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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 232

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 232/21, Beschluss v. 28.09.2021, HRRS 2022 Nr. 232


BGH 5 StR 232/21 - Beschluss vom 28. September 2021 (LG Hamburg)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (positive Feststellung der Voraussetzungen; strafrechtliche Relevanz der verminderten Einsichtsfähigkeit erst bei Fehlen der Unrechtseinsicht).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach § 63 StGB darf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war. die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB müssen bei der Maßregelprüfung daher positiv festgestellt sein. Die bloße Möglichkeit ihres Vorliegens genügt nicht.

2. Eine verminderte Einsichtsfähigkeit ist erst dann strafrechtlich von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Unrechtseinsicht zur Folge hat. In diesen Fällen ist der Anwendungsbereich des § 21 StGB, der insoweit nur eine Sonderregelung des Verbotsirrtums darstellt, eröffnet, wenn das Fehlen der Unrechtseinsicht vorwerfbar ist; kann ein solcher Vorwurf nicht erhoben werden, greift § 20 StGB ein. Erkennt der Täter dagegen das Unrecht seiner Tat, handelt er - unbeschadet seiner eingeschränkten Einsichtsfähigkeit - voll schuldhaft.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 24. März 2021 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.

I.

Nach den Urteilsfeststellungen leidet der 56-jährige Beschuldigte seit mehr als 20 Jahren an einer paranoiden Schizophrenie. Zudem besteht seit früher Jugend eine Betäubungsmittelabhängigkeit. Er ist vielfach straffällig geworden. Sein Bundeszentralregisterauszug weist 39 Eintragungen auf. Im Jahr 1999 sprach ihn das Landgericht Lübeck unter anderem vom Vorwurf der Brandstiftung in zwei Fällen frei und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Nach den damaligen Feststellungen war die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten im Tatzeitpunkt infolge der bei ihm bestehenden paranoiden Psychose erheblich vermindert, bei einzelnen Fällen (nicht ausschließbar) aufgehoben. Bis Anfang Februar 2015 war er, unterbrochen durch einige, letztlich widerrufene Bewährungsaussetzungen, im Maßregelvollzug untergebracht. Nach seiner Entlassung - das Beschwerdegericht erklärte die Maßregel mit Beschluss vom 4. Dezember 2014 aus Gründen der Verhältnismäßigkeit für erledigt - lebte er in verschiedenen betreuten Wohneinrichtungen. Er wurde wiederholt zivilrechtlich bzw. nach dem LandesPsychKG zur Krisenintervention untergebracht.

Im Zeitpunkt der Anlasstat war der Beschuldigte seit Monaten ohne festen Wohnsitz. In den späten Abendstunden des 28. November 2020 zündete er innerhalb einer von ihm als Nachtquartier gewählten kleinen ummauerten Freifläche eines bewohnten Anwesens zwischen Haus und Carport einen an der Hauswand lagernden Kaminholzstapel an, weil ihm kalt war. Seine zwischen die Holzscheite gesteckte Kunststoffregenjacke nutzte er als Brandbeschleuniger. Der Holzstapel brannte über seine gesamte Breite. Die Flammen erreichten eine Höhe von bis zu drei Metern. Hitze und Rauchgaseinwirkungen verursachten Beschädigungen am darüber liegenden Fenster und einem holzverkleideten Dachüberstand des Wohngebäudes. Die 90-jährige, zum Tatzeitpunkt im Haus anwesende Bewohnerin, welche das Feuer nicht bemerkt hatte, blieb unversehrt. Es entstand ein Sachschaden in Höhe von etwa 15.000 Euro. Die Schuldfähigkeit des Beschuldigten war aufgrund einer krankhaften seelischen Störung, nämlich einer Exazerbation der bei ihm bestehenden paranoiden Schizophrenie, im Tatzeitpunkt im Sinne von § 20 StGB „nicht ausschließbar“ aufgehoben.

II.

Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB kann keinen Bestand haben, weil deren Voraussetzungen nicht festgestellt sind.

