nebenklägerin vom 14. Januar 2021 macht zwar insoweit ein hinreichendes Strafverfolgungsverlangen deutlich (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 1995 - 2 StR 462/94, NStZ 1995, 353 f.), ist jedoch nicht von ihr unterzeichnet, sondern erst im Nachhinein am 10. Februar 2021 von einem Polizeibeamten auf Grund ihrer Angaben abgefasst und unterschrieben worden und erfüllt damit nicht die formellen Voraussetzungen eines wirksamen Strafantrags gemäß § 158 Abs. 2 StPO (vgl. BayObLG, Beschluss vom 21. Juli 1993 - 2 St RR 91/93, NStZ 1994, 86; MüKoStPO/Kölbel, § 158 Rn. 46; KKStPO/Weingarten, 9. Aufl., § 158 Rn. 45 und 45a; BeckOK StPO/Goers, 47. Ed., § 158 Rn. 49; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 66. Aufl., § 158 Rn. 11).

3. Der Verurteilung im Fall II.2 wegen tateinheitlich begangener Nötigung steht kein Verfahrenshindernis entgegen. Verfolgungsverjährung ist nicht eingetreten.

Die fünfjährige Verjährungsfrist des § 78 Abs. 2 Nr. 4 StGB begann frühestens im „Sommer 2016“ und ist jedenfalls durch die Vorladung des Angeklagten vom 31. Januar 2021 zu seiner ersten Beschuldigtenvernehmung gemäß § 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB unterbrochen worden. Hierbei handelte es sich um eine wirksame Anordnung im Sinne des § 78c Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz StGB, deren Zeitpunkt und Inhalt sich aus den Ermittlungsakten ergaben, so dass sich der behördliche Wille zur Vornahme einer Unterbrechungshandlung mit Gewissheit feststellen ließ (zu den Anforderungen vgl. BGH, Beschluss vom 10. August 2017 - 1 StR 218/17, NStZ 2019, 602 f.).

Dass die Nebenklägerin erstmals in einer Vernehmung am 25. Juni 2021 Einzelheiten zum Nötigungszweck mitteilte und der Tatbestand der Nötigung in der Ladung nicht genannt wurde, steht der Unterbrechungswirkung nicht entgegen. Insoweit gilt: Die Wirkung einer Unterbrechungshandlung nach § 78c Abs. 1 StGB erstreckt sich grundsätzlich auf die Tat als ein „historisches“ oder „konkretes“ Geschehen (BGH, Urteil vom 14. Juni 2000 - 3 StR 94/00, BGHR StGB § 78 Abs. 1 Tat 3; Beschluss vom 12. März 1968 - 5 StR 115/68, BGHSt 22, 105, 106; Urteil vom 20. Mai 1969 - 5 StR 658/68, BGHSt 22, 375, 385). Dabei braucht dieses Geschehen noch nicht in allen Einzelheiten, die zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens oft erst noch geklärt werden müssen, festzustehen. Ausreichend und insoweit auch erforderlich sind jedoch Anhaltspunkte, die es von denkbaren anderen ähnlichen oder gleichartigen Lebenssachverhalten unterscheiden (BGH aaO; Beschluss vom 8. September 2020 - 4 StR 75/20, NStZ 2021, 222 f.). Solche Anhaltspunkte liegen hier vor.

Die Nebenklägerin hatte schon in ihrer polizeilichen Vernehmung vom 17. Juni 2020 Angaben zum Tatgeschehen gemacht und bereits konkrete Körperverletzungshandlungen sowie die - mit der festgestellten Nötigung untrennbar im Zusammenhang stehende - Bedrohung mit einem Messer geschildert. Die Anordnung der Ladung des Angeklagten zur Beschuldigtenvernehmung vom 31. Januar 2021 zu den Tatvorwürfen der „Vergewaltigung, gefährlichen Körperverletzung, Bedrohung, Körperverletzung“, begangen im Zeitraum „zwischen dem 01.01.2016 [...] und dem 20.03.2020 […]“, erfasste das Geschehen in seiner Gesamtheit. Die Nötigung war ein Teil des im Zeitpunkt der Untersuchungshandlung aktenkundigen geschichtlichen Vorgangs und damit vom Verfolgungswillen der Ermittlungsbehörden umfasst (zur Maßgeblichkeit und der Bestimmung des Verfolgungswillens vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. März 2022 - 2 StR 151/21, NStZ-RR 2022, 241; vom 8. September 2020 - 4 StR 75/20, NStZ 2021, 222 f.; vom 25. Juni 2015 - 1 StR 579/14, NZWiSt 2015, 460; vom 8. Februar 2011 - 1 StR 490/10, BGHSt 56, 146, 152 f.; Urteil vom 14. Juni 2000 - 3 StR 94/00, BGHR StGB § 78 Abs. 1 Tat 3).

4. Der Wegfall der tateinheitlichen Verurteilungen wegen Freiheitsberaubung im Fall II.5 und wegen Beleidigung im Fall II.9 entzieht den insoweit verhängten Einzelstrafen die Grundlage. Das Landgericht hat jeweils die tateinheitliche Verwirklichung der hier bezeichneten Straftatbestände strafschärfend berücksichtigt. Aufgrund des Wegfalls der verhängten Einzelstrafen von drei Jahren und drei Monaten (II.5) und neunzig Tagessätzen (II.9) kann auch der Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe keinen Bestand haben. Die Sache bedarf insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Aufhebung der Feststellungen bedarf es insoweit nicht, weil diese von den Rechtsfehlern nicht betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO); sie können um solche Feststellungen ergänzt werden, die den bisherigen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1007

Bearbeiter: Christian Becker