HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 917
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 47/22, Beschluss v. 03.08.2022, HRRS 2022 Nr. 917
Die Revisionen der Angeklagten B. und Bo. gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 11. Juni 2021 werden jeweils mit der Maßgabe verworfen, dass
gegen die Angeklagten als Gesamtschuldner die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 148.715 Euro angeordnet ist und der weitergehende Ausspruch über die Einziehung des Wertes von Taterträgen entfällt,
der von den Angeklagten als Gesamtschuldner an die Adhäsionsklägerin zu zahlende Betrag auf 148.715 Euro herabgesetzt und im Übrigen von einer Entscheidung im Adhäsionsverfahren abgesehen wird.
Die Revision des Angeklagten O. gegen das vorbenannte Urteil wird mit der Maßgabe verworfen, dass
gegen den Angeklagten die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 264.410 Euro - in Höhe eines Teilbetrags von 74.375,50 Euro als Gesamtschuldner - angeordnet ist,
der vom Angeklagten an die Adhäsionsklägerin zu zahlende Betrag auf 528.784 Euro - in Höhe von 148.715 Euro als Gesamtschuldner - herabgesetzt und im Übrigen von einer Entscheidung im Adhäsionsverfahren abgesehen wird.
Die Revision des Angeklagten K. gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 11. Juni 2021 wird verworfen.
Die Beschwerdeführer haben die jeweiligen Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen. Die Angeklagten B., Bo. und O. haben die durch das Adhäsionsverfahren entstandenen besonderen Kosten und die dem Adhäsionskläger durch ihre Rechtsmittel im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten K. wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges in 29 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Gegen die Angeklagten B. und Bo. hat es wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges in zehn Fällen jeweils eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verhängt. Den Angeklagten O. hat es wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges in 39 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Bei allen Angeklagten hat das Landgericht wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung jeweils einen Monat der Strafen für vollstreckt erklärt.
Darüber hinaus hat das Landgericht Einziehungs- und Adhäsionsentscheidungen getroffen.
Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten B., Bo. und O. führen zu der aus der Beschlussformel ersichtlichen Korrektur der Einziehungs- und Adhäsionsentscheidungen; im Übrigen sind die Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Hinsichtlich des Angeklagten K. hat die Nachprüfung des Urteils keinen diesen benachteiligenden Rechtsfehler ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
Die Verfahrensrügen dringen nicht durch.
1. Die von allen Angeklagten erhobenen Rügen einer Verletzung von § 229 Abs. 1 und 4 StPO, weil im Hauptverhandlungstermin vom 27. November 2020 nicht verhandelt worden sei, sind unbegründet.
a) Den Rügen liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Der betreffende Hauptverhandlungstermin begann um 9 Uhr. Zu Beginn teilte der Mitangeklagte F. der Strafkammer seine neue Wohnanschrift mit. Anschließend ordnete die Vorsitzende die Fortsetzung der Vernehmung des vor dem Sitzungssaal wartenden Zeugen S. an. Bevor diese begonnen werden konnte, wurden auf Initiative eines Verteidigers der Inhalt bereits gestellter Ablehnungsgesuche sowie die Frage erörtert, inwieweit Mitangeklagte sich den entsprechenden Anträgen angeschlossen haben. Währenddessen wurde Feueralarm ausgelöst, weshalb das Gerichtsgebäude geräumt werden musste. Grund hierfür war ein Kabelbrand, der auch zu einem Stromausfall führte. Angesichts dessen regten mehrere Verteidiger die Vertagung der Hauptverhandlung an. Die Vorsitzende ordnete indes um 9.40 Uhr lediglich die Unterbrechung bis 11 Uhr an; anschließend sollte der Zeuge S. vernommen werden.
Die Hauptverhandlung konnte allerdings an diesem Tag nicht wie beabsichtigt fortgesetzt werden, weil der Sitzungssaal im weiteren Verlauf durch die Feuerwehr, die den Brandherd in diesem Raum vermutete, gesperrt wurde und ein Ausweichsaal nicht verfügbar war. Die Vorsitzende erklärte die Hauptverhandlung an diesem Tag deswegen um 11.10 Uhr für beendet. Die Verfahrensbeteiligten wurden vor dem Sitzungssaal entlassen. Der nächste Hauptverhandlungstag fand am 11. Dezember 2020 statt.
b) Die Rügen sind unbegründet.
aa) Eine Hauptverhandlung gilt im Sinne des § 229 Abs. 4 Satz 1 StPO als fortgesetzt und muss demgemäß nicht ausgesetzt werden, wenn in einem Fortsetzungstermin zur Sache verhandelt wird. Das ist der Fall, wenn Prozesshandlungen vorgenommen werden oder Erörterungen zu Sach- oder Verfahrensfragen stattfinden, die geeignet sind, das Verfahren inhaltlich auf den Urteilsspruch hin zu fördern und die Sache ihrem Abschluss substantiell näher zu bringen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 - 5 StR 496/20, NStZ 2021, 381).
