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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 721

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 85/16, Urteil v. 25.05.2016, HRRS 2016 Nr. 721


BGH 5 StR 85/16 - Urteil vom 25. Mai 2016 (LG Görlitz)

Lückenhafte Beweiswürdigung zur alkoholbedingten Schuldunfähigkeit (fehlende umfassende Würdigung des Nachtatverhaltens); rechtsfehlerhafte Unterbringungsanordnung; Rauschtat beim Vollrausch als objektive Bedingung der Strafbarkeit.

§ 20 StGB; § 64 StGB; § 323a StGB; § 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Görlitz vom 6. November 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung freigesprochen und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) angeordnet. Gegen das Urteil wendet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat im Ergebnis Erfolg.

1. Das Landgericht hat festgestellt:

Der Angeklagte leidet an einem Alkoholabhängigkeitssyndrom (ICD-10 F 10.2). Sein jahrelanger Alkoholmissbrauch hat bereits sein Gehirn geschädigt und zu einer Lebererkrankung geführt.

Der Angeklagte und der später geschädigte L. kannten sich aus einem gemeinsamen Entgiftungsaufenthalt. Am Tattag besuchte L. den Angeklagten. Nach einem Stadtrundgang begaben sich der bereits angetrunkene L. und der Angeklagte in dessen Wohnung. Der Angeklagte hatte zur Bewirtung zwei Flaschen Rotwein und eine 0,7-lFlasche Schnaps gekauft. Zwischen 13:38 Uhr und 16:55 Uhr stach er im Wohnzimmer aus nicht mehr aufklärbaren Gründen mit einem Küchenmesser wenigstens neunmal mit bedingtem Tötungsvorsatz auf den Geschädigten ein. Dieser erlitt unter anderem eine Stichverletzung unter der linken Achsel, die zur Eröffnung der Brusthöhle mit Pneumothorax führte, sowie drei Stichverletzungen im Bereich des Bauches mit Verletzungen von Leber, Dünn- und Dickdarm. Der Pneumothorax hätte unbehandelt in kürzester Zeit zum Tod geführt; auch die Stichverletzungen im Bauchbereich waren lebensgefährlich.

Nach Beendigung seiner Angriffe ging der Angeklagte davon aus, dass sein Opfer verbluten werde. Er „entschied sich dann freiwillig dazu“ (UA S. 7), einigen im Hof des Hauses mit dem Aufbau eines Festes beschäftigten Personen aus seinem Fenster hinaus mindestens zweimal zuzurufen, sie mögen den Rettungsdienst holen, der Geschädigte verblute. Der in akuter Lebensgefahr schwebende L. konnte in der Folge durch eine Notoperation und intensivmedizinische Behandlung gerettet werden. Er verstarb wenige Wochen später aus nicht mit der Tat in Verbindung stehenden Gründen. Die beim Angeklagten um 20:30 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,32 ‰; beim Geschädigten wurde um 19:00 Uhr eine Blutalkoholkonzentration von 2,46 ‰ festgestellt.

2. Die Strafkammer hat die Tat des Angeklagten als gefährliche Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) gewertet. Vom Versuch des Totschlags (§ 212 Abs. 1, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB) sei er mit strafbefreiender Wirkung zurückgetreten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 StGB). Eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung scheitere an der aufgrund seiner „gravierenden Alkoholintoxikation“ im Zeitpunkt der Tat nicht ausschließbaren Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB). Eine Verurteilung wegen Vollrausches (§ 323a StGB) komme nicht in Betracht; denn der Angeklagte sei bislang noch nie unter Alkoholeinfluss aggressiv geworden. Er habe „es weder in Kauf genommen noch vorwerfbar nicht bedacht, da er es weder wissen musste noch wissen konnte, dass er im Rauschzustand irgendwelche Ausschreitungen strafbarer Art begehen würde“ (UA S. 14). Ein für die Strafbarkeit wegen Vollrausches notwendiges Verschulden des Angeklagten, das „sich in noch so loser Form auf die im Rausch begangene Tat beziehen würde“, liege somit nicht vor. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat die Strafkammer damit begründet, dass „ausweislich des vom Sachverständigen erstatteten Gutachtens“ die „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ bestehe, dass der Angeklagte aufgrund seines Hanges weitere und gegebenenfalls sogar erheblichere Straftaten begehen „könnte“.

Die Staatsanwaltschaft ist der Ansicht, dass das Landgericht die Voraussetzungen für die Annahme des Vollrausches verkannt und den Angeklagten deshalb rechtsfehlerhaft freigesprochen habe.

