HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1168
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 261/22, Beschluss v. 27.09.2022, HRRS 2022 Nr. 1168
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 28. März 2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist; ausgenommen sind die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und ihn im Übrigen wegen drei weiterer Tatvorwürfe der Vergewaltigung zulasten anderer Geschädigter freigesprochen. Das mit der Sachrüge geführte Rechtsmittel des Angeklagten hat weitgehend Erfolg.
1. Nach den Feststellungen vollzog der 36-jährige Angeklagte an der damals 13-jährigen Geschädigten den ungeschützten Oral. und Vaginalverkehr, wobei er es - ungeachtet ihrer Angabe, 15 Jahre alt zu sein - für möglich hielt, dass sie noch keine 14 Jahre alt war. Nach Auffassung des Landgerichts „konnte“ sich der Angeklagte auf die Altersangabe der Geschädigten wegen ihres (kindlichen) Gesamteindrucks nicht verlassen. Als Tätowierer sei ihm bekannt gewesen, dass junge Mädchen sich häufig älter darstellten, als sie sind. Er habe daher, als er den Geschlechtsverkehr mit ihr ausübte, zumindest billigend in Kauf genommen, dass sie noch ein Kind war.
2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern kann keinen Bestand haben. Die Annahme bedingten Vorsatzes des Angeklagten hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Feststellung, dass er das kindliche Alter der Geschädigten im Tatzeitpunkt billigend in Kauf genommen hat, ist nicht beweiswürdigend unterlegt (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 1952 - 4 StR 440/52, NJW 1953, 152 f.; Beschluss vom 29. Oktober 2002 - 3 StR 358/02 Rn. 4).
a) Zwar obliegt die Würdigung der Beweise dem Tatgericht. Seine tatsächlichen Schlüsse müssen nicht zwingend sein; es genügt, dass sie möglich sind und das Tatgericht von ihrer Richtigkeit überzeugt ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2020 - 5 StR 14/20, NJW 2020, 2741 f. mwN). Ein Rechtsfehler liegt jedoch vor, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, unklar oder widersprüchlich ist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht, sich so weit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen (vgl. BGH aaO), oder wenn sie sich auf nicht existierende Erfahrungssätze stützt (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2017 - 2 StR 270/16 Rn. 15 mwN).
b) Solche Rechtsfehler liegen hier in Bezug auf die Feststellungen zum Vorsatz vor.
Den Urteilsgründen lassen sich keine Belege entnehmen, wonach der Angeklagte das kindliche Alter der Geschädigten billigend in Kauf nahm. Auch wenn die Strafkammer sich selbst vom kindlichen Aussehen der Geschädigten zur Tatzeit auf der Grundlage eines Lichtbildes und des persönlichen Eindrucks in der Hauptverhandlung überzeugt haben mag, besagt dieser Umstand für sich genommen nichts zur Vorstellung des Angeklagten bei Tatausführung. Er hatte die Geschädigte vor der Tat nach ihrem Alter gefragt, woraufhin sie ihm „15“ geantwortet hatte. Dass damit mögliche Zweifel an einem jüngeren Alter der Geschädigten nach Auffassung der Strafkammer nicht auszuräumen waren, weil der Angeklagte sich auf die Altersangabe der Geschädigten nicht habe verlassen können, begründet nicht den Vorwurf eines (bedingten) Vorsatzes, sondern lediglich den der Fahrlässigkeit.
Soweit die Strafkammer zudem darauf abgestellt hat, dem Angeklagten sei „als Tätowierer (…) bekannt (gewesen), dass junge Mädchen sich häufig älter darstellen, als sie sind“, stützt sie sich auf einen Erfahrungssatz, der weder allgemein gültig noch durch eine etwaige dahingehende persönliche Erfahrung des Angeklagten belegt ist.
3. Die Rechtsfehler nötigen zur Aufhebung des Urteils, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen, die von den aufgezeigten Rechtsfehlern nicht betroffen sind, können bestehen bleiben und durch ihnen nicht widersprechende Feststellungen ergänzt werden.
4. Das neue Tatgericht wird, sofern es sich von einem Vorsatz des Angeklagten im Sinne der § 176 Abs. 1 Nr. 1, § 176c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a StGB nicht zu überzeugen vermag, den Sachverhalt auch in Hinblick auf eine Strafbarkeit nach § 182 Abs. 2 und 3 Nr. 1 StGB zu würdigen haben.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1168
Bearbeiter: Christian Becker