HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 1130
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 72/17, Urteil v. 25.10.2017, HRRS 2017 Nr. 1130
Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 16. September 2016 wird verworfen.
Es wird davon abgesehen, der Angeklagten die Kosten ihres Rechtsmittels aufzuerlegen.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Ihre auf eine Verfahrens- und die Sachrüge gestützte Revision hat keinen Erfolg.
Das Landgericht hat festgestellt:
Die Angeklagte, eine im Zeitpunkt der Tat 18 Jahre und vier Monate alte, vor dem Abitur stehende Schülerin, ging im Herbst 2014 mit einem Mitschüler eine Beziehung ein, in deren Verlauf beide Geschlechtsverkehr hatten. Nachdem hierbei im März 2015 ein Kondom gerissen war, war der Angeklagten bewusst, dass die Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft bestand. Tatsächlich war sie schwanger geworden, was sie jedoch nicht wahrhaben wollte. Als ihr Bauchumfang zunahm, verheimlichte sie erfolgreich die bestehende Schwangerschaft gegenüber ihrer Familie, ihren Freunden und dem gesamten sozialen Umfeld.
Am 10. Dezember 2015 setzten die Wehen während des Sportunterrichts ein. In der Nacht zum 11. Dezember 2015 gebar die Angeklagte in der elterlichen Wohnung ein gesundes Mädchen, das sie nach der Geburt - in einem Zeitraum zwischen unmittelbar nach der Geburt und einer halben Stunde oder noch etwas später - vorsätzlich erstickte, indem sie es zunächst mit einem Handtuch bedeckte und anschließend die Ränder des Spannbettzuges über das Kind schlug, so dass dieses nicht mehr atmen konnte.
Die Angeklagte wurde am Vormittag des 11. Dezember 2015 mit dem Notarztwagen in ein Krankenhaus gebracht. Die ärztliche Untersuchung ergab Anhaltspunkte für eine erfolgte Geburt, die jedoch von der Angeklagten abgestritten wurde. Nachdem seitens des Krankenhauses die Polizei informiert worden war, wurde von einem Feuerwehrmann unter dem Schreibtisch der Angeklagten die Kindesleiche auf dem Rücken liegend, mit einem Handtuch bedeckt und in ein Bettlaken eingewickelt in einer großen Plastiktüte aufgefunden (UA S. 7 f., 12).
Die Revision der Angeklagten ist unbegründet.
1. Die Rüge der Verletzung des § 74 StPO ist bereits unzulässig, da die Revision weder das vorbereitende schriftliche Gutachten der Sachverständigen B., noch das von dieser als solches bezeichnete „Gefälligkeitsgutachten“ vorlegt. Im Übrigen ist sie aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts auch unbegründet. Insbesondere lassen die beanstandeten Äußerungen der Sachverständigen nach Erstattung ihres Gutachtens nicht den Schluss auf eine bereits zuvor bestehende Befangenheit zu.
2. Die den Schuldspruch tragenden Feststellungen beruhen auf einer mit Blick auf den eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfungsmaßstab (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 StR 269/04, NJW 2005, 2322, 2326) rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung. Die Revision zeigt weder Verstöße gegen Denkgesetze noch Lücken oder Widersprüche in der Beweiswürdigung auf.
a) Die Angeklagte hat sich dahin eingelassen, noch bis kurz vor der Geburt nicht gewusst zu haben, dass sie unmittelbar davor gewesen sei, ein Kind zu gebären. Nach der Geburt habe sie den Säugling nicht angeschaut; ob er auf dem Rücken oder auf dem Bauch gelegen habe, könne sie nicht sagen, da es in dem Zimmer dunkel gewesen sei. Sie habe ein Handtuch über das Kind geschlagen und anschließend das verschmutzte Bettlaken abgezogen. Dabei habe sie die Nabelschnur gespürt und diese abgeschnitten. So, wie das Kind gelegen habe, habe sie es in Handtuch und Bettlaken unter ihren Schreibtisch gelegt. Sie habe das Kind nicht „extra“ so eingewickelt, dass es keine Luft bekomme. Sie habe das Kind nicht „wegschmeißen“ wollen. Nach einem Gang zur Toilette sei sie eingeschlafen.
b) Hinsichtlich der Todesursache folgt das Landgericht den beiden rechtsmedizinischen Sachverständigen, die übereinstimmend Ersticken als Ursache für den Tod des lebend geborenen Kindes angegeben haben. Die Ursache des Erstickens hat die Strafkammer darin gesehen, dass die Angeklagte ihr Neugeborenes in ein Handtuch und ein Laken eingeschlagen hat.