3. Der Freispruch des Angeklagten kann keinen Bestand haben. Das Landgericht hat bereits die Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten infolge Alkoholkonsums nicht rechtsfehlerfrei festgestellt.

a) Dies betrifft schon die Feststellung der Blutalkoholkonzentration des Angeklagten zur Tatzeit. Zum einen legen die vom Urteil wiedergegebenen Zeugenaussagen und die darin enthaltenen Zeitangaben (UA S. 10) nahe, dass eine engere als die vom Landgericht vorgenommene Eingrenzung der Tatzeit möglich gewesen wäre. Zum anderen sind auch die vom Landgericht vorgenommenen Rückrechnungen der Blutalkoholkonzentration des Angeklagten (UA S. 7) nicht nachvollziehbar; sie entsprechen ersichtlich nicht den in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten Grundsätzen, wonach bei der Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten ein maximaler stündlicher Abbauwert von 0,2 ‰ zuzüglich eines einmaligen Sicherheitszuschlages von 0,2 ‰ zugrunde zu legen ist (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 1988 - 1 StR 231/88, BGHSt 35, 308, 314; Beschluss vom 18. Dezember 1986 - 4 StR 668/86, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 4).

b) Darüber hinaus ist die Beweiswürdigung des Landgerichts zur alkoholbedingten Schuldunfähigkeit des Angeklagten lückenhaft.

Sachverständig beraten stellt das Landgericht darauf ab, beim Angeklagten sei von einer „neurologisch bedeutend reduzierten Alkoholtoleranz“ auszugehen. Anhaltspunkte für einen Ausschluss seiner Steuerungsfähigkeit seien die völlige Wesensfremdheit der Tat, der vom Angeklagten durchaus glaubhaft angegebene „Black Out“ sowie „die anscheinende Sinnlosigkeit der Tat und das völlig fehlende nachtatliche Rückzugsverhalten“ (UA S. 13). Das Landgericht - wie auch der Sachverständige - hat damit das Nachtatverhalten des Angeklagten nicht umfassend in den Blick genommen. Es hat nicht gewürdigt, dass der Angeklagte nicht nur den kritischen Zustand des Geschädigten erkannte, sondern auch sachgerechte Maßnahmen ergriff, um diesen zu retten, indem er den im Hof beschäftigten Personen zurief, man möge „die SMH“ (Schnelle Medizinische Hilfe) rufen, der Geschädigte verblute. Nachdem auf den ersten Anruf niemand reagierte, wiederholte der Angeklagte seinen Ruf. Aus den im Urteil wiedergegebenen Schilderungen der sodann am Tatort eingetroffenen Zeugen ergibt sich darüber hinaus, dass der Angeklagte zwar stark alkoholisiert wirkte, jedoch ansprechbar und zu sinnvollen Reaktionen fähig war. Es erscheint nicht nachvollziehbar, inwiefern gerade der Umstand, dass der Angeklagte vor Ort blieb und für medizinische Hilfe sorgte, als „fehlendes nachtatliches Rückzugsverhalten“ für eine Aufhebung seiner Steuerungsfähigkeit sprechen soll. Die Tat war auch jedenfalls nicht in dem Sinne „sinnlos“, dass sie ohne Anlass geschah; denn die Zeugenaussagen weisen darauf hin, dass ihr ein Streit zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten vorausging.

4. Davon unabhängig ist auch die Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt nach § 64 StGB nicht rechtsfehlerfrei begründet. Angesichts der hervorgehobenen, im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung berücksichtigten Wesensfremdheit der Tat ist die Gefährlichkeitsprognose nicht ohne weiteres nachzuvollziehen. Es werden keine Anknüpfungstatsachen dargelegt, auf die der Sachverständige seine Prognose gestützt hat. Außerdem werden im Rahmen der Begründung der hinreichend konkreten Erfolgsaussicht einer Behandlung in einer Entziehungsanstalt keine Feststellungen zur voraussichtlichen Therapiedauer getroffen. Im Hinblick auf die zeitliche Begrenzung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf zwei Jahre (§ 67d Abs. 1 StGB), die im Falle ihrer isolierten Anordnung keiner Verlängerung unterliegt (vgl. § 67d Abs. 1 Satz 2 StGB), ist eine hinreichend konkrete Aussicht auf Erfolg der Maßregel nur dann anzunehmen, wenn die Behandlung voraussichtlich innerhalb der Zweijahresfrist erfolgreich abgeschlossen werden kann.

5. Die Sache bedarf daher einer umfassenden neuen Verhandlung und Entscheidung. Sollte das neue Tatgericht wiederum zum Ausschluss der Schuldfähigkeit des Angeklagten gelangen, so wird es bei der Prüfung des § 323a StGB von der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auszugehen haben, wonach die Begehung der Rauschtat objektive Bedingung der Strafbarkeit ist (vgl. BGH, Urteile vom 22. August 1996 - 4 StR 217/96, BGHSt 42, 235, 242; vom 1. Juni 1962 - 4 StR 88/62, BGHSt 17, 333, 334, und vom 2. Mai 1961 - 1 StR 139/61, BGHSt 16, 124, 127; vgl. auch OLG Hamm, Blutalkohol 51, 118 f.).

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 721

Bearbeiter: Christian Becker