HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1260
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 90/19, Urteil v. 09.10.2019, HRRS 2019 Nr. 1260
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Görlitz vom 22. August 2018 wird verworfen. Jedoch wird der Strafausspruch dahin geändert, dass der Angeklagte in den Fällen II.1 und II.2 der Urteilsgründe jeweils zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 65 € verurteilt ist.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels, die insoweit im Adhäsionsverfahren entstandenen besonderen Kosten und die der Nebenund Adhäsionsklägerin in der Revisionsinstanz entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen Vergewaltigung in fünf Fällen, wegen gefährlicher Körperverletzung in fünf Fällen und wegen Körperverletzung in 13 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Durch Beschluss vom 8. Dezember 2016 hat der Senat das Urteil mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in vier Fällen sowie wegen Körperverletzung in sieben Fällen unter Strafaussetzung zur Bewährung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Im Übrigen hat es den Angeklagten freigesprochen. Gegen die Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel erzielt nur den aus dem Urteilstenor ersichtlichen geringen Teilerfolg.
1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen lernten sich der Angeklagte und die Nebenklägerin im August 2007 kennen und gingen eine Beziehung miteinander ein. Bereits nach einigen Monaten wurde der Angeklagte wiederholt gewalttätig. Im Tatzeitraum vom 18. August 2009 bis 27. August 2013 kam es in der gemeinsamen Wohnung zu mindestens elf körperlichen Übergriffen, bei denen der Angeklagte die Nebenklägerin durch Schläge oder Tritte misshandelte und dabei teilweise einen Besenstiel oder einen Baseballschläger verwendete.
2. Mit einer Verfahrensrüge bemängelt die Revision, dass in der neuen Hauptverhandlung entgegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO der Anklagesatz nicht verlesen worden sei. Die Beanstandung dringt nicht durch.
a) An der Rügeberechtigung des Angeklagten ändert der Umstand nichts, dass der Verteidiger nach eigenem Bekunden den Rechtsfehler in der Hauptverhandlung erkannt hat und dort „mit Bedacht“ im Hinblick auf ein mögliches Revisionsverfahren untätig geblieben ist (vgl. zum Ausschluss einer Rügepräklusion beim Unterlassen zwingend vorzunehmender Verfahrenshandlungen KKStPO/Schneider, 8. Aufl., § 238 Rn. 30 mwN; Mosbacher NStZ 2011, 606, 609).
b) Der geltend gemachte Verfahrensfehler liegt zwar vor. Ausweislich des Protokolls über die Hauptverhandlung ist der Anklagesatz nicht verlesen worden. Die Verlesung gehört dabei zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 273 Abs. 1 StPO, deren Einhaltung gemäß § 274 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 11. September 1990 - 1 StR 504/90, BGHR StPO § 274 Beweiskraft 6).
Der Zweck der Verlesung des Anklagesatzes geht dahin, die Richter - insbesondere die Schöffen -, denen der Inhalt der Anklage noch nicht bekannt ist, sowie die Öffentlichkeit darüber zu unterrichten, auf welchen geschichtlichen Vorgang sich das Verfahren bezieht, und ihnen zu ermöglichen, während der ganzen Verhandlung ihr Augenmerk auf die Umstände zu richten, auf die es in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ankommt. Den Prozessbeteiligten soll Gewissheit darüber vermittelt werden, auf welche Tat sie ihr Angriffs- und Verteidigungsvorbringen einzurichten haben (vgl. BGH, Urteile vom 13. Dezember 1994 - 1 StR 641/94, BGHR StPO § 243 Abs. 3 Anklagesatz 2; vom 28. April 2006 - 2 StR 174/05, NStZ 2006, 649). Auf die Verlesung kann nicht verzichtet werden; sie hat grundsätzlich vor Eintritt in die Beweisaufnahme zu erfolgen (BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2018 - 4 StR 424/18, NStZ 2019, 293). Das Verlesungsgebot gilt uneingeschränkt auch nach Zurückverweisung der Sache durch ein Rechtsmittelgericht, wobei Einschränkungen durch eine eingetretene Teilrechtskraft oder vorgenommene Beschränkungen oder Erweiterungen des Verfahrensgegenstandes nach § 154a Abs. 2 und 3 StPO zu berücksichtigen sind (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 2018 - 1 StR 481/17, NStZ 2018, 614 mwN).
c) Auf dem Verfahrensfehler beruht das Urteil aber nicht (§ 337 StPO).