1. Die Strafkammer hat, sachverständig beraten, die Überzeugung gewonnen, dass beim Beschuldigten eine krankhafte seelische Störung in Form einer paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F 20.0) mit Symptomen eines dafür typischen Wahnsystems besteht, flankiert von einer Polytoxikomanie (ICD-10: F 19.2) bezogen auf Alkohol und Cannabis. Darüber hinaus hat der Sachverständige eine durch die langjährige Schizophrenie bedingte Persönlichkeitsdepravation mit sozialem Rückzug, affektiver Instabilität und dissozialen Verhaltensweisen diagnostiziert. Im Tatzeitpunkt habe, so der Sachverständige, „hochwahrscheinlich“ eine akut exazerbierte paranoide Schizophrenie vorgelegen. Die Polytoxikomanie sei dagegen nicht handlungsleitend gewesen. In Abkehr von seiner vorläufigen Einschätzung im schriftlichen vorbereitenden Gutachten hat sich der Sachverständige „nicht mehr daran festhalten lassen wollen“, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten im Tatzeitpunkt aufgehoben oder nicht ausschließbar aufgehoben gewesen sei, weil dieser nicht völlig losgekoppelt von der Realität agiert habe. Vielmehr sei infolge der bei ihm bestehenden Persönlichkeitsdepravation seine Steuerungsfähigkeit mindestens erheblich eingeschränkt, nicht ausschließbar aufgehoben gewesen. Zur Schuldfähigkeit hat die Strafkammer - insoweit vom in der Hauptverhandlung erstatteten Sachverständigengutachten abweichend - festgestellt, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten bei Tatbegehung infolge der paranoiden Schizophrenie „nicht ausschließbar“ aufgehoben und er „nicht ausschließbar“ schuldunfähig gewesen war.

2. Die Anordnung der Unterbringung auf dieser Grundlage stellt sich als rechtsfehlerhaft dar. Die Strafkammer hat nicht bedacht, dass die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB bei der Maßregelprüfung positiv festgestellt sein müssen. Die bloße Möglichkeit ihres Vorliegens genügt nicht. Nach § 63 StGB darf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war (st. Rspr.; BGH, Urteil vom 6. März 1986 - 4 StR 40/86, BGHSt 34, 22, 26 f.; Beschlüsse vom 6. Februar 1997 - 4 StR 672/96, BGHSt 42, 385 f.; vom 10. November 2015 - 3 StR 407/15, NStZ 2016, 402; Beschluss vom 22. Juli 2020 - 1 StR 176/20, StV 2021, 239).

Dass die Unrechtseinsichtsfähigkeit des Beschuldigten bei Ausführung der Anlasstat sicher aufgehoben gewesen war, hat die Strafkammer jedoch nicht festgestellt. Soweit sich aus der Bezugnahme auf das vorbereitende schriftliche Sachverständigengutachten im Urteil ergeben könnte, dass sie (auch) von einer jedenfalls (sicher festgestellten) erheblichen Einschränkung der Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten ausgegangen sein könnte, genügt dies für die Anordnung der Unterbringung nicht. Eine verminderte Einsichtsfähigkeit ist erst dann strafrechtlich von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Unrechtseinsicht zur Folge hat. In diesen Fällen ist der Anwendungsbereich des § 21 StGB, der insoweit nur eine Sonderregelung des Verbotsirrtums darstellt, eröffnet, wenn das Fehlen der Unrechtseinsicht vorwerfbar ist; kann ein solcher Vorwurf nicht erhoben werden, greift § 20 StGB ein (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 6. August 2019 - 3 StR 46/19 Rn. 12 mwN). Erkennt der Täter dagegen das Unrecht seiner Tat, handelt er - unbeschadet seiner eingeschränkten Einsichtsfähigkeit - voll schuldhaft. Zur damit entscheidenden Frage, ob bei dem Beschuldigten die Unrechtseinsicht fehlte, verhält sich das Urteil nicht.

Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts kann der Senat auch unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsfeststellungen nicht die Gewissheit gewinnen, dass sich die Strafkammer jedenfalls sicher von einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit und somit von einer verminderten Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB überzeugt hat. Im Urteil wird vielmehr ausdrücklich betont, dass dem Gutachten des Sachverständigen insoweit nicht gefolgt wird.

3. Der aufgezeigte Mangel zwingt zur Aufhebung des Urteils. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen sind rechtsfehlerfrei getroffen und können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 232

Bearbeiter: Christian Becker