Indes kann auch in der Befassung lediglich mit Verfahrensfragen eine Förderung des Verfahrens in der Sache liegen, wenn deren Ziel die Klärung ist, durch welche Untersuchungshandlungen der Aufklärung des Sachverhalts Fortgang gegeben werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn die für den Fortsetzungstermin in Aussicht genommene sonstige Förderung des Verfahrens infolge unvorhersehbarer Ereignisse nicht stattfinden kann. Denn es sind regelmäßig Situationen vorstellbar, in denen eine Hauptverhandlung aufgrund solcher Geschehnisse nur in wesentlich geringerem Umfang als geplant, möglicherweise sogar nur durch eine Entscheidung über die Unterbrechung des Verfahrens nach § 228 StPO gefördert werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2017 - 3 StR 262/17, NStZ 2018, 297, 298 mwN).
bb) Danach wurde in der Sitzung vom 27. November 2020 zur Sache verhandelt. Die Hauptverhandlung sollte an diesem Tag um 9 Uhr mit der Vernehmung eines Zeugen fortgesetzt werden. Nur aufgrund einer auf einen Verteidiger zurückgehenden Erörterung bereits vorliegender Ablehnungsgesuche konnte der Zeuge nicht unmittelbar nach Sitzungsbeginn vernommen werden. Anders als von der Verteidigung erbeten, unterbrach die Vorsitzende nach der infolge des Feueralarms angeordneten Räumung des Gerichtsgebäudes die Sitzung lediglich für eine Stunde und zwanzig Minuten, um anschließend die für diesen Verhandlungstag geplante Beweisaufnahme durchzuführen. Dass dies letztlich nicht möglich war, lag nicht in der Macht der Strafkammer, sondern daran, dass die Feuerwehr den Sitzungsraum gesperrt und kein Ausweichsaal zur Verfügung gestanden hatte. Unter diesen - unvorhersehbaren - Umständen konnte die Strafsache ihrem Abschluss nur durch die Anordnung der Unterbrechung der Hauptverhandlung nach § 228 StPO substantiell näher gebracht werden. Andernfalls hätte die Hauptverhandlung allein aufgrund eines unvorhersehbaren Ereignisses ausgesetzt und mit ihr von neuem begonnen werden müssen (§ 229 Abs. 4 Satz 1 StPO). Dies stünde aber weder mit der Verfahrensökonomie noch mit dem Anspruch des Angeklagten auf einen zügigen Abschluss des Verfahrens in Einklang (vgl. BGH aaO).
2. Die weiteren von den Angeklagten B. und Bo. erhobenen Verfahrensrügen dringen aus den vom Generalbundesanwalt in seiner jeweiligen Antragsschrift genannten Gründen nicht durch.
a) Soweit die Angeklagten B. und Bo. eine Verletzung von § 261 StPO beanstanden, weil das Landgericht im Urteil Urkunden verwertet habe, die unter Verstoß gegen die Regelungen zum Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO eingeführt worden seien, sind die Rügen unbegründet. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer hat die Strafkammer die Urkunden, die im Wege des Selbstleseverfahrens eingeführt worden sind, hinreichend bestimmt bezeichnet. Der Senat kann daher offenlassen, ob den Angeklagten - ungeachtet der vom Generalbundesanwalt insoweit vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit eines solchen Gesuchs - auf ihren Antrag vom 29. April 2022 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Ergänzung der Verfahrensrüge hätte gewährt werden können (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 29. Oktober 2021 - 5 StR 443/19 Rn. 26; Beschluss vom 24. Oktober 2018 - 2 StR 578/16, NStZ-RR 2019, 25).
Die Selbstleseanordnung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Insofern gilt: Urkunden, die im Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO eingeführt werden, sind im Hauptverhandlungsprotokoll zu bezeichnen (§ 273 Abs. 1 StPO). Bei wie hier umfangreichen Konvoluten müssen die Urkunden in der Anordnung nicht einzeln benannt werden. Es genügt, dass sie identifizierbar sind. Die Urkunden sind so zu bezeichnen, dass sie von den Verfahrensbeteiligten ohne weiteres individualisiert werden können und keine Missverständnisse auftreten (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2022 - 5 StR 243/21, NStZ-RR 2022, 143, 144). Diesen Anforderungen wird die von den Beschwerdeführern beanstandete Selbstleseanordnung gerecht. Die für das Selbstleseverfahren vorgesehenen Sonderbände sind bei vollständiger Einbeziehung mit der Gesamtblattzahl oder bei teilweiser Einbeziehung unter Benennung der erfassten Seitenzahlen des betroffenen Aktenbandes bezeichnet. Damit ist dem Bestimmbarkeitserfordernis Genüge getan; Zweifel über den Umfang der Selbstlesung konnten daher nicht aufkommen.
