HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 173
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 104/10, Beschluss v. 20.05.2010, HRRS 2011 Nr. 173
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 3. September 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben; die Feststellungen bleiben mit Ausnahme der zu § 21 StGB getroffenen bestehen.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, wegen schweren Raubes, wegen Raubes in Tateinheit mit versuchter sexueller Nötigung und mit fahrlässiger Körperverletzung, wegen versuchter sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung sowie wegen vorsätzlicher Körperverletzung in vier Fällen, zweimal davon in Tateinheit mit Diebstahl, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die gegen dieses Urteil mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet nach § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Ausführungen, mit denen das Landgericht eine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten nach § 21 StGB verneint hat, halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Nach den Feststellungen der sachverständig beratenen Strafkammer ist die Persönlichkeit des Angeklagten bei einer dissozialen Entwicklung von einer Selbstwertstörung geprägt, die eine fetischistisch-sadistische Devianz nach sich gezogen hat. Der Defekt habe jedoch keine mehr als nur leichte Einschränkung des Steuerungsvermögens des Angeklagten bewirkt. Dies erweise sich daran, dass dieser beim Verkehr mit seiner Lebensgefährtin "auf den kleinsten Hinweis ihrerseits innehalten und von ihr ablassen" habe können (UA S. 62).
b) Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist nicht jede Devianz ohne Weiteres gleichzusetzen mit einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB; die Steuerungsfähigkeit kann allerdings dann beeinträchtigt sein, wenn abweichende Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz, durch Ausbau des Raffinements und durch gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnet (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 201; BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 10, 22).
Im vorliegenden Fall sind Anzeichen dafür vorhanden, dass der Angeklagte eine überdurchschnittliche Triebanomalie aufweist, die das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB erfüllt. Dem Angeklagten liegen neun nahezu identische sexuelle Gewalttaten gegenüber ihm völlig unbekannten Frauen zur Last. Dabei verfolgte er die Opfer jeweils bis in ein Gebäude, teils auch in deren Wohnung hinein und riss ihnen Slip bzw. Strumpfhose herunter. Teils berührte er sie an Vulva oder Anus, teils penetrierte er sie auch mit dem Finger. Wegen sechs ebenfalls gleichgelagerter Taten ist er bereits 1999 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und wegen einer abermals sehr ähnlichen Tat 2005 zu einer Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Ferner verbringt er einen wesentlichen Teil seiner Zeit damit, heimlich sein Mobiltelefon unter den Rock von Frauen zu halten und damit Fotos bzw. Videos von deren Schrittgegend herzustellen.
Bei dieser Sachlage durften die Voraussetzungen des § 21 StGB nicht mit einer derart knappen, wohl eine Wertung der psychiatrischen Sachverständigen übernehmenden Begründung ausgeschlossen werden. Vielmehr hätten die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen der Sachverständigen im Urteil so wiedergegeben werden müssen, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstiger Rechtsfehlerfreiheit erforderlich ist (vgl. BGHSt 7, 238, 239 f.; BGH NStZ 2003, 307, 308; NStZ-RR 2009, 45 f.). Der Umstand allein, dass der Angeklagte seiner Lebensgefährtin nicht in gleicher Weise Gewalt angetan hat, vermag dabei eine rechtlich relevante Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens des Angeklagten nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen. Hingegen liegen für eine Aufhebung der Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) keine Anhaltspunkte vor.
c) Der Rechtsfehler zieht den Wegfall des Strafausspruchs nach sich; auch die Anordnung der Sicherungsverwahrung kann keinen Bestand haben. Das gilt zudem deswegen, weil für den Fall, dass sich das neue Tatgericht von den Voraussetzungen des § 21 StGB sicher überzeugen sollte, zu prüfen sein wird, ob der Angeklagte in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen ist (§ 63 StGB). Gegebenenfalls wäre der Maßregel nach § 63 StGB unter den hier vorliegenden Umständen gegenüber der Sicherungsverwahrung der Vorrang einzuräumen (§ 72 StGB; vgl. BGHSt 42, 306, 308; BGH NStZ-RR 2007, 138, 139).
d) Die Feststellungen sind mit Ausnahme der zu § 21 StGB getroffenen fehlerfrei und können bestehen bleiben. Das Landgericht ist nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.
2. Für den Fall, dass das neu entscheidende Tatgericht einen Zustand verminderter Schuldfähigkeit nicht oder nicht sicher festzustellen vermögen sollte, weist der Senat darauf hin, dass die Erwägungen, mit denen das angefochtene Urteil die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB angenommen hat, durchgreifenden Bedenken begegnen.
Das Landgericht hat als Vorverurteilung im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB die durch das Amtsgericht Tiergarten in Berlin verhängte einheitliche Jugendstrafe von zwei Jahren herangezogen. Dabei hat es ausgeschlossen, dass das seinerzeit entscheidende Jugendschöffengericht wegen der beiden schwersten der sechs von ihm abgeurteilten Taten eine Jugendstrafe von unter einem Jahr verhängt hätte, sofern sie als Einzeltaten gesondert abgeurteilt worden wären. Dies steht zwar grundsätzlich in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 1 Vorverurteilungen 2 und 6; BGH NStZ-RR 2007, 171 f.; NStZ 2002, 29). Jedoch darf davon nur ausgegangen werden, wenn das Tatgericht Feststellungen darüber treffen kann, wie der Richter des Vorverfahrens die einzelnen Taten bewertet hat; er darf sich nicht an dessen Stelle setzen und im nachhinein eine eigene Strafzumessung vornehmen (BGH aaO). An diesbezüglichen Feststellungen fehlt es hier. 11 Jedoch wird das neue Tatgericht § 66 Abs. 2 (und 3) StGB zu prüfen haben. Die Voraussetzungen jener Vorschriften liegen - was das angefochtene Urteil auch nicht verkannt hat - unzweifelhaft vor.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 173
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2011, 170
Bearbeiter: Ulf Buermeyer