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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1032

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 363/15, Beschluss v. 15.09.2015, HRRS 2015 Nr. 1032


BGH 5 StR 363/15 - Beschluss vom 15. September 2015 (LG Dresden)

Unterlassene Hilfeleistung (Erforderlichkeit und Möglichkeit der Hilfeleistung; fehlende Feststellungen; Zubilligung einer „Schrecksekunde“).

§ 323c StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach ständiger Rechtsprechung muss einem Verunglückten selbst dann die dem Täter mögliche Hilfe geleistet werden, wenn sie schließlich vergeblich bleibt und sich die befürchtete Folge des Unglücks aus der Rückschau als von Anfang an als unabwendbar erweist; jedoch besteht keine Hilfspflicht mehr, sobald der Tod des Verunglückten eingetreten ist (vgl. BGHSt 32, 367, 381 mwN; siehe auch Urteil vom 24. Februar 1960 - 2 StR 579/59).

2. Die Hilfeleistung muss aber auch noch möglich sein. Hierbei ist dem vom Unglücksfall überrumpelten Hilfspflichtigen eine „Schrecksekunde“ zuzubilligen (vgl. BGH, Urteil vom 12. Januar 1993 - 1 StR 792/92, BGHR StGB § 323c Unglücksfall 3) und eine möglicherweise besonders kurze Zeitspanne der denkbaren Hilfe zu berücksichtigen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 20. März 2015, soweit dieser Angeklagte betroffen ist, nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben. Der Angeklagte wird freigesprochen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachbeschwerde Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts befand sich der Angeklagte am Tattag mit dem Nichtrevidenten R. in der Einzimmerwohnung des Tatopfers. Der Angeklagte und das Tatopfer tranken beträchtliche Mengen Alkohol, was beim Angeklagten zu einer maximalen Blutalkoholkonzentration von 3,71 ‰ und beim Opfer zu einer Blutalkoholkonzentration von 1,92 ‰ führte. Zwischen dem Nichtrevidenten und dem Opfer entstand ein Streit, in dessen Verlauf der Nichtrevident das Opfer zu Boden brachte. Er trat für den Angeklagten auch hinsichtlich der Gefährlichkeit erkennbar auf das wehrlos am Boden liegende Opfer mindestens fünfmal kräftig ein und verursachte schwerste innere Verletzungen. Dann half er dem Opfer auf, legte es auf das Sofa und deckte es zu. Um 21.35 Uhr rief er die Polizei an und teilte mit, dass das Opfer soeben gestorben sei. Der Notarzt dokumentierte um 21.45 Uhr den eingetretenen Tod. Der Angeklagte hatte nichts getan, um dem Opfer zu helfen.

2. Das Landgericht hat angenommen, dass es dem von der Tat „überrumpelten“ (UA S. 45) Angeklagten nicht zumutbar gewesen sei, gegen den „gewaltsam wütenden“ Nichtrevidenten einzuschreiten, weil er ihm auch wegen seiner eigenen desolaten körperlichen Verfassung von vornherein nicht gewachsen gewesen sei (UA S. 37). Jedoch sei es ihm, der nicht mit einem Mobiltelefon ausgestattet gewesen sei, zumindest möglich und zumutbar gewesen, die Wohnung zu verlassen und Nachbarn zu Hilfe zu rufen oder über Nachbarn die Polizei zu verständigen.

3. Der Schuldspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Schwurgerichtskammer hat das Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit der Hilfeleistung im Sinne des § 323c StGB nicht erkennbar und das Merkmal der Möglichkeit der Hilfeleistung nicht hinreichend erwogen, obwohl hierzu nach den gegebenen Umständen besonderer Anlass bestand.

Nach ständiger Rechtsprechung muss einem Verunglückten selbst dann die dem Täter mögliche Hilfe geleistet werden, wenn sie schließlich vergeblich bleibt und sich die befürchtete Folge des Unglücks aus der Rückschau als von Anfang an als unabwendbar erweist; jedoch besteht keine Hilfspflicht mehr, sobald der Tod des Verunglückten eingetreten ist (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 1984 - 3 StR 96/84, BGHSt 32, 367, 381 mwN; siehe auch Urteil vom 24. Februar 1960 - 2 StR 579/59).

Die Schwurgerichtskammer hat sich außerstande gesehen, die Tatzeit und den Zeitpunkt des Todeseintritts exakt festzustellen. Allerdings hat der Nichtrevident dem Opfer nach Abschluss der Gewalthandlungen gemäß den Urteilsgründen „aufgeholfen“ (UA S. 14). Diese Feststellung, die freilich im Rahmen der Beweiswürdigung keine Grundlage findet, könnte darauf hindeuten, dass die Schwurgerichtskammer davon ausgeht, das Opfer habe noch gelebt, bevor es auf das Sofa gelegt worden ist. Selbst wenn man dies annimmt, kommt in Betracht, dass es unmittelbar danach an seinen schweren inneren Verletzungen verstorben ist. Im Blick darauf wäre dem von der Tat „überrumpelten“ Angeklagten über die ihm zuzubilligende „Schrecksekunde“ hinaus (vgl. BGH, Urteil vom 12. Januar 1993 - 1 StR 792/92, BGHR StGB § 323c Unglücksfall 3) nur eine äußerst knappe und wegen seiner hochgradigen Alkoholisierung sowie der hinzukommenden körperlichen Beeinträchtigung („offenes Bein“) ersichtlich nicht ausreichende Zeitspanne verblieben, der ihm durch die Schwurgerichtskammer angesonnenen Hilfspflicht nachzukommen. Nicht ausgeschlossen ist auf der Basis der Feststellungen ferner, dass der Anruf des Nichtrevidenten bei der Polizei sogleich nach dem Ablegen des vielleicht noch lebenden Opfers erfolgt ist, wonach sich eine Hilfeleistung durch den Angeklagten aus diesem Grund erübrigt hätte.

In beiden gemäß den Feststellungen möglichen Sachverhaltsvarianten wäre der Angeklagte straffrei. Unter solchen Vorzeichen steht einem Schuldspruch der Zweifelssatz entgegen.

4. Der Senat schließt aus, dass noch Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung zulassen. Da lediglich ein Mangel in der rechtlichen Würdigung vorliegt, entscheidet er in der Sache selbst und spricht den Angeklagten gemäß § 354 Abs. 1 StPO frei.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1032

Externe Fundstellen: NStZ 2016, 153

Bearbeiter: Christian Becker