HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 170
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 537/08, Beschluss v. 08.01.2009, HRRS 2009 Nr. 170
Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 3. Juli 2008 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes in vier Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Die dagegen mit einer Befangenheitsrüge (§ 338 Nr. 3 StPO) und der Sachrüge geführte Revision ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 3. Dezember 2008 unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Ebenfalls unbegründet ist die Verfahrensrüge, die Schwurgerichtskammer sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen.
1. Der Rüge liegt Folgendes zugrunde:
a) Der mit Ablauf des 30. April 2008 in den Ruhestand getretene Vorsitzende Richter am Landgericht F. hatte für die am 19. Februar 2008 beginnende Hauptverhandlung die Hinzuziehung eines Ergänzungsrichters angeordnet. Das Präsidium hat bestimmt, dass Vorsitzender Richter am Landgericht A. als Ergänzungsrichter mitzuwirken habe. Diesen Richter bestellte das Präsidium am 23. April 2008 mit Wirkung vom 1. Mai 2008 zum Vorsitzenden dieser Schwurgerichtskammer als Nachfolger des Vorsitzenden Richters am Landgericht F.
Vorsitzender Richter am Landgericht A. übernahm in der ersten Sitzung nach dem Ausscheiden des bisherigen Vorsitzenden den Vorsitz und führte das Verfahren bis zur Urteilsverkündung. Zum ständigen Vertreter des Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer war Richter am Landgericht S. bestimmt, der in dieser Sache als Berichterstatter tätig gewesen ist.
b) Die Revision macht geltend, die Schwurgerichtskammer sei in der Person des Vorsitzenden Richters am Landgericht A. vom 19. bis 27. Verhandlungstag nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, weil dieser Richter als nachrückender Ergänzungsrichter ohne gerichtsverfassungsrechtliche Legitimation den Vorsitz in der Hauptverhandlung geführt habe. Den Vorsitz hätte der ständige Vertreter des Strafkammervorsitzenden, Richter am Landgericht S. führen müssen.
2. Die Rüge ist - im Gegensatz zur Auffassung des Generalbundesanwalts - als Besetzungsrüge gemäß § 338 Nr. 1 StPO statthaft. Sie richtet sich zwar nicht gegen die Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Landgericht A. als Mitglied der Schwurgerichtskammer, sondern macht geltend, aus dem Kreis der vorschriftsmäßig berufenen Richter hätte ein anderer Richter den Vorsitz führen müssen. Indes ist auch die Bestimmung des Vorsitzenden Teil der vorschriftsmäßigen Besetzung im Sinn des § 338 Nr. 1 StPO.
a) Diese Auffassung liegt der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - wie selbstverständlich - zugrunde (vgl. BGHSt 21, 40, 43; 108, 111; 131, 133; 25, 54, 55). Als ausschlaggebend hierfür ist die normativ festgelegte herausgehobene Stellung des Vorsitzenden betrachtet worden, die es zu wahren gelte und die der 1. Strafsenat in BGHSt 25, 54, 55 f. wie folgt begründet und bewertet hat:
"Nach § 62 Abs. 1 GVG (jetzt § 21f GVG) führt den Vorsitz in der Strafkammer der Vorsitzende Richter. Sinn und Zweck dieser Vorschrift liegt darin, dass diese Stelle ein qualifizierter Richter innehaben soll. Zahlreiche Vorschriften von unterschiedlichem Gewicht (§§ 142 Abs. 1, 147 Abs. 5, 213 StPO, § 69 a.F., § 21 n.F. GVG, § 238 Abs. 1 StPO, §§ 194 Abs. 1, 176 GVG) kennzeichnen äußerlich seine Stellung und geben den Rahmen für die besonderen Aufgaben, die der Vorsitz mit sich bringt (vgl. hierzu auch Sarstedt, Juristen-Jahrbuch 8, 104 ff.): Die alsbaldige gründliche und zügige Durchführung der Hauptverhandlung, die im Interesse der Verfahrensbeteiligten und der Allgemeinheit liegt; die Beachtung der Prozessvorschriften zur Gewährleistung eines ‚fair trial'; die allseitige Aufklärung des Sachverhalts und der Schutz des Angeklagten. All dies ist zunächst in die Hand des Vorsitzenden gelegt. Voraussetzungen dafür sind ein oft umfangreiches Aktenstudium und die Überwindung organisatorischer Schwierigkeiten, wie sie die Gewinnung von geeigneten Sachverständigen und die zeitliche Koordinierung in einem durchdachten Verhandlungsplan darstellt (vgl. dazu auch DRiZ 1972, 42, 47). Schließlich obliegt es in erster Linie dem Vorsitzenden, bei wechselnder Zusammensetzung der Kammer, insbesondere beim Hinzutreten jüngerer richterlicher Mitglieder, Güte und Stetigkeit ihrer Rechtsprechung und damit letztlich die Rechtssicherheit in besonderem Maße zu gewährleisten (vgl. BGHSt 2, 71, 73; 21, 131, 133; BGHZ 37, 210, 212; 49, 64, 66)."
b) Diese Rechtsauffassung ist auch angesichts geänderter Gesetzeslage heute uneingeschränkt zutreffend (vgl. Diemer in KK StPO 6. Aufl. GVG § 21e Rdn. 4; § 21f Rdn. 1; Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl. GVG § 21f Rdn. 3).
Zwar obliegt es nach der Neufassung des § 21g GVG durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte vom 22. Dezember 1999 (BGBl I S. 2598, 2599) nicht mehr dem Vorsitzenden, sondern allen dem Spruchkörper angehörenden Berufsrichtern, die Geschäfte innerhalb überbesetzter Spruchkörper zu verteilen. Dabei muss der Beschluss über die Geschäftsverteilung hinreichend erkennen lassen, dass die Strafkammer und nicht der Vorsitzende das maßgebliche Kriterium für die richterliche Zuständigkeit festgelegt hat (BVerfG - Kammer - NJW 2005, 2540, 2541). Im Blick auf die Rechtsfindung im einzelnen Verfahren betrifft diese Verringerung der Entscheidungskompetenz des Vorsitzenden aber nur partiell dessen Vorbereitung und lässt den normativ begründeten richtungweisenden Einfluss des Vorsitzenden auf die Rechtsprechung unberührt (vgl. Breidling in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 21f GVG Rdn. 3; Meyer-Goßner aaO § 21f Rdn. 2; vgl. auch Diemer aaO § 21f Rdn. 2). Dem entspricht, dass die Bestellung eines Berichterstatters zur Steigerung der Effizienz des Spruchkörpers weiter dem Vorsitzenden vorbehalten werden kann (vgl. BGHZ [VGS] 126, 63, 79; Kissel/Mayer, GVG 5. Aufl. § 21g Rdn. 41; Meyer-Goßner aaO § 21g Rdn. 2; Diemer aaO § 21g Rdn. 2) und die Vorschrift des § 21f Abs. 2 GVG sogar betreffend die Vertretung des Vorsitzenden für das gesamte Geschäftsjahr die Bestimmung eines für diese Aufgabe am besten geeigneten Richters durch das Präsidium verlangt (vgl. Breidling aaO § 21f GVG Rdn. 17; Velten in SK StPO 49. Lfg. § 21f GVG Rdn. 4; Meyer-Goßner aaO § 21f Rdn. 9).
c) Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird nach der Neufassung des § 21g GVG am Gedanken des richtunggebenden Einflusses des Vorsitzenden festgehalten (vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2004, 3482, 3483). Es ist lediglich offen geblieben, ob er dem einfachen Recht zuzuordnen oder ob er gar verfassungsrechtlich verankert ist (BVerfG aaO).
