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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 214

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 471/16, Urteil v. 07.02.2017, HRRS 2017 Nr. 214


BGH 5 StR 471/16 - Urteil vom 7. Februar 2017 (LG Cottbus)

Sicherungsverwahrung nach Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (Gefährlichkeit des Angeklagten; Hang zur Begehung von Straftaten; erhebliche Störung des Rechtsfriedens; wahrscheinliche Folgen der Tat; Gefahr schwerer psychischer Schäden; Ausbleiben der Folgen im Einzelfall).

§ 66 StGB; § 176a StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB als materielle Anordnungsvoraussetzung der Sicherungsverwahrung benannte Gefährlichkeit eines Angeklagten für die Allgemeinheit liegt vor, wenn infolge eines bei ihm bestehenden Hanges die bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht, dass er auch in Zukunft Straftaten begehen wird, die eine erhebliche Störung des Rechtsfriedens darstellen.

2. Als wesentlichen Anhaltspunkt für die Beurteilung der Erheblichkeit zu erwartender Straftaten nennt das Gesetz eine schwere seelische oder körperliche Schädigung der Opfer. Bezugspunkt sind demnach die wahrscheinlichen Folgen der zu erwartenden Straftaten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist bei Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden. Sie wird nicht ohne weiteres dadurch in Frage gestellt, dass aufgrund der konkreten Anlasstaten solche Schäden (zufällig) nicht eingetreten sind.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 27. Januar 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Teilfreispruch im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 13 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und acht Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkte und auf die Sachbeschwerde gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts bevorzugt der Angeklagte Sexualität mit Jungen. In den Jahren 1990, 1993 und 2006 war er wegen Taten des (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern zu Jugend- bzw. Freiheitsstrafen verurteilt worden, die er - teils nach Widerruf gewährter Strafaussetzungen - vollständig verbüßt hat. Ferner war der Angeklagte von 2007 bis 2014 unter anderem wegen Diebstahls zu weiteren, gleichermaßen in vollem Umfang verbüßten Freiheitsstrafen verurteilt worden.

Der deswegen unter Führungsaufsicht stehende Angeklagte missbrauchte im Zeitraum vom März bis Anfang Mai 2015 ein sechs- und ein siebenjähriges Nachbarskind, indem er insbesondere von einem der Jungen an sich den Oralverkehr vornehmen ließ, selbst an einem Jungen den Oralverkehr ausführte und bei beiden Jungen seinen Penis an den entblößten Analbereich hielt. Körperliche oder seelische Folgen der Taten bei den Geschädigten hat die Strafkammer nicht festgestellt.

2. Das Landgericht hat gegen den Angeklagten unter anderem Einzelfreiheitsstrafen von drei Jahren und neun Monaten, drei Jahren und drei Monaten sowie zweimal zwei Jahren und neun Monaten verhängt. Sachverständig beraten hat es jedoch die Anordnung der Sicherungsverwahrung abgelehnt. Es hat ausgeführt, dass zwar die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1a, 2 und 3 StGB gegeben seien und ein Hang zur Begehung gravierender Straftaten bestehe. Hingegen sei nicht feststellbar, dass der Angeklagte infolge dieses Hanges zu Straftaten neige, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden, und er deshalb zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich sei. Denn es seien weder schwere körperliche oder seelische Schäden bei den Opfern der Anlasstaten festzustellen noch Taten mit einer größeren Intensität zu erwarten.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

1. Die Revisionsbeschränkung auf den Maßregelausspruch ist wirksam. Weder aus den Erwägungen zur Strafzumessung noch aus denjenigen zur unterbliebenen Anordnung der Sicherungsverwahrung ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass das Landgericht zwischen beiden Rechtsfolgenentscheidungen einen Zusammenhang hergestellt hat, der eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließt (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 2015 - 1 StR 594/14 mwN).

2. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Verneinung des Vorliegens der materiellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB weist durchgreifende Rechtsfehler auf.

Das Landgericht ist von einem falschen rechtlichen Ansatz ausgegangen, indem es seinen Blick auf die durch die Anlasstaten verursachten Folgen verengt hat.

Die in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB als materielle Anordnungsvoraussetzung benannte Gefährlichkeit eines Angeklagten für die Allgemeinheit liegt vor, wenn infolge eines bei ihm bestehenden Hanges die bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht, dass er auch in Zukunft Straftaten begehen wird, die eine erhebliche Störung des Rechtsfriedens darstellen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2002 - 4 StR 416/02, NStZ-RR 2003, 108). Als wesentlichen Anhaltspunkt für die Beurteilung der Erheblichkeit zu erwartender Straftaten nennt das Gesetz eine schwere seelische oder körperliche Schädigung der Opfer. Bezugspunkt sind demnach die wahrscheinlichen Folgen der zu erwartenden Straftaten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist bei Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden (vgl. BGH, Urteile vom 24. März 2010 - 2 StR 10/10, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Erheblichkeit 7; vom 23. April 2013 - 5 StR 617/12, MüKoStGB/Ullenbruch/Drenkhahn/Morgenstern, 3. Aufl., § 66 Rn. 103; BeckOKStGB/Ziegler, 32. Edition, § 66 Rn. 14). Sie wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass aufgrund der konkreten Anlasstaten solche Schäden (zufällig) nicht eingetreten sind. Andere Umstände, die dafür sprechen könnten, dass sich die Gefahr bei künftigen entsprechenden Taten des Angeklagten nicht realisieren werde, sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB im Urteil die für Vortaten verhängten Einzelstrafen im Einzelnen dargestellt werden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. September 2009 - 5 StR 340/09; MüKoStGB/Ullenbruch/Drenkhahn/Morgenstern, aaO, § 66 Rn. 65 f.). Gleiches gilt - um eine Prüfung der Wahrung der sogenannten Rückfallverjährungsfrist des § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB zu ermöglichen - für die Tatzeiten der Vortaten und die exakte Dauer der Vorverbüßungszeiten (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 27. November 2009 - 3 StR 468/08, NStZRR 2009, 104).

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 214

Bearbeiter: Christian Becker