Bei rechtsfehlerhafter Nichtverlesung des Anklagesatzes ist ein Beruhen regelmäßig dann auszuschließen, wenn die Prozessbeteiligten über den Gegenstand in anderer Weise unterrichtet wurden (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 2006 - 2 StR 174/05, NStZ 2006, 649; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 243 Rn. 38). Dies kann auch durch Verlesung des im ersten Durchgang ergangenen Urteils geschehen. Voraussetzung hierfür ist, dass das verlesene Urteil alles enthält, was der Anklagesatz dem Angeklagten zur Last legt (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 1970 - 4 StR 141/70, MDR 1970, 777; OGHSt 3, 70).
Das ist vorliegend der Fall. Wie aus dem Hauptverhandlungsprotokoll hervorgeht, hat der Vorsitzende nach der Aufnahme der Personalien des Angeklagten über den Verfahrensgang berichtet und dabei den Tenor und die Feststellungen des aufgehobenen Urteils vollständig verlesen. Die 23 Tatvorwürfe der Anklage finden sich inhaltsgleich mit identischer Nummerierung und lediglich geringen sprachlichen Änderungen im verlesenen Urteil wieder. Eine Beeinträchtigung der Interessen der Verfahrensbeteiligten und der Öffentlichkeit kann bei diesem Vorgehen daher ausgeschlossen werden.
3. Die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge führt zu den aus dem Urteilstenor ersichtlichen Änderungen in Bezug auf die für die Taten II.1 und II.2 verhängten Strafen. Ansonsten enthält das Urteil keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten.
a) Gegen die Beweiswürdigung ist - auch eingedenk des insoweit beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs - rechtlich nichts zu erinnern.
aa) Das Landgericht sieht die Taten II.1 bis 11 der Urteilsgründe als erwiesen an. Soweit dem Angeklagten weitere Körperverletzungen, aber auch Vergewaltigungen gegenüber der Nebenklägerin zur Last gelegt wurden, hat es ihn freigesprochen, weil es sich insoweit aufgrund der Angaben der Nebenklägerin die für eine Verurteilung erforderliche Überzeugung nicht zu verschaffen vermochte.
Ein Rechtsfehler ist hierin nicht zu erkennen. Dem Tatgericht ist es nicht verwehrt, Aussagen eines Zeugen teilweise zu folgen und teilweise nicht. Bei Fallkonstellationen, in denen das Gericht der Aussage des einzigen Belastungszeugen nur teilweise folgt und es in anderen Teilen Zweifel an dessen Darstellung hat oder diese sogar für widerlegt hält, müssen die Urteilsgründe allerdings in nachvollziehbarer Weise erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH, Urteil vom 12. Dezember 2012 - 5 StR 544/12, NStZ-RR 2013, 119 mwN). Die danach geforderte Gesamtwürdigung ist dem Urteil zu entnehmen.
(1) Das Landgericht hat aufgrund der Aussagen des Vaters der Nebenklägerin und ihrer Schwester sowie ihrer Freundin H. zunächst die Überzeugung von zahlreichen tätlichen Übergriffen des Angeklagten auf die Nebenklägerin gewonnen. Diese hatten über einen längeren Zeitraum hinweg blaue Flecken am Körper der Nebenklägerin beobachtet. Ihrer Schwester und ihrer Freundin hatte die Nebenklägerin bereits während des Tatzeitraums anvertraut, dass sie vom Angeklagten geschlagen werde, ohne allerdings Details zu benennen. Zudem hatte der Angeklagte nach den Feststellungen gegenüber dem Vater der Nebenklägerin sogar eingeräumt, diese geschlagen zu haben. Davon ausgehend unterliegt es keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht auf der Grundlage der Angaben der Nebenklägerin, die überwiegend in Bildaufnahmen und hierzu getroffenen Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen Bestätigung gefunden hatten, die Taten II.1 bis 11 als nachgewiesen erachtet hat.
(2) Entgegen dem Vorbringen der Revision trifft es nicht zu, dass das Landgericht eine Verurteilung willkürlich in den Fällen vorgenommen hat, in denen Verletzungen der Nebenklägerin durch Lichtbilder dokumentiert sind. Das gilt schon deswegen, weil auch in Bezug auf die freigesprochenen Anklagevorwürfe teilweise Fotoaufnahmen vorlagen (Taten VI.2, VI.5, VI.8). Die Urteilsgründe lassen auch ausreichend erkennen, dass sich das Landgericht in den Freispruchsfällen nicht aufgrund mangelnder Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin an der Verurteilung gehindert sah. Vielmehr konnte es die auf den Bildern erkennbaren Verletzungen nicht mit der erforderlichen Sicherheit den einzelnen Tatvorwürfen zuordnen, weil die Nebenklägerin aufgrund der Vielzahl der Übergriffe und der mittlerweile vergangenen Zeit keine konkrete Erinnerung mehr daran hatte (UA S. 12).
bb) Die Strafkammer durfte die Fotoaufnahmen beweiswürdigend heranziehen, ohne hierdurch gegen § 358 Abs. 1 StPO zu verstoßen. Der Senat hat in seinem Beschluss vom 8. Dezember 2016 insoweit lediglich zum Ausdruck gebracht, dass die Aufnahmen nicht geeignet seien, die sonstigen Mängel in der Beweiswürdigung des aufgehobenen Urteils aufzuwiegen. Dass Bildaufnahmen von Verletzungen des Opfers für den Tatnachweis von Gewaltdelikten indizielle Bedeutung zukommen kann, liegt auf der Hand und ist damit nicht in Frage gestellt.