3. Der Senat lässt offen, ob die Besetzungsrüge zulässig erhoben ist. Der Verteidiger hat weder zu Beginn der Hauptverhandlung nach Bekanntgabe der Besetzung einschließlich der Ergänzungsrichterbestellung noch nach Übernahme des Vorsitzes durch den eintretenden Ergänzungsrichter einen Einwand erhoben, der zu diesem Zeitpunkt zu einer sinnvollen sachlichen Prüfung durch das erkennende Gericht und damit möglicherweise zu einer Vermeidung einer Verfahrensrüge hätte führen können (vgl. BGHSt 51, 144, 147 f.; vgl. Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl. § 238 Rdn. 10).
Zwar ist nach bisherigem Verständnis die Präklusionsregelung des § 222b StPO i.V.m. § 338 Nr. 1 StPO auf Besetzungsfehler nicht anwendbar, die - wie hier von der Revision geltend gemacht - erst im Laufe der Hauptverhandlung eingetreten sind (BGHSt 44, 361, 364 m.w.N.; BGH StraFo 2005, 162, 163). Der Senat lässt indes offen, ob hieran festzuhalten ist (entsprechend BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2008 - 1 StR 322/08, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt; vgl. auch BGHR StPO § 222b Abs. 2 Satz 3 Besetzungsänderung 1) oder ob etwa in der vorliegenden Fallgestaltung - wie der Generalbundesanwalt meint - eine erweiternde Auffassung zum Anwendungsbereich von § 238 Abs. 2 StPO mangels Beanstandung zum Rügeverlust führen könnte (vgl. Schneider in KK 6. Aufl. § 238 Rdn. 28 ff.).
4. Die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Die Schwurgerichtskammer war mit Vorsitzendem Richter am Landgericht A. als Vorsitzendem vorschriftsmäßig besetzt.
Nach dem Übertritt des bisherigen Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer in den Ruhestand war das Präsidium des Landgerichts gemäß § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG berechtigt und verpflichtet, den ausgeschiedenen Vorsitzenden während des Geschäftsjahres im Wege eines Wechsels im Sinne dieser Vorschrift zu ersetzen. Die Nachfolgeregelung ist umfassend für die Schwurgerichtskammer erfolgt. Sie erfasst auch den Ausnahmefall einer begonnenen Hauptverhandlung, in welcher der neue Strafkammervorsitzende bislang als Ergänzungsrichter mitgewirkt hat. Sie ist gegenüber der zum Beginn des Geschäftsjahres gemäß § 21f Abs. 2 Satz 1 GVG getroffenen Vertreterregelung vorgreiflich (vgl. auch Meyer-Goßner aaO § 21f Rdn. 15).
Wollte man jene Neuregelung auf Fälle einer bereits begonnenen Hauptverhandlung nicht anwenden, gälte nichts anderes. Denn mit der Bestellung eines Vorsitzenden Richters zum Ergänzungsrichter, zumal desjenigen, der später als Nachfolger des zunächst amtierenden Vorsitzenden berufen wurde - was ausdrücklich im Blick auf dessen bevorstehende Pensionierung und seine deshalb drohende dauernde Verhinderung erfolgt ist (Revisionsbegründung Rechtsanwalt V. S. 9) - hat das Präsidium hier zugleich die Ersetzung des zunächst berufenen Strafkammervorsitzenden durch jenen Ergänzungsrichter für den Fall des Eintritts der drohenden dauernden Verhinderung des Vorsitzenden angeordnet. Diese im Sinne gebotener optimaler Verfahrensförderung sachgerechte Regelung (vgl. BGHSt 21, 108, 111 f.; 44, 161, 170; BGH, Beschluss vom 22. Mai 2007 - 5 StR 94/07) war mit dem Eintritt des Ergänzungsrichters in den Vorsitz zu befolgen.
HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 170
Externe Fundstellen: NStZ 2009, 471; StV 2010, 349
Bearbeiter: Ulf Buermeyer