HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 714
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 225/09, Beschluss v. 09.07.2009, HRRS 2009 Nr. 714
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. Februar 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes und mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Von dem Vorwurf dreier weiterer Missbrauchstaten zum Nachteil der Nebenklägerin hat es den Angeklagten freigesprochen. Die Revision des Angeklagten rügt mit Erfolg die Verletzung sachlichen Rechts.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts missbrauchte der Angeklagte am Abend des 10. Dezember 2007 die damals 11-jährige Tochter M. seiner aus Nigeria stammenden Ehefrau, indem er gegen ihren Willen unter Einsatz körperlicher Gewalt in kurzem zeitlichem Abstand zweimal mit seinem Geschlechtsteil zumindest teilweise in ihre Scheide eindrang.
Der Ehefrau des Angeklagten war am folgenden Morgen aufgefallen, dass ihre Tochter "breitbeinig" laufe. Sie argwöhnte sofort, dass zwischen M. und dem Angeklagten "etwas Sexuelles" geschehen sei, und befragte ihre Tochter, die dies jedoch trotz intensiver Vorhalte zunächst verneinte. Nachdem M. aus der Schule zurückgekehrt war, befragte die Mutter sie erneut. Dabei drohte sie, mit M. zum Arzt zu gehen, der die Polizei rufen werde, wenn er feststelle, dass sie Sex gehabt habe. Nachdem M. sich versichert hatte, dass ihre Mutter niemandem etwas verraten würde, äußerte sie, dass "Papa mit ihr geschlafen" habe. Die Mutter erlitt daraufhin einen Herzanfall und musste im Krankenhaus behandelt werden. M. wurde polizeilich vernommen und berichtete den Sachverhalt, wie vom Landgericht festgestellt. Es sei das erste Mal gewesen, dass der Stiefvater sie unsittlich berührt habe. Sie sei jedoch mit neun Jahren von Freunden der Familie in Afrika schon einmal missbraucht worden. Bei der noch am selben Abend durchgeführten gynäkologischen Untersuchung wurde ein frischer Einriss ihres Hymenalsaums festgestellt. Nachdem die Mutter das Krankenhaus wieder verlassen hatte, drang sie weiter auf ihre Tochter ein und verlangte eine Erklärung, warum sie kein Blut in deren Bett gefunden habe. M. berichtete ihr daraufhin, dass der Angeklagte insgesamt fünfmal den Geschlechtsverkehr an ihr vollzogen habe; beim ersten Mal habe sie geblutet. Bei einer danach veranlassten erneuten frauenärztlichen Untersuchung wurde eine relativ weite Hymenalöffnung mit einem vergleichsweise abgeflachten Hymenalsaum festgestellt.
2. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand, da sie Lücken und im entscheidenden Punkt einen Denkfehler aufweist.
a) Der Angeklagte hat die ihm von der Anklage angelasteten Tatvorwürfe bestritten. Die Teilfreisprüche beruhen - soweit sie aus tatsächlichen Gründen erfolgt sind - darauf, dass die Jugendkammer die Verurteilung des Angeklagten nicht alleine auf die Aussagen des geschädigten Kindes zu stützen vermochte. Die Jugendkammer hat dabei in zutreffender Weise insbesondere berücksichtigt, dass bei der Würdigung der Aussage kindlicher Zeugen der Entstehungsgeschichte der Beschuldigung besondere Bedeutung zukommt (vgl. BGH StV 1994, 227; 1995, 6, 7; 1998, 250; 1999, 306; NStZ 2000, 496, 497). Nach dem eingeholten aussagepsychologischen Gutachten, dem sich das Landgericht aufgrund eigener Prüfung angeschlossen hat, bestanden nachvollziehbare Zweifel an der Realitätsbezogenheit der Aussagen. Der Sachverständige hat auf eine "mögliche bewusste oder suggerierte Falschbezichtigung" durch das Kind infolge der "extremen Einwirkung" der Mutter hingewiesen. Das Landgericht hat sich bei den Teilfreisprüchen - soweit sie aus tatsächlichen Gründen erfolgten - außerdem davon leiten lassen, dass die Angaben der Geschädigten zum Tatgeschehen nur zu den Randbedingungen einige Realkennzeichen aufwiesen und Inkonstanzen hinsichtlich der Häufigkeit des Geschehens zeigten. Schließlich hatte M. auch die zunächst gegenüber der Polizei erhobene Behauptung, sie sei bereits mit neun Jahren von Freunden der Familie in Afrika missbraucht worden, gegenüber dem Sachverständigen nicht aufrecht erhalten.
