HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 969
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 112/17, Urteil v. 11.07.2017, HRRS 2017 Nr. 969
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 29. September 2016 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in fünf Fällen und schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen - unter Freispruch im Übrigen - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Seine in der Hauptverhandlung auf die Fälle 6 bis 9 der Urteilsgründe beschränkte Revision hat keinen Erfolg.
1. Nach den Feststellungen lebte der Angeklagte von Anfang 2000 bis Ende 2013 in häuslicher Gemeinschaft mit seiner Ehefrau und seinen Stieftöchtern, den Nebenklägerinnen D. M., geboren am 2. Oktober 1993, und A. M., geboren am 6. Januar 1997.
In Absprache mit seiner Ehefrau, der Mutter der Nebenklägerinnen, nahm er gegenüber den Stieftöchtern von Beginn an die Vaterrolle wahr, indem er Betreuungs- und Erziehungsaufgaben übernahm. In der Familie übte er eine beherrschende Rolle aus. Diese nutzte der Angeklagte mit der Zeit auch dazu, um seine sexuellen Wünsche gegenüber den beiden kindlichen Stieftöchtern durchzusetzen. Ab einem nicht mehr näher feststellbaren Zeitpunkt zwischen Herbst 2003 und Februar 2004 näherte er sich D. M. in unterschiedlicher Weise, indem er sie beim morgendlichen Wecken oder Ankleiden häufig mit der Hand an der Brust oder ihrer unbedeckten Scheide berührte und gelegentlich Nacktfotos von ihr fertigte, für die sie eigens vor einer Art Leinwand posieren musste; diese Taten sind nicht Gegenstand der Anklage. Ab dem Jahr 2009 richteten sich die „sexuellen Anwandlungen“ des Angeklagten vorwiegend gegen seine jüngere Stieftochter A. Regelmäßig an den Sonntagen wusch er sie im Badezimmer und nutzte dies jeweils dazu aus, das nackte Mädchen - auch gegen dessen erklärten Wunsch - im Intimbereich zu massieren und einen Finger in ihre Scheide und ihren Anus einzuführen, um sich sexuell zu erregen. Auf vereinzelte Ablehnungen seines sonntäglichen „Duschrituals“ durch A. reagierte er mit Vorhaltungen, Beschimpfungen und Drohungen gegenüber den Stiefkindern und seiner Ehefrau; er beruhigte sich in der Regel erst wieder, wenn A. seinem Verlangen nachkam. A. gab seinen Forderungen zumeist nach, um den Hausfrieden nicht zu gefährden.
Das Landgericht konnte eine konkrete Tat zwischen Ende Dezember 2006 und Anfang August 2008 zulasten der damals dreizehn- oder vierzehnjährigen D. M. feststellen, der gegenüber der Angeklagte vorgab, sie auf das Vorliegen einer Schwangerschaft untersuchen zu wollen. Gegen seinen Versuch, mit seinem Finger in ihre Scheide einzudringen, wehrte sie sich zunächst. Nachdem der Angeklagte ihr eine häusliche Strafe angedroht hatte, ließ sie es zu.
Die Strafkammer hat weitere acht Taten zulasten der Nebenklägerin A. M. festgestellt. In der Zeit zwischen Anfang 2009 und dem 5. Januar 2011 drang der Angeklagte in vier Fällen im Rahmen des geschilderten „Duschrituals“ mit seinem Finger in die Scheide oder den After des Kindes ein (Fälle 2 bis 5). An einem nicht mehr näher feststellbarem Tag zwischen dem 7. Januar 2011 und Dezember 2013 forderte der Angeklagte die damals „vierzehn- bis sechzehnjährige“ A. auf, sie solle sich mit entblößtem Unterleib in gebückter Haltung in eine „Hündchenstellung“ begeben, und führte sein erigiertes Glied an den After des Mädchens (Fall 6). An mindestens zwei unterschiedlichen Tagen im Zeitraum zwischen Anfang 2011 und Ende 2013 forderte der Angeklagte seine Stieftochter A. auf, ihre Brüste zu entblößen, weil er sie zur Brustkrebsvorsorge abtasten wolle. Als die Jugendliche „sich fügte“, streichelte und massierte der Angeklagte einige Minuten ihre Brüste, um sich sexuell zu erregen (Fälle 7 und 8). Schließlich duschte der Angeklagte zwischen Ende November 2013 und dem 15. Dezember 2013 seine Stieftochter A. letztmals im Badezimmer der Familienwohnung in üblicher Weise ab. Wieder führte er seinen Finger in die Scheide des Mädchens ein. Im Anschluss an diese Tat offenbarte A. sich einem Sozialarbeiter eines Jugendzentrums.