Wie die weiteren Ausführungen des Senats belegen, betraf der Rechtsfehler in diesem Zusammenhang zudem den Umstand, dass die Bilder nicht die Einlassung des Angeklagten zu widerlegen vermochten, die Nebenklägerin sei ihrerseits „übergriffig“ geworden. Der Angeklagte hat diese Einlassung vorliegend zwar wiederholt. Da sich hieraus jedoch keine Anhaltspunkte dafür ergaben, dass solche Übergriffe im Zusammenhang mit den Tatvorwürfen standen, musste sich das Landgericht nicht gehalten sehen, dieser Behauptung weiter nachzugehen.
cc) Auch die weiteren Angriffe auf die Beweiswürdigung greifen nicht durch. Soweit die Revision beanstandet, hinsichtlich der Lichtbilder zu Tat II.7 und II.8 sei unklar, ob es sich überhaupt um den Körper der Nebenklägerin handele, findet dies in den Feststellungen keine Stütze. Denn dort wird insbesondere ein Brillenhämatom am linken Auge der Nebenklägerin beschrieben. Dass die Nebenklägerin nach eigenen Angaben leicht blaue Flecken bekommt, hat das Landgericht erkennbar ebenso in den Blick genommen wie deren Behauptung gegenüber ihrem Vater, das Hämatom in Fall II.1 sei durch einen Stoß entstanden. Das Urteil ergibt, dass sich das Landgericht mit den - ihm plausibel erscheinenden - Gründen für die seinerzeitige Falschbehauptung der Nebenklägerin gegenüber ihrem Vater befasst hat. Indem die Revision die teils fehlende Erinnerung der Nebenklägerin zu Tatzeit und Anlass der körperlichen Auseinandersetzungen als Anzeichen gegen den Wahrheitsgehalt der Aussage heranzieht, setzt sie in unzulässiger Weise ihre eigene Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Landgerichts.
dd) Schließlich hat sich das Landgericht auch mit der Möglichkeit eines Motivs der Nebenklägerin für eine Falschaussage anlässlich der Trennung befasst. Die Wertung, eine Gesamtschau der gegen den Angeklagten sprechenden Indizien in Verbindung mit den Aussagen mehrerer Zeugen zu zahlreichen tätlichen Übergriffen des Angeklagten über einen langen Zeitraum hinweg sprächen gegen eine bloße Erfindung der Nebenklägerin, ist revisionsgerichtlich hinzunehmen.
b) Der Strafausspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht in vollem Umfang stand.
aa) Das Landgericht hat in den Fällen II.1 und II.2 minder schwere Fälle nach § 224 Abs. 1, Halbsatz 2 StGB angenommen und jeweils kurze Freiheitsstrafen (§ 47 Abs. 1 StGB) von vier Monaten verhängt. Zur Begründung hat es angeführt, die Verhängung von Freiheitsstrafen sei unerlässlich, um auf den Angeklagten einzuwirken und ihn anzuhalten, seine in diesen Taten zutage getretene Gewaltbereitschaft zu überdenken. Diese - grundsätzlich zulässige - Erwägung tritt jedoch in durch das Landgericht nicht aufgelöste Spannung zu den Ausführungen bei der Strafrahmenwahl, wonach die in Rede stehenden Taten sehr lange zurücklägen und der Angeklagte weder vor noch nach den verfahrensgegenständlichen Taten strafrechtlich in Erscheinung getreten sei.
bb) Der Senat schließt aus, dass noch Feststellungen getroffen werden können, die die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen rechtfertigen könnten. Um eine weitere Verzögerung des Verfahrens zu vermeiden, setzt er für die genannten Taten in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO jeweils eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen fest, was den durch das Landgericht rechtsfehlerfrei ausgeurteilten Freiheitsstrafen von jeweils vier Monaten entspricht (vgl. § 47 Abs. 2 Satz 2, § 43 Satz 2 StGB). Die Tagessatzhöhe von 65 € hat das Landgericht bei der Bemessung der Geldstrafen für die Taten II.3 bis 6 und II.9 bis 11 zutreffend festgesetzt. Die Gesamtfreiheitsstrafe wird von der Änderung nicht tangiert.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1260
Externe Fundstellen: StV 2020, 827
Bearbeiter: Christian Becker