b) Soweit die Angeklagten die Verletzung des § 244 Abs. 3 StPO rügen, weil das Landgericht einem Beweisantrag bezüglich einer späteren Schadensminderung durch Bezug von Steuererstattungen nicht nachgekommen sei, erweist sich die Rüge ebenfalls als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dem als Zeugen benannten Steuerberater stand als Berufsgeheimnisträger nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht zu; bei einem unbefugten Offenbaren der in dem Antrag aufgestellten Behauptungen hätte er sich nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar gemacht. Der als Zeuge benannte zuständige Finanzbeamte unterlag nach § 30 Abs. 1 und 2 AO dem Steuergeheimnis; bei einem unbefugten Offenbaren der in dem Antrag aufgestellten Behauptungen hätte er sich nach § 355 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Die Zulässigkeit ihrer Vernehmung (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 244 Rn. 66) hing mithin davon ab, ob die Geschädigte die Zeugen von der Schweigepflicht entbunden hatte. Hierzu verhalten sich die Beschwerdeführer indes nicht.
Die Überprüfung des Urteils auf die Sachrügen hin hat keine die Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler zum Schuld- und Strafausspruch ergeben. Die Einziehungs- und Adhäsionsentscheidungen hinsichtlich der Angeklagten B., Bo. und O. bedürfen hingegen der Korrektur.
Die Angeklagten B. und Bo. betreffend hat der Generalbundesanwalt ausgeführt:
Bei der Berechnung des Wertes der Taterträge ist das Landgericht versehentlich zu einem Geldbetrag von 148.751 Euro statt lediglich von 148.715 Euro gelangt. Der Senat wird den Einziehungsausspruch ändern und dabei einen Gesamtbetrag festsetzen können, weil es für den Einziehungsausspruch nicht darauf ankommt, mit wem der [die] Angeklagte als Gesamtschuldner[in] haftet. Derselbe Rechenfehler ist dem Landgericht bei dem der Adhäsionsklägerin zugesprochenen Betrag unterlaufen.
Den Angeklagten O. betreffend hat der Generalbundesanwalt ausgeführt:
Soweit das Landgericht den Wert der Erträge aus den Taten 1 bis 30 [mit] 380.069 Euro statt [mit] 389.329 Euro berechnet hat, wirken sich das Übersehen eines Teils der Erträge aus der Tat 29 (8.450 Euro) und ein zusätzlicher Rechenfehler (810 Euro) ausschließlich zugunsten des Angeklagten aus. Demgegenüber ist das Landgericht bei der Berechnung des Wertes der Erträge aus den Taten 31 bis 40 zu einem Geldbetrag von 148.751 Euro statt lediglich von 148.715 Euro gelangt. Da das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht für die Berichtigung bloßer Rechenfehler bei der Bestimmung eines Gesamtbetrags gilt (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2022 - 3 StR 415/21, juris Rn. 15), wird der Senat es bei dem ausgeurteilten Gesamtbetrag von 264.410 Euro (= 74.375,50 Euro + 190.034,50 Euro < 74.357,50 Euro + 380.879 Euro / 2) belassen können. Die dem Angeklagten günstige gesamtschuldnerische Haftung in Höhe eines Teilbetrags von 74.375,50 Euro muss dem Angeklagten erhalten bleiben. Allerdings betrifft der oben genannte Rechenfehler (148.751 Euro statt lediglich 148.715 Euro) auch den Adhäsionsausspruch, weshalb der zugesprochene Betrag herabzusetzen sein wird.
Dem schließt sich der Senat an.
Im Übrigen hat die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 StPO. Angesichts des geringen Erfolgs der Revisionen der Angeklagten B., Bo. und O. (Reduzierung des vom Landgericht angeordneten Einziehungsbetrages von 148.751 und 528.820 Euro um jeweils 18 19 20 21 36 Euro) ist es nicht unbillig, die Angeklagten mit den gesamten Kosten ihrer Rechtsmittel zu belasten (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2022 - 5 StR 106/22).
Die das Adhäsionsverfahren betreffende Kosten- und Auslagenentscheidung ergibt sich aus § 472a Abs. 1 und 2 StPO.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 917
Bearbeiter: Christian Becker