HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 584
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 645/18, Urteil v. 09.05.2019, HRRS 2019 Nr. 584
Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. Juni 2018, soweit es den Angeklagten M. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf der Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 und 4 Satz 2 Nr. 1 StGB aF freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Nebenklägerin mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
Die Anklage vom 5. Juli 2017 legt dem Angeklagten zur Last, er habe von der Nebenklägerin Oralverkehr an sich vornehmen lassen, den sie gegen ihren Willen aus Angst vor einer Veröffentlichung von Bild- und Videoaufnahmen von sexuellen Handlungen mit dem Mitangeklagten S. durchgeführt habe.
1. Die Strafkammer hat folgendes festgestellt: Der seinerzeit 15-jährige Mitangeklagte S. und die damals 14-jährige Nebenklägerin lernten sich Ende August 2015 kennen. Bei ihrer ersten persönlichen Begegnung begaben sie sich in die Wohnung des Mitangeklagten I., eines Cousins des Mitangeklagten S., wo es zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr zwischen beiden kam. Im Anschluss forderte S. die Nebenklägerin auf, auch mit seinem Cousin den Geschlechtsverkehr auszuüben, was sie ablehnte. Für den 3. September 2015 verabredeten sie ein weiteres Treffen in der Wohnung. Dort kam neben I. auch der ihr unbekannte seinerzeit 17-jährige Angeklagte hinzu. S. verlangte von der Nebenklägerin, die er zuvor teilweise entkleidet hatte, dass sie mit beiden „schlafen“ solle, was sie jedoch auch nach längerer Diskussion verweigerte. Der Angeklagte ging schließlich mit ihr auf den Balkon. Als beide in die Wohnung zurückkehrten, gaben sie absprachegemäß vor, dass sexuelle Handlungen stattgefunden hätten. Trotz der Versuche S. s, sie zunächst durch seine Verweigerung einer Herausgabe ihrer Kleidungsstücke noch gefügig zu machen, lehnte sie den von ihr verlangten sexuellen Verkehr mit I. weiterhin ab. Wenige Tage später kam es zu einem erneuten Treffen mit S., bei dem dieser ein Video von der nur mit BH und Slip bekleideten Nebenklägerin sowie ein Foto von ihr machte, das die Ausübung von Oralverkehr an ihm zeigte.
Nach einem zunächst vergeblichen Versuch, sie am folgenden Tag mit der Drohung, ansonsten das Foto und das Video zu „posten“, zu einem weiteren Treffen zu veranlassen, drohte S. ihr am 12. September 2015 zum wiederholten Mal mit einer Veröffentlichung der für sie kompromittierenden Bilder auf Plattformen im Internet, falls sie eine Verabredung für den Abend ablehne. Unter dem Eindruck dieser Drohung gab sie seiner Forderung nach. An dem verabredeten Ort erschien S., für sie überraschend, in Begleitung des Angeklagten und des ihr unbekannten Mitangeklagten R. Gemeinsam gingen sie in ein Schnellrestaurant, wo S. die Nebenklägerin in die Herrentoilette zog. Spätestens dort verlangte er von ihr, dass sie mit seinen Begleitern Oralverkehr ausüben solle, andernfalls werde er das Bildmaterial von ihr „posten“. Sie stimmte aus Angst vor der angedrohten Veröffentlichung zu und führte im Toilettenraum an dem Angeklagten den Oralverkehr bis zum Samenerguss aus.
2. Das Landgericht hat sich nicht davon überzeugen können, dass der - zum objektiven Tatgeschehen geständige - Angeklagte vorher davon wusste, was die Geschädigte zum Oralverkehr mit ihm bewegt habe. Die interne Kommunikation zwischen S. und ihm sowie dem Mitangeklagten R. habe mangels unmittelbarer Erkenntnisquellen offenbleiben müssen. Ein aus den Gesamtumständen möglicher Rückschluss, dass dem Angeklagten schon aus der Bereitschaft der Geschädigten zu sexuellen Handlungen auf einer Toilette heraus bewusst gewesen sein müsse, dass und womit sie von S. „erpresst“ worden sei, wäre Ietztlich spekulativ. Es sei auch nicht ausschließbar, dass dieser seinen Freunden gegenüber sinngemäß vorgegeben habe, dass sie eine „Schlampe“ sei, die „es“ ihm zuliebe mache.
Die Freisprechung des Angeklagten hat keinen Bestand. Die tatgerichtliche Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite hält trotz der beschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle (vgl. etwa BGH, Urteile vom 5. November 2014 - 1 StR 327/14, NStZ-RR 2015, 83, und vom 3. Juni 2015 - 5 StR 55/15, NStZ-RR 2015, 255 f. mwN) rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist insoweit lückenhaft und damit nicht tragfähig, als es der Einlassung des Angeklagten letztlich kritiklos folgt, wonach er davon ausgegangen sei, dass die Geschädigte freiwillig an ihm den Oralverkehr ausübe. Das Tatgericht darf jedoch entlastende Angaben des Angeklagten, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine Beweise gibt, nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinnehmen. Es muss sich vielmehr auf der Grundlage des gesamten Beweisergebnisses entscheiden, ob diese Angaben geeignet sind, seine Überzeugungsbildung zu beeinflussen (vgl. BGH, Urteile vom 24. Oktober 2002 - 5 StR 600/01, BGHSt 48, 52, 71; vom 22. April 2005 - 2 StR 310/04, BGHSt 50, 80, 85, und vom 25. Oktober 2016 - 5 StR 255/16, NStZ-RR 2017, 5, 6 mwN; Beschluss vom 25. April 2007 - 1 StR 159/07, BGHSt 51, 324, 325). Soweit das Landgericht erwogen hat, der Mitangeklagte S. könne die Geschädigte dem Angeklagten gegenüber als „Schlampe“ dargestellt haben, womit dieser sich als Erklärung ihres Verhaltens zufriedengegeben haben könnte, gibt es hierfür keine zureichenden Anhaltspunkte. Insbesondere haben nicht einmal der Angeklagte selbst und der Mitangeklagte S. Entsprechendes in ihren Einlassungen erwähnt. In diesem Zusammenhang lässt das Urteil eine Auseinandersetzung mit der Tatsache vermissen, dass der Angeklagte aufgrund des vorangegangenen Geschehens vom 3. September 2015 wusste, dass die Geschädigte grundsätzlich nicht bereit war, mit ihm sexuell zu verkehren, obgleich sie für ihn erkennbar von S. bereits bei dieser Gelegenheit unter Druck gesetzt worden war. Tatsächliche Umstände, die aus Sicht des Angeklagten einen Sinneswandel der Geschädigten plausibel hätten erklären können, zeigen die Urteilsgründe nicht auf.
2. Rechtsfehlerhaft hat die Strafkammer zudem davon abgesehen, die hier erforderlichen Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten zu treffen (vgl. BGH, Urteil vom 1. August 2018 - 5 StR 30/18 mwN) und den Sachverhalt auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu prüfen (vgl. § 264 StPO).
Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 584
Bearbeiter: Christian Becker