HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 708
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 28/22, Beschluss v. 10.05.2022, HRRS 2022 Nr. 708
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 13. September 2021 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen im Schuldspruch im Fall II.2 der Urteilsgründe und im Strafausspruch aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die Revision der Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO unbegründet.
1. Nach den Feststellungen der Schwurgerichtskammer verabreichte die bislang unbestrafte Angeklagte, Mutter von drei Kindern und von Beruf Krankenschwester, am 28. und 29. Dezember 2020 ihrer vierjährigen Tochter M. anlässlich eines Aufenthalts in zwei Kinderkrankenhäusern heimlich und ohne medizinische Indikation die Benzodiazepine Midazolam und Diazepam sowie das Schlafmittel Zopiclon. Die Gabe des für Kinder nicht zugelassenen Schlafmittels Zopiclon im Fall II.2 der Urteilsgründe erfolgte in Kombination mit dem Benzodiazepin in einer potentiell lebensgefährlichen Dosis. Eine tödliche Folge nahm sie in diesem Fall billigend in Kauf. Für das Kind bestand keine akute Lebensgefahr, sondern die Substanzen bauten sich auf natürliche Weise folgenlos wieder ab.
2. Der Schuldspruch im Fall II.1 der Urteilsgründe wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil von M. am 28. Dezember 2020 weist keinen Rechtsfehler auf.
3. Demgegenüber ist die Annahme von Tötungsvorsatz im Fall II.2 der Urteilsgründe auch eingedenk des eingeschränkten Überprüfungsmaßstabs des Revisionsgerichts rechtsfehlerhaft begründet, was - wie im Ergebnis auch vom Generalbundesanwalt beantragt - zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Mordes führt.
a) Liegt die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes nicht wegen einer hohen und zudem anschaulich konkreten Lebensgefährlichkeit der Tatausführung nahe, ohne dass der Täter tatsachenbasiert auf einen glücklichen Ausgang vertrauen kann (vgl. BGH, Urteile vom 12. Dezember 2018 - 5 StR 517/18, NStZ 2019, 208: Brandstiftung in bewohntem Haus; vom 4. März 2021 - 5 StR 509/20, NStZ 2022, 224: Schubsen ins Gleisbett einer einfahrenden U-Bahn; vom 28. April 2021 - 5 StR 500/20, NStZ 2022, 40: Messerschnitte gegen den Hals), bedarf es zur Abgrenzung von bewusster Fahrlässigkeit regelmäßig einer umfassenden Gesamtwürdigung aller für und gegen einen Tötungsvorsatz sprechenden Umstände (vgl. BGH, Urteil vom 19. August 2020 - 1 StR 474/19, NJW 2021, 326 mwN).
b) Dem werden die Ausführungen der Strafkammer nicht gerecht.
Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, der Angeklagten sei aufgrund ihrer Berufserfahrung die Wirkweise der verabreichten Medikamente bekannt gewesen. Die kombinierte Gabe von Diazepam mit dem nur für Erwachsene zugelassenen Schlafmittel Zopiclon habe das Kind im Fall II.2 der Urteilsgründe in potentielle Lebensgefahr gebracht, da es keine Studien und Erfahrungswerte bezüglich der Auswirkung auf den kindlichen Organismus gebe. Damit sei das kognitive Element des Tötungsvorsatzes belegt. Das voluntative Element ergebe sich daraus, dass die Angeklagte nicht tatsachenfundiert auf das Ausbleiben des Todeseintritts habe vertrauen können. Die Wirkung der Medikamente sei in keiner Weise vorhersehbar gewesen. Dies gelte insbesondere für die kombinierte Verabreichung des Benzodiazepins Diazepam mit dem für Kinder nicht zugelassenen zentralwirksamen Sedativum Zopiclon in einer selbst für Erwachsene potentiell toxischen Konzentration. Vorsatzkritische Umstände wie eine eigene Intoxikation der Angeklagten, eine emotionale Ausnahmesituation oder anderweitige seelische Not seien durch die Beweisaufnahme nicht deutlich geworden. Indem die Angeklagte trotz der Lebensgefährlichkeit ihres Tuns gehandelt habe, habe sie es darauf ankommen lassen und sich mit den Folgen ihres Handelns, auch mit einem möglichen Todeseintritt, abgefunden. Für die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes bedürfe es keines Tötungsmotivs, er sei mit Blick auf die hohe Gefährlichkeit des Handelns selbst dann gegeben, wenn der Erfolg nicht gewünscht gewesen sei.
Hierbei hat die Strafkammer von ihr festgestellte, gegen einen Tötungsvorsatz sprechende Umstände nicht in die gebotene Gesamtwürdigung eingestellt: Die Angeklagte kümmerte sich bis zur Tat liebevoll und fürsorglich um ihre Kinder, insbesondere auch um die aufgrund einer Frühgeburt zu 80 % schwerbehinderte M. ; ein - in Fällen von Eventualvorsatz regelmäßig typisches - außertatbestandliches Motiv für ihr Handeln ist nicht ersichtlich; aufgrund der am 28. und 29. Dezember 2020 abgenommenen Urin- und Blutproben war - für sie als Krankenschwester ersichtlich - mit einer baldigen Tatentdeckung zu rechnen. Das Landgericht konnte auf die Erörterung dieser Umstände und die gebotene Gesamtwürdigung auch nicht wegen einer hohen und zudem anschaulich konkreten Lebensgefährlichkeit der Tatausführung verzichten. Anders als bei gemeingefährlichen Handlungen oder Gewalttaten, bei denen aus der konkreten Lebensgefährlichkeit regelmäßig auf den Tötungsvorsatz geschlossen werden kann, trifft dies auf die Gabe von Medikamenten, deren Auswirkungen auf Kinder auch in ihrer Wechselwirkung untereinander gerade noch nicht erforscht und deshalb nicht beherrschbar sind, nicht in gleicher Weise zu.
c) Auf die zur Frage des Tötungsvorsatzes erhobenen Verfahrensrügen kommt es demnach ebenso wenig an wie auf die Erwägungen des Generalbundesanwalts zu einem Rücktritt vom Mordversuch, der auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Landgerichts allerdings nicht als Vollendungsverhinderung durch Ingangsetzen eines rettenden Kausalverlaufs nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB, sondern als (unerkannt) untauglicher Versuch nach § 24 Abs. 1 Satz 2 StGB zu beurteilen wäre (vgl. SSWStGB/Kudlich/Schuhr, 5. Aufl., § 24 Rn. 47), da die Medikamentengabe den Todeserfolg nicht herbeizuführen geeignet war, sondern M. von selbst wieder genesen ist.
4. Die Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Mordes zieht auch die Aufhebung des - für sich gesehen rechtsfehlerfreien - tateinheitlichen Schuldspruchs wegen gefährlicher Körperverletzung nach sich.
5. Dies führt auch zum Wegfall der für Fall II.1 verhängten Einzelstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, weil das Landgericht bei der Zumessung dieser Strafe ausdrücklich die Begehung einer weiteren Tat am Folgetag (Fall II.2 der Urteilsgründe) strafschärfend berücksichtigt hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 708
Bearbeiter: Christian Becker