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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 391

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 394/21, Urteil v. 16.03.2022, HRRS 2022 Nr. 391


BGH 5 StR 394/21 - Urteil vom 16. März 2022 (LG Berlin)

Revisionsgerichtliche Überprüfung der Beweiswürdigung.

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 27. April 2021 wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 65 Euro verurteilt. Hiergegen richtet sich mit der Sachrüge die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, die eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts erstrebt. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist der bislang unbestrafte Angeklagte examinierter Altenpfleger und arbeitete jahrelang als Pflegefachkraft für außerklinische Beatmung. Im November 2019 war er in einer Intensivpflege-WG in B. -T. u.a. für die später verstorbene 83-jährige Patientin K. zuständig. Diese litt an zahlreichen Krankheiten. Während eines Krankenhausaufenthalts im Jahr 2019 hatte sie wegen Altersschwäche einen Luftröhrenschnitt erhalten und wurde seitdem über eine Trachealkanüle mit einem Beatmungsgerät beatmet. Zuletzt hatte der zuständige Lungenarzt Anfang November 2019 angeordnet, dass sie täglich zweimal für zwei bis drei Stunden selbständig atmen sollte, um die Spontan-Atemfähigkeit nicht vollständig einzubüßen.

Am 17. November 2019 hatte K. tagsüber Besuch von Verwandten erhalten. Der im Nachtdienst arbeitende Angeklagte brachte sie gegen 20 Uhr zu Bett. Unter Sauerstoffzufuhr schloss er sie nach Abschalten des Beatmungsgeräts an einen Beatmungsvorsatz, die sogenannte „feuchte Nase“, an, wobei sie zunächst selbständig atmete. Nach einigen Minuten Inhalieren saugte er dadurch gelöstes Sekret aus den oberen Atemwegen ab und schaltete um 20.08 Uhr das Beatmungsgerät ein. Weil seine Patientin beim Atmen noch immer rasselnde Geräusche machte, also immer noch Sekret vorhanden war, schaltete er - was bei kurzen Absaugvorgängen unüblich ist - die Beatmungsmaschine wieder ab und saugte erneut Sekret ab. Grund für die Abschaltung war, dass K. nach seinem Eindruck schon schlief und er sie nicht durch ausströmende Luft oder einen Alarmton wecken wollte.

Nach Absaugen des Sekrets schloss er den Schlauch des Beatmungsgeräts wieder an und verließ das Zimmer, wobei er vergaß, das lebensnotwendige Beatmungsgerät wieder anzuschalten. Kurz darauf verstarb K. infolge der Unterversorgung mit Sauerstoff. Gegen 21 Uhr bemerkte der Angeklagte das Versterben seiner Patientin. Weil ihm angesichts des ausgeschalteten Beatmungsgeräts sofort klar war, dass er für ihren Tod verantwortlich war, geriet er in Panik und täuschte gegenüber einer hinzukommenden Kollegin Ahnungslosigkeit vor.

2. Auch in der Folgezeit stritt der Angeklagte zunächst jedes Fehlverhalten ab und ließ sich erst am ersten Hauptverhandlungstag umfassend zu den Vorwürfen ein. Das Landgericht ist dieser Einlassung gefolgt, weil sie in sich schlüssig und nachvollziehbar sowie mit den üblichen Pflegeabläufen vereinbar sei und nach der Beweisaufnahme kein Motiv für den von der Staatsanwaltschaft angenommenen Heimtückemord habe gefunden werden können; vielmehr hätten Zeugen von einem guten Verhältnis des Angeklagten zu der Verstorbenen berichtet. Dem verschleiernden Nachtatverhalten hat das Landgericht keinen auf einen Tötungsvorsatz hindeutenden Beweiswert zugesprochen.

3. Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten als fahrlässige Tötung durch Unterlassen gemäß §§ 222, 13 Abs. 1 StGB gewertet, von einer Strafrahmenverschiebung nach § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB abgesehen und die Strafe dem Strafrahmen des § 222 StGB entnommen.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft bleibt ohne Erfolg.

1. Die Beweiswürdigung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung stand.

a) Die Würdigung der Beweise obliegt dem Tatgericht. Es ist allein seine Aufgabe, Bedeutung und Gewicht einzelner Indizien in der Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses zu bewerten und sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Seine tatsächlichen Schlüsse müssen nicht zwingend sein. Es genügt, dass sie möglich sind und das Tatgericht von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. Ein Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO) liegt nur vor, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, unklar oder widersprüchlich ist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht, wenn sie sich auf nicht existierende Erfahrungssätze stützt oder sich so weit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 14. April 2020 - 5 StR 14/20, NJW 2020, 2741 mwN).

b) Nach diesen Maßstäben ist die Beweiswürdigung der Schwurgerichtskammer nicht zu beanstanden. Die Staatsanwaltschaft zeigt mit ihrem Rechtsmittel weder revisionsrechtlich beachtliche Lücken noch sonstige Rechtsfehler auf.

Die Beweiswürdigung ist insbesondere nicht lückenhaft. Das Landgericht hat sich vor dem Hintergrund, dass der sachverständig begutachtete Angeklagte keine psychischen Auffälligkeiten aufweist und keinerlei Motiv für eine vorsätzliche Tötung der Verstorbenen ersichtlich ist, in ausreichender Weise mit den für und gegen einen Tötungsvorsatz sprechenden Argumenten auseinandergesetzt. Insbesondere hat es auch eingestellt, dass der hinsichtlich des Beatmungsgeräts besonders geschulte Angeklagte sonst ein sicherer und erfahrener Pfleger ist und sein Vorgehen nicht der „normalen“ Vorgehensweise beim Absaugen von Sekret entsprochen hat.

Soweit die Staatsanwaltschaft die erhobenen Beweise abweichend vom Tatgericht gewürdigt wissen will, kann sie damit in der Revision keinen Erfolg haben. Dass sich der Angeklagte auch zu seiner Absicht, einen weckenden Alarmton durch zeitweises Abschalten des Beatmungsgeräts zu vermeiden, geäußert hat, lässt sich der allgemeinen Wendung, er habe sich den Feststellungen entsprechend eingelassen, entnehmen.

Die missverständliche Formulierung, die Einlassung des Angeklagten habe „nicht widerlegt“ werden können, lässt hier nicht besorgen, dass die Strafkammer für ihre Überzeugungsbildung von einem falschen Maßstab ausgegangen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 2. Februar 2022 - 5 StR 282/21 mwN). Denn in der Sache hat das Schwurgericht die Einlassung des Angeklagten auf ihre Glaubhaftigkeit hin überprüft und sodann mit den übrigen Beweisergebnissen abgeglichen.

2. Revisionsrechtlich relevante Mängel bei der Strafzumessung zu Gunsten des Angeklagten zeigt die Staatsanwaltschaft nicht auf.

3. Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten (vgl. § 301 StPO) hat die Überprüfung des Urteils nicht ergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 391

Bearbeiter: Christian Becker