b) Das Landgericht hat zutreffend gesehen, dass angesichts der Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten als der einzigen Belastungszeugin, die zu Teilfreisprüchen hinsichtlich angeblicher früherer Taten führen, ihren Angaben zu der Tat vom Dezember 2007 nur insoweit gefolgt werden kann, als außerhalb ihrer Aussage Gründe von Gewicht für ihre Glaubhaftigkeit vorliegen (vgl. BGHSt 44, 153, 159). Indes ist ihr bei der Bewertung des die problematische Aussage stützenden Umstandes ein Denkfehler unterlaufen. Bei ihrer Überzeugungsbildung berücksichtigt die Jugendkammer, dass die Nebenklägerin das zur Verurteilung führende Geschehen "von Anfang an in mehreren Befragungen ... im wesentlichen in gleicher Weise ... und dabei auch einige Einzelheiten in Form von Hin- und Herbewegungen des Angeklagten mit dem Unterleib geschildert hat". Zwar könne auch diese Aussage isoliert betrachtet wegen des dargelegten, von der Mutter unbeabsichtigt auf die Tochter ausgeübten Drucks und der damit möglicherweise verbundenen suggestiven Wirkung den Angeklagten nicht überführen. Die Jugendkammer sieht jedoch in dem objektiven Befund des frisch eingerissenen Hymenalsaums "ein derart gewichtiges Indiz für die Täterschaft des Angeklagten, dass insoweit aufgrund der Angaben der Geschädigten in Verbindung mit der festgestellten Verletzung eine Verurteilung erfolgen musste".
Die Jugendkammer setzt sich dabei nicht mit der - nach ärztlichen Angaben bestehenden, indes lediglich am Rande erwähnten (UA S. 18) - Möglichkeit auseinander, dass die Verletzung auch durch eine andere traumatische Einwirkung verursacht worden sein kann, da sie es für ausgeschlossen hält, dass die Verletzung "zufällig gerade zu dem Zeitpunkt" auf andere Weise zustande gekommen sein kann. Diese Formulierung legt nahe, dass das Landgericht die belastende Aussage des Kindes und das Vorliegen einer frischen Verletzung des Hymens als Ereignisse gesehen hat, die aufgrund ihres "zufälligen" Zusammentreffens dafür sprechen, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat. Dieser Bewertung fehlt indes die Grundlage. Die Offenbarung des Kindes und seine Unterleibsverletzung trafen gerade nicht zufällig zusammen, standen vielmehr in einem Zusammenhang: Es war nämlich die von der Mutter aufgrund des "breitbeinigen" Laufens der Tochter angenommene Verletzung im Intimbereich, die zu der intensiven Befragung des Kindes führte. Aufgrund der angenommenen Unabhängigkeit des Verletzungsumstandes von der Aussage des Kindes hat die Strafkammer ihm die Bedeutung eines außerhalb der Aussage gelegenen Indizes zugemessen, die ihm nach den konkreten Begleitumständen des Falles nicht ohne weiteres zukommt. Das Landgericht hätte in diesem Zusammenhang erwägen und erörtern müssen, ob das Zusammentreffen von Verletzung und belastender Aussage auch darin eine Erklärung finden kann, dass die Verletzung auf andere Weise entstanden ist und es sich bei den belastenden Angaben des Kindes um eine von der Mutter suggerierte Falschaussage handelt.
3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass sich das neue Tatgericht trotz der sich nur auf den verurteilenden Teil erstreckenden Aufhebung im Rahmen der Beweiswürdigung eingehend auch mit den Freispruchsfällen zu befassen haben wird, obwohl eine Verurteilung insoweit nicht mehr möglich ist. Es wird zu klären haben, ob es etwa aussagekräftige Untersuchungen der von der Mutter gefundenen spermaverdächtigen Spuren in der nachts getragenen Hose ihrer Tochter gegeben hat. Den Hintergründen der ursprünglichen Angaben der Nebenklägerin über ihren zurückliegenden sexuellen Missbrauch in Afrika und der Zurücknahme dieser Behauptung wird erhöhte Aufmerksamkeit und Erörterung zu widmen sein.
HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 714
Bearbeiter: Ulf Buermeyer