2. Das Urteil hat im Ergebnis - entgegen dem Antrag des Generalbundesanwalts - Bestand.
a) Hinsichtlich der Fälle 6 bis 9 hat das Landgericht zwar in rechtsfehlerhafter Weise eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB bejaht. Der Generalbundesanwalt hat insoweit in seiner Stellungnahme zu Recht darauf hingewiesen, dass die Nebenklägerin bei den Taten 6 bis 8 zumindest nicht ausschließbar das 16. Lebensjahr bereits vollendet hatte und dies für die Tat 9 sicher feststeht. Entgegen diesen Feststellungen ist das Landgericht in seiner rechtlichen Würdigung davon ausgegangen, dass die Nebenklägerin A. M. bei diesen Taten „noch nicht“ 16 Jahre alt gewesen sei (UA S. 30). Dieser Widerspruch ist nicht auflösbar. Eine Verurteilung nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB, die ein unter 16 Jahre altes Opfer voraussetzt, ist deshalb nicht möglich.
b) Gleichwohl kann der Schuldspruch wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen bestehen bleiben.
aa) Aus den Urteilsgründen ergibt sich, dass der Angeklagte bei den Taten 6 bis 9 - entsprechend der Wertung der Anklage (vgl. § 265 StPO) - die Variante des § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt hat.
Diese Vorschrift dehnt das Schutzalter von Schutzbefohlenen bis zum 18. Lebensjahr aus, setzt allerdings voraus, dass die sexuellen Handlungen unter Missbrauch einer mit dem festgestellten Obhutsverhältnis verbundenen Abhängigkeit des Schutzbefohlenen vorgenommen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juni 1997 - 5 StR 232/97). Ein Missbrauch der Abhängigkeit liegt vor, wenn der Täter seine Macht und Überlegenheit in einer für den Jugendlichen erkennbar werdenden Weise als Mittel einsetzt, um diesen gefügig zu machen (vgl. BGH, Urteil vom 4. April 1979 - 3 StR 98/79, BGHSt 28, 365, 366 f.). Das ist insbesondere der Fall, wenn für den Jugendlichen eine Drucksituation besteht (vgl. BGH, aaO und Urteil vom 24. Oktober 1990 - 3 StR 257/90, NStZ 1991, 81, 82). Beiden Beteiligten muss dabei der Zusammenhang des Abhängigkeitsverhältnisses mit den sexuellen Handlungen bewusst sein.
Zwar hat das Landgericht nicht geprüft, ob der Angeklagte ein Abhängigkeitsverhältnis in diesem Sinne missbraucht hat. Dies ergibt sich jedoch aus einer Gesamtschau der Urteilsgründe. Die Feststellungen belegen eine beherrschende Rolle des „cholerischen und bestimmenden“ Angeklagten, der die Familie zumeist „nach seinem Belieben“ lenkte (UA S. 4). Nach der im Urteil mitgeteilten und vom Landgericht ohne Rechtsfehler als glaubhaft erachteten Aussage der Nebenklägerin habe der Angeklagte „umgehend seine schlechte Laune gezeigt und seinen Unmut an der ganzen Familie ausgelassen“, wenn sie versucht habe, ihm am Sonntag zu entgehen. Aus diesem Grund habe sie sich ihm nicht widersetzt (UA S. 20). Sie habe „es als völlig entwürdigend erachtet ..., sich mit 16 Jahren vom Stiefvater an Brust und Scheide betatschen und befingern zu lassen“ (UA S. 21). Dementsprechend wertet es die Strafkammer im Rahmen der Strafzumessung für die gegen die Nebenklägerin A. M. noch in kindlichem Alter begangenen Taten 2 bis 5 zulasten des Angeklagten, dass er „die Geschädigte über einen längeren Zeitraum mehrmals sexuell missbrauchte und dies in einem eigens geschaffenem Klima der Einschüchterung geschah, das er systematisch und rücksichtslos für sich ausnutzte“ (UA S. 31). Hinsichtlich der Taten 6 bis 9 stellt das Landgericht im Rahmen der Prüfung des § 174 Abs. 5 StGB mit darauf ab, dass „die Initiative zu den sexuellen Handlungen vom Angeklagten ausging und von den geschädigten Stieftöchtern unerwünscht war“ (UA S. 31).
Die Gesamtschau der Urteilsgründe ergibt demnach, dass A. M. die sexuellen Handlungen des Angeklagten, was diesem bewusst war, auch nach ihrem 16. Geburtstag entgegen ihrem Willen nur aufgrund der vom Angeklagten aufgebauten familiären Machtverhältnisse duldete, die ihm eine beherrschende Stellung zuwiesen.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 969
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 276
Bearbeiter: Christian Becker