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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 573

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 556/10, Beschluss v. 23.02.2011, HRRS 2011 Nr. 573


BGH 5 StR 556/10 - Beschluss vom 23. Februar 2011 (LG Hamburg)

Schuldfähigkeit (langjähriger Drogenmissbrauch; schwerste Persönlichkeitsveränderungen); Sachverständiger; eigene Sachkunde.

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 246a StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 1. Juli 2010, soweit es ihn betrifft, gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.

Aufrecht erhalten bleiben allein die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen; insoweit wird die weitergehende Revision nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln jeweils in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die mit einer Verfahrensrüge und mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten hat den aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den Urteilsfeststellungen begann der Angeklagte bereits im Alter von 16 Jahren Drogen zu konsumieren, insbesondere auch Crack und Kokain. Er gab an, "infolgedessen an Beeinträchtigungen seiner Wahrnehmung gelitten, nämlich Stimmen gehört und weiße Mäuse gesehen zu haben" (UA S. 3). Von November 1998 bis Juni 1999 absolvierte der Angeklagte im Rahmen einer strafrechtlichen Verurteilung eine stationäre Drogentherapie. Die im Anschluss geplante ambulante Nachsorge fand aus ausländerrechtlichen Gründen nicht statt. Im Jahr 2003 kam es bei ihm wieder zu einem Drogenrückfall. Der Angeklagte gab insoweit an, erneut unter Wahnvorstellungen gelitten zu haben, so dass er abermals begann, Kokain, Alkohol und Valium zu sich zu nehmen. Nach einer weiteren Verurteilung zu einer Haftstrafe trat er, nachdem die Strafe zurückgestellt wurde, eine Drogentherapie an, die er regulär beendete. In der Folgezeit traten bei ihm - obwohl er zunächst Drogen mied - weiterhin Wahnzustände und Wahrnehmungsbeeinträchtigungen auf. Schließlich wurde er wieder rückfällig; er konsumierte bis zu seiner Verhaftung im Januar 2010 Crack. In der Untersuchungshaftanstalt diagnostizierte der Anstaltspsychiater eine schizophrene Psychose und paranoide Ängste, die medikamentös behandelt wurden. Der Angeklagte musste in einem besonders gesicherten Haftraum mit Beobachtungsmöglichkeit untergebracht werden, nachdem er berichtet hatte, "man sprühe nachts Betäubungsspray in seinen Haftraum, um ihn zwangsweise zu operieren" (UA S. 7).

Die Strafkammer geht zwar - ohne Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen - davon aus, dass der Angeklagte seit vielen Jahren an einer Drogenabhängigkeit erkrankt sei, "die begleitet wird von Symptomen einer psychiatrischen Erkrankung" (UA S. 13). Eine erhebliche Einschränkung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit läge bei ihm zur Tatzeit gleichwohl nicht vor, weil er sich nicht dahin eingelassen habe, unter akutem Entzug mit einem entsprechenden Beschaffungsdruck aus einer gefühlten persönlichen Zwangslage heraus gehandelt zu haben. Der Angeklagte sei umsichtig und koordiniert vorgegangen; die ihm erteilten Anweisungen habe er bei einem komplexen und mehraktigen Geschehensablauf planmäßig und zuverlässig ausgeführt. Ein Drogenrausch, ein akuter Entzug oder sonstige psychische Auffälligkeiten seien nicht festzustellen gewesen.

2. Die Wertung des Landgerichts, der Angeklagte sei voll schuldfähig gewesen, hält sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Urteilsgründe sind lückenhaft, weil die Strafkammer - worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hinweist - nicht erörtert hat, ob der langjährige Drogenmissbrauch des Angeklagten bei ihm schwerste Persönlichkeitsveränderungen hervorgerufen hat (vgl. Fischer, StGB, 58. Aufl., § 21 Rn. 13 mwN). Die vom Anstaltsarzt beim Angeklagten diagnostizierte schizophrene Psychose mit paranoiden Ängsten sowie die vom Angeklagten behaupteten Wahnzustände und Wahrnehmungsbeeinträchtigungen, die seinen Angaben zufolge auch bei längerer Drogenabstinenz auftreten würden, erforderten deshalb eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten eingeschränkt oder aufgehoben war.

Der Senat kann nicht ausschließen, dass Feststellungen getroffen werden, die sogar zur Annahme der Schuldunfähigkeit des Angeklagten Anlass geben könnten. Er hebt deshalb auch den Schuldspruch mit den Feststellungen auf. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen sind jedoch rechtsfehlerfrei getroffen; sie können daher bestehen bleiben. Das neue Tatgericht wird - unter Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen (§ 246a StPO) - auch zu prüfen haben, ob die bislang nicht erörterten Voraussetzungen des § 64 StGB, unter Umständen gar des § 63 StGB, vorliegen.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 573

Bearbeiter: Ulf Buermeyer