Rechtsfehlerfrei hat die Strafkammer dabei zunächst - gestützt auf die gutachterlichen Ausführungen der von der Verteidigung benannten rechtsmedizinischen Sachverständigen Ba. - alternative Ursachen des Erstickens (Ersticken des in Bauchlage geborenen, mit den Atemöffnungen nach unten liegenden Säuglings; selbständiges Drehen des Säuglings in eine Bauchlage) ausgeschlossen.
Das Landgericht hat auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, die Angeklagte könne ihr Kind nach der Geburt versehentlich in eine Bauchlage gebracht haben, in der es erstickte. Aufgrund der Bekundungen der Sachverständigen Ba. ist es zu dem nachvollziehbaren Ergebnis gekommen, dass die Totenflecken keinerlei Aufschluss darüber gäben, in welcher Körperhaltung der Säugling verstorben sei. Hierzu steht entgegen der Auffassung der Revision nicht in Widerspruch, dass die Strafkammer im Hinblick auf die auf der linken Wange der Kindesleiche befindliche große Aussparung der Totenflecken die Möglichkeit erörtert hat, diese Lage könnte die Sterbelage gewesen sein, dies aber ausschließt, weil das Kind in dieser Lage mit zur Seite gedrehtem Kopf hätte atmen können.
Das Landgericht gelangt letztlich „aufgrund des Verpackungszustandes“ des toten Kindes zu der Gewissheit, dass die Angeklagte „ihr auf dem Rücken liegendes Baby dadurch erstickte, dass sie es erst mit einem Handtuch bedeckte und anschließend die Ränder des Spannbettbezugs über das Kind schlug, so dass es keine Luft mehr bekam“ (UA S. 11 f.). Rechtsfehlerfrei begründet die Strafkammer diese Überzeugung, indem sie die Einlassung der Angeklagten zum „Einpacken“ des Kindes mit den „spiegelbildlichen“ Bekundungen des Feuerwehrmanns zum „Auspacken“ der Leiche und den Ergebnissen der Inaugenscheinnahme von Fotos der Auffindesituation verbindet. Bei Auffinden des auf dem Rücken liegenden Kindes war dieses danach von einem Handtuch bedeckt. Dass die Lage der über den gesamten Leichnam verteilten Totenflecke nach den Ausführungen der Sachverständigen Ba. darauf hinweist, dass das bereits tote Kind - entgegen der Einlassung der Angeklagten - nicht die gesamte Zeit in derselben Position gelegen hat, sondern gedreht worden ist, berührt die Feststellungen des Urteils zur Sterbelage des Kindes und der Ursache seines Erstickens nicht. Denn schon aus der Lage des Handtuchs auf der Gesichtsseite des Kindes bei dessen Auffinden in Verbindung mit der Einlassung der Angeklagten ergibt sich, dass das Kind auf dem Rücken lag, als sie es zunächst mit dem Handtuch und anschließend mit dem Laken bedeckte.
c) Auch soweit das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Angeklagte ihr Kind vorsätzlich tötete, begegnet dies vor dem Hintergrund des von der Angeklagten eingeräumten objektiven Tatgeschehens keinen rechtlichen Bedenken. Eine versehentliche Tötung hat es - wie dargelegt - in rechtsfehlerfreier Weise ausgeschlossen. Darüber hinaus hat es im Einzelnen dargestellt, dass und auf welche Weise die Angeklagte ihre Schwangerschaft vor ihrer Umgebung verheimlichte. Beraten durch einen psychiatrischen Sachverständigen geht es davon aus, dass die Angeklagte ihren Zustand kannte. Nach dessen Bekundungen habe die Angeklagte ihre Schwangerschaft zwar nicht wahrhaben wollen und die Realität umgedeutet, jedoch gewusst, dass sie schwanger sei. Dafür sprächen nicht nur eine von ihr Ende September 2015 durchgeführte Internetrecherche („Joggen in der Schwangerschaft“), sondern auch unwahre Berichte über nicht stattgefundene Arztbesuche wegen der von ihr beklagten Bauchschmerzen in der Spätphase ihrer Schwangerschaft.
