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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1089

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 103/19, Urteil v. 25.09.2019, HRRS 2019 Nr. 1089


BGH 5 StR 103/19 - Urteil vom 25. September 2019 (LG Cottbus)

Anordnung der Sicherungsverwahrung (alte Fassung; Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts; strikte Verhältnismäßigkeit; Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten; schwerer sexueller Missbrauch von Kindern).

§ 66 StGB a. F.; § 176a StGB

Leitsatz des Bearbeiters

§ 66 Abs. 1 StGB ist in der Fassung vom 22. Dezember 2010 bei bis zum 31. Mai 2013 begangenen Anlasstaten nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuwenden. Diese Voraussetzungen sind regelmäßig gewahrt, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus den konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Angeklagten abzuleiten ist. Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 1, § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB sind im Hinblick auf die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen und die hohe Strafandrohung unabhängig von körperlicher Gewaltanwendung - unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls - grundsätzlich als schwere Sexualstraftaten in diesem Sinne zu werten.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 22. Mai 2018 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung unterblieben ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision der Staatsanwaltschaft und die des Angeklagten werden verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dadurch im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen der Nebenklägerin zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, von denen zwei Monate wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. Soweit dem Angeklagten 23 weitere Sexualstraftaten und zwei Fälle der versuchten Nötigung zum Nachteil der Nebenklägerin zur Last lagen, hat es den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die mit der Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft richtet sich gegen den Teilfreispruch, den Strafausspruch und die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung. Der Angeklagte greift das Urteil mit seinem auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Rechtsmittel an, soweit er verurteilt worden ist. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Ihr weitergehendes Rechtsmittel und die Revision des Angeklagten sind unbegründet.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der seit 1982 mehrfach wegen Sexual- und Gewaltdelikten in Erscheinung getretene, seit 2009 nach § 63 StGB im Maßregelvollzug untergebrachte Angeklagte lernte die am 1. Oktober 1998 geborene Nebenklägerin im Februar oder März 2012 über ein Internetportal kennen. Nachdem er ihr Vertrauen erlangt hatte, nutzte er Vollzugslockerungen, um eine „Art Liebesbeziehung“ mit ihr zu führen. Obwohl er um das kindliche Alter der Nebenklägerin wusste, vollzog er „jedenfalls“ am 18. Juni 2012 den Beischlaf mit dem zu diesem Zeitpunkt 13-jährigen Mädchen. Das Landgericht hat dies als einen schweren sexuellen Missbrauch von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB in der ab 1. April 2004 geltenden Fassung gewertet.

2. Von der Richtigkeit der weiteren Anklagevorwürfe vermochte sich das Landgericht nicht zu überzeugen. Zwar sei es zu weiteren sexuellen Handlungen zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin gekommen. Mangels Konstanz der Aussagen der Zeugin habe aber nicht zweifelsfrei festgestellt werden können, dass diese vor Vollendung des 14. Lebensjahres der Nebenklägerin oder gegen deren Willen stattgefunden hätten. Die Strafkammer konnte auch keine Feststellungen treffen, die die Vorwürfe der versuchten Nötigung belegen. Es hat den Angeklagten deshalb insoweit aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.

3. An der Anordnung der Sicherungsverwahrung sah sich das Landgericht trotz des Vorliegens der formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB in der Fassung vom 22. Dezember 2010 und der hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten für die Allgemeinheit mit Blick auf die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung gehindert. Eine Unterbringung nach § 66 StGB setze danach für den vorliegenden Tatzeitraum eine aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleitende Gefahr „schwerster“ Gewalt- oder Sexualstraftaten voraus. Dies sei hier nicht der Fall. Zwar bestehe die Gefahr, dass der Angeklagte Straftaten wie die Anlasstat begehen werde. Da diese aber einer „Art Beziehung“ entsprungen und der sexuelle Kontakt freiwillig erfolgt sei, seien die zu erwartenden Straftaten „nicht von so großer Erheblichkeit“, dass sie die Anordnung der Sicherungsverwahrung erforderlich machten.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat teilweise Erfolg. Soweit sie sich mit der Rüge einer fehlerhaften Beweiswürdigung gegen den Teilfreispruch und den Strafausspruch richtet, ist sie aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet. Hingegen dringt sie insoweit durch, als sie die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beanstandet.

1. Die Strafkammer hat bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung einen zu engen rechtlichen Maßstab angelegt. Zwar geht sie zutreffend davon aus, dass die Anordnung der Sicherungsverwahrung sich nach den Regelungen des § 66 Abs. 1 StGB in der zur Tatzeit (Juni 2012) geltenden Fassung vom 22. Dezember 2010 richten (Art. 316e Abs. 1 Satz 1, Art. 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB), die nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden dürfen (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2014 - 5 StR 563/13, BGHR StGB § 66 strikte Verhältnismäßigkeit bei bis zum 31. Mai 2013 begangenen Anlasstaten 1). Sie hat aber verkannt, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Regel bereits dann gewahrt ist, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus den konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Angeklagten abzuleiten ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08, BVerfGE 128, 326, 406, Rn. 172). Um „schwerste“ Gewalt- oder Sexualdelikte im Sinne von Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB (vgl. insofern auch BVerfGE aaO, Rn. 173) - wie das Landgericht meint - muss es sich bei den zu erwartenden Taten mithin nicht handeln. Die Strafkammer hat sich dadurch den Blick dafür verstellt, dass Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 1, § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB im Hinblick auf die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen und die hohe Strafandrohung unabhängig von körperlicher Gewaltanwendung - unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls - grundsätzlich als schwere Sexualstraftaten im Sinne der Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts zu werten sind (vgl. BGH, aaO; Urteile vom 23. April 2013 - 5 StR 617/12; vom 28. März 2012 - 5 StR 525/11, NStZ-RR 2012, 205, 206).

2. Zudem sind die Ausführungen zur Gefährlichkeitsprognose widersprüchlich. Denn das Landgericht teilt an einer Stelle des Urteils mit, dass lediglich die Gefahr der Begehung von Straftaten bestehe, die mit der Anlasstat vergleichbar sind (UA S. 124). An anderer Stelle legt es aber dar, dass - dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen folgend - von dem Angeklagten vergleichbare Sexualstraftaten zu erwarten sind, „wie er sie bereits begangen hat“ (UA S. 122). Dazu zählen neben Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern auch zwei Vergewaltigungen.

3. Der Senat hebt das Urteil deshalb mit den zugehörigen Feststellungen auf, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist. Die verhängte Strafe kann bestehen bleiben. Denn die Strafzumessungserwägungen lassen keine Anhaltspunkte dafür erkennen, dass das Landgericht die schuldangemessene Strafe in rechtsfehlerhafter Weise wegen des Absehens von der Maßregel überschritten hätte. Vielmehr kann der Senat insbesondere angesichts der Vorstrafen und der Tatbegehung während des Maßregelvollzugs ausschließen, dass das Landgericht bei einer Anordnung der Sicherungsverwahrung eine niedrigere als die ohnehin im unteren Bereich des Strafrahmens liegende Strafe verhängt hätte (vgl. BGH, Urteile vom 23. April 2013 - 5 StR 617/12; vom 23. Februar 1994 - 3 StR 679/93, BGHR StGB § 66 Strafausspruch 1).

4. Mit Blick auf die missverständlichen Ausführungen zum Normcharakter des § 66 Abs. 1 StGB weist der Senat für die neue Hauptverhandlung darauf hin, dass bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Regelung die Sicherungsverwahrung zwingend anzuordnen ist.

III.

Die Revision des Angeklagten ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet, da die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1089

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 13; StV 2020, 10

Bearbeiter: Christian Becker