HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 881
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 601/19, Beschluss v. 23.06.2020, HRRS 2020 Nr. 881
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 1. Juli 2019 aufgehoben
mit den zugehörigen Feststellungen in den Fällen II.3 bis 5 der Urteilsgründe sowie
im Gesamtstrafenausspruch.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts Cottbus zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in zwei Fällen, wegen versuchten Totschlags und wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten, die die Verurteilung wegen Körperverletzung (Taten II.2 der Urteilsgründe) von ihrem Angriff ausgenommen hat, führt mit der Sachrüge zum Erfolg.
1. Der Generalbundesanwalt weist in seiner Zuschrift zu Recht darauf hin, dass es im Fall II.3 der Urteilsgründe an einer Auseinandersetzung mit einer möglichen „Korrektur des Rücktrittshorizonts“ (vgl. dazu BGH, Urteile vom 17. Juli 2014 - 4 StR 158/14, NStZ 2014, 569 f.; vom 8. Mai 2012 - 5 StR 528/11, NStZ 2012, 688 f.; Beschluss vom 17. Dezember 2014 - 2 StR 78/14, NStZ-RR 2015, 106 f., jeweils mwN) fehlt, obwohl die Feststellungen zum unmittelbaren Nachtatgeschehen zu einer Auseinandersetzung mit dieser Frage drängten.
a) Ein unbeendeter Versuch kommt auch dann in Betracht, wenn der Täter nach seiner letzten Tathandlung den Eintritt des Taterfolgs zwar für möglich hält, unmittelbar darauf aber zu der Annahme gelangt, sein bisheriges Tun könne diesen doch nicht herbeiführen, und er nunmehr von weiteren fortbestehenden Handlungsmöglichkeiten zur Verwirklichung des Taterfolges absieht (st. Rspr.; vgl. dazu BGH, Urteile vom 17. Juli 2014 - 4 StR 158/14, aaO; vom 19. Juli 1989 - 2 StR 270/89, BGHSt 36, 224, 225; Beschlüsse vom 7. November 2001 - 2 StR 428/01, NStZ-RR 2002, 73; vom 8. Juli 2008 - 3 StR 220/08, NStZ-RR 2008, 335; und vom 17. Dezember 2014 - 2 StR 78/14, aaO). Die Frage, ob nach diesen Rechtsgrundsätzen von einem beendeten oder unbeendeten Versuch auszugehen ist, bedarf bei versuchten Tötungsdelikten insbesondere dann eingehender Erörterung, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch zu von dem Täter wahrgenommenen körperlichen Reaktionen fähig ist, die geeignet sind, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Opfer sei bereits tödlich verletzt (BGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - 4 StR 158/14, aaO; Beschlüsse vom 17. Dezember 2014 - 2 StR 78/14, aaO; vom 12. Januar 2017 - 1 StR 604/16, StV 2017, 672, jeweils mwN). Ein solcher Umstand kann geeignet sein, die Vorstellung des Täters zu erschüttern, bereits alles zur Erreichung des gewollten Erfolgs getan zu haben. Dabei ist die Feststellung der tatsächlichen Vorstellungen des Täters entscheidend.
b) Nach diesen Maßstäben leidet das Urteil an einem durchgreifenden Erörterungsmangel. Denn die getroffenen Feststellungen verhalten sich nicht zu einer möglichen Korrektur des Vorstellungsbildes des Angeklagten während der von ihm registrierten Rückwärtsfahrt S. s. Zur eingehenden Erörterung hätte indes Anlass bestanden, weil - anders als möglicherweise zunächst vom Vorstellungsbild des Angeklagten erfasst - der Zeuge noch zu der Flucht in der Lage war und sich unverletzt in Sicherheit bringen konnte. Daher erscheint es jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte in einem engen Zeitraum nach der letzten Ausführungshandlung nicht mehr davon ausgegangen sein könnte, den Nebenkläger tödlich verletzt zu haben. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang auch weder erörtert, wie weit der Zeuge rückwärts fuhr und über welche Distanz der Angeklagte diese Fahrt räumlich überblicken konnte, noch wie sich die Fahrt der hinter dem Opel parkenden und ebenfalls flüchtenden Besatzung des Krankenwagens dazu verhielt. Zudem wird nicht hinreichend deutlich, inwieweit die Frontscheibe des Opel durch die Schüsse beschädigt oder zerstört wurde und wie sich dies auf die Sicht des Angeklagten auf S. ausgewirkt hat.
2. Im Fall II.4 der Urteilsgründe ist - wie der Generalbundesanwalt zu Recht bemängelt - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. nur BGH, Urteil vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 186 mwN) der Tötungsvorsatz nicht tragfähig belegt.
a) Das Landgericht ist zwar im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass bei äußerst gefährlichen Handlungen naheliegt, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen und - weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt - einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt (vgl. BGH aaO). Das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes können zwar auch dann im Einzelfall fehlen, etwa wenn dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, das Risiko der Tötung infolge einer psychischen Beeinträchtigung zur Tatzeit nicht bewusst ist (Fehlen des Wissenselements) oder wenn er trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut. Das Vertrauen auf einen glimpflichen Ausgang lebensgefährdenden Tuns darf dabei aber nicht auf bloßen Hoffnungen beruhen, sondern muss tatsachenbasiert sein (BGH, Urteil vom 12. Dezember 2018 - 5 StR 517/18, NStZ 2019, 208). Voraussetzung der Anwendung dieser Grundsätze ist aber stets der tragfähige Beleg der Gefährlichkeit der Tathandlung.
b) Daran fehlt es hier. Die diesen Schluss begründende Beweiswürdigung ist lückenhaft. Insbesondere fehlt es an einer Auseinandersetzung mit der exakten Schussrichtung und dem genauen Bereich des Auftreffens des Projektils auf das bei Schussabgabe ca. 16 Meter entfernte Fahrzeug. Dessen bedurfte es jedoch, weil die Schwurgerichtskammer hervorhebt, dass der Angeklagte als langjähriger und zielsicherer Jäger und geübter Schütze in der Lage gewesen sei, „mit dem mit einem Zielfernrohr ausgerüsteten Repetiergewehr auf über 100 m Entfernung zielgenau tödlich zu treffen“, und es insbesondere gewohnt sei, auf sich bewegende Objekte zu schießen.
3. Der Schuldspruch im Fall II.5 der Urteilsgründe kann ebenfalls nicht bestehen bleiben. Zu Recht weist der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift darauf hin, dass auch insoweit die Beweiswürdigung hinsichtlich der Annahme bedingten Tötungsvorsatzes den Besonderheiten des Falls nicht gerecht wird, sondern insbesondere die Schussrichtung sowie die äußere Beschaffenheit des Haushaltsraums dabei näher in den Blick hätten genommen werden müssen.
Auf die angesichts des Fehlens jeglicher Reaktion der vier Personen aus dem Hauswirtschaftsraum ebenfalls nicht rechtsfehlerfreie Annahme des beendeten Versuchs kommt es daher nicht mehr an.
4. Die Rechtsfehler führen zur Aufhebung der Schuldsprüche in den Fällen II.3 bis II.5 der Urteilsgründe, was den Wegfall der insoweit verhängten Einzelstrafen und der Gesamtstrafe zur Folge hat. Der Senat hebt die Feststellungen in diesen Fällen insgesamt auf, um dem neu zur Entscheidung berufenen Schwurgericht auf umfassend neuer Grundlage eine in sich widerspruchsfreie Entscheidung zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2017 - 1 StR 570/16; KKStPO/Gericke, 8. Aufl., § 353 Rn. 2).
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 881
Bearbeiter: Christian Becker