Frei von Rechtsfehlern bildet sich das Landgericht die Überzeugung, dass die Angeklagte spätestens zwei bis drei Wochen vor der Geburt ihres Kindes „ganz sicher wusste“, dass diese bald stattfinden würde. Sie stützt sich dabei insbesondere darauf, dass die erlogenen Schilderungen von Arztbesuchen und diagnostizierten Krankheiten (Magenschleimhautentzündung oder Laktoseintoleranz) geeignet waren, eine bevorstehende mögliche erfolgreiche Behandlung ihres „aufgeblähten“ Bauches und damit dessen baldiges Verschwinden zu erklären (vgl. BGH, Urteil vom 5. Juni 2003 - 3 StR 55/03). Eine - von der Revision behauptete - Zirkelschlüssigkeit dieser Argumentation vermag der Senat nicht zu erkennen. Dass auf der Grundlage der Äußerungen des psychiatrischen Sachverständigen die Angeklagte „bis zuletzt“ versuchte, die „unabweisbar werdende Realität abzuwehren“, ändert an ihrem nach der Geburt des Kindes aktualisierten Tötungsvorsatz nichts (UA S. 19). Zudem zieht die Strafkammer in ebenfalls nicht zu beanstandender Weise das Verhalten der Angeklagten bei Einsetzen der Wehen und im Verlauf des Geburtsvorgangs sowie ihr Nachtatverhalten in nachvollziehbarer Weise dafür heran, dass die Angeklagte nun auch die Geburt verheimlichen wollte. Die Tötung des Kindes war angesichts dessen „die konsequente Fortführung ihrer verheimlichten Schwangerschaft, an deren Ende es kein Kind geben durfte“ (UA S. 12).
3. Auch der Strafausspruch hat Bestand.
a) Das Landgericht ist von der uneingeschränkten Schuldfähigkeit der Angeklagten ausgegangen. Dies hält der revisionsgerichtlichen Prüfung stand.
aa) Bei Kindstötungen im Sinne des § 217 StGB aF kommt eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit kaum in Betracht, wenn bei der Täterin außer der Belastung durch die Geburt keine schon unabhängig hiervon bestehenden geistig-seelischen Beeinträchtigungen festzustellen sind (vgl. BGH, Urteile vom 5. Juni 2003 - 3 StR 55/03, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Kindstötung 1; 16 17 18 vom 19. Juni 2008 - 4 StR 105/08, NStZ-RR 2008, 308; vom 23. April 2009 - 3 StR 100/09, NStZ 2009, 439 f.). Die psychische Ausnahmesituation einer Mutter, die ihr Kind in oder gleich nach der Geburt tötet, kann in einem solchen Fall allerdings bei der Anwendung des § 213 StGB Berücksichtigung finden (BGH, Urteil vom 6. November 2003 - 4 StR 296/03, NStZ-RR 2004, 80).
bb) Zwar hat der Sachverständige eine „erhebliche Bewusstseinseinengung“ bei der Angeklagten während und nach der Geburt beschrieben, die „am ehesten als Anpassungsstörung nach ICD-10 F 43.2 zu fassen“ und als tiefgreifende Bewusstseinsstörung einzuordnen sei. Das Landgericht hat jedoch ausgeschlossen, dass eine solche Anpassungsstörung - wie für die Annahme einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung erforderlich (vgl. BGH, Urteile vom 9. Februar 1983 - 3 StR 500/82, NStZ 1983, 280, und vom 13. Dezember 1989 - 3 StR 370/89, NStZ 1990, 231) - in ihrem Gewicht einer krankhaften seelischen Störung gleichwertig und dass zudem eine mögliche Verminderung der Schuldfähigkeit „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB ist. Hiergegen ist aus revisionsgerichtlicher Sicht nichts einzuwenden.
b) Die Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld und deren Bemessung sind rechtsfehlerfrei. Auch insoweit können die Einwände der Beschwerdeführerin aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen nicht durchdringen. Insbesondere hat die Strafkammer der psychischen Ausnahmesituation der Angeklagten nach der Geburt bei der - maßvollen - Bemessung der Jugendstrafe Rechnung getragen, indem sie davon ausgegangen ist, dass bei Anwendung von allgemeinem Strafrecht ein minder schwerer Fall gemäß § 213 Alt. 2 StGB vorgelegen hätte. Mit der Erwägung, die Angeklagte habe sich „bisher allenfalls sehr oberflächlich mit der Tat auseinandergesetzt“ (UA S. 22), berücksichtigt die Strafkammer nicht deren 19 20 Verteidigungsverhalten strafschärfend, vielmehr stellt sie damit ersichtlich auf die Notwendigkeit ab, auf die Angeklagte im Jugendstrafvollzug durch eine „nachhaltige Therapie“ einwirken zu müssen (UA S. 22, 23 unten).
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 1130
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 14 ; StV 2019, 231
Bearbeiter: Christian Becker