HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 382
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 532/08, Urteil v. 26.02.2009, HRRS 2009 Nr. 382
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Zwickau vom 3. Juli 2008 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Schwurgerichtskammer des Landgerichts Chemnitz zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Aussetzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt und sie aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf des Mordes und der Misshandlung Schutzbefohlener freigesprochen. Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt und sich im Wesentlichen dagegen wendet, dass die Angeklagte nicht wegen Aussetzung mit Todesfolge und Misshandlung Schutzbefohlener verurteilt wurde. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat hierzu folgende Feststellungen getroffen:
Die Angeklagte lebte mit ihren Söhnen, dem zweijährigen R. und dem vierjährigen L., zusammen. R. war ein gesundes, kräftiges und altersgerecht entwickeltes Kind. Nach dem 14. Dezember 2007 war er jedoch kränklich, blass und hatte keinen Appetit mehr. Die Angeklagte bemerkte, dass er innerhalb weniger Tage an Gewicht verlor. Am 19. und 20. Dezember 2007 versuchte er noch erfolglos, die ihm von der Angeklagten angebotene Trinkflasche zu halten. Am 21. Dezember 2007 versuchte er dies nicht mehr. Er aß an dem Tag auch nichts. Die Angeklagte plante, am 22. Dezember 2007 ihren weit entfernt wohnenden neuen Freund zu besuchen. Bemühungen, für R. eine Betreuung zu finden, scheiterten. So entschloss sie sich, R. allein in der Wohnung zu lassen, während sie L. mitnahm. Bevor sie gegen 4.15 Uhr am Abreisetag die Wohnung verließ, legte sie R. in sein Gitterbett, welches er nicht verlassen konnte. Die Angeklagte legte neben das Kind eine Babytrinkflasche mit 280 Milliliter Flüssigkeit und einige Butterkekse.
Die Angeklagte, die ursprünglich am 23. Dezember 2007 wieder nach Hause fahren wollte, entschloss sich dann jedoch, noch einen Tag länger bei ihrem Freund zu bleiben. Diesem spiegelte sie vor, dass die R. betreuende Freundin noch einen Tag länger auf ihn aufpassen würde. Sie kehrte erst am 24. Dezember 2007 gegen 23.00 Uhr in ihre Wohnung zurück. Dort bemerkte sie, dass die Kekse und die entleerte Trinkflasche, deren Inhalt möglicherweise verschüttet worden war, neben dem Bett lagen. Sie "sah, dass es R. sehr schlecht ging" (UA S. 20). In den nächsten Stunden aß er nichts und trank kaum noch. Die Angeklagte holte keinen Arzt, da sie "fürchtete, dass dieser das Jugendamt verständigt hätte. Sie dachte, sie könne R. allein gesund pflegen" (UA S. 21). Am Nachmittag des 26. Dezember 2007 starb R. infolge Nahrungs- und Flüssigkeitsmangels.
Das Kind R. wies zum Todeszeitpunkt ein deutliches Untergewicht auf. "Am Abreisetag der Angeklagten, am 21.12.2007, hätte R. bei intensivmedizinischer Behandlung noch gerettet werden können" (UA S. 46). Für den Zeitpunkt der Rückkehr der Angeklagten konnte dies nicht sicher festgestellt werden.
2. Das Landgericht hat den objektiven Tatbestand der Aussetzung gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 StGB im Ergebnis zutreffend (vgl. BGHSt 21, 44) bejaht und einen "Aussetzungsvorsatz" (UA S. 52) angenommen. Einen bedingten Tötungsvorsatz hat es hingegen abgelehnt, da die Angeklagte aufgrund ihrer Borderline-Persönlichkeitsstörung die mit dem Verlassen des Kindes verbundene Todesgefahr nicht habe erkennen können (UA S. 48). Aus diesem Grund scheide ein Misshandlungsvorsatz ebenso aus wie die Annahme, der Tod des Kindes sei durch die Angeklagte zumindest fahrlässig (§ 18 StGB) herbeigeführt worden und die Voraussetzungen des § 221 Abs. 3 StGB seien erfüllt.
3. Die rechtliche Würdigung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Sie beruht mit den ihr zugrunde gelegten Feststellungen auf grundlegend widersprüchlichen Überlegungen.
Es ist nicht nachvollziehbar, wieso die Angeklagte einerseits hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale des § 221 Abs. 1 StGB vorsätzlich handelte, andererseits aber nicht in der Lage gewesen sein soll, die durch das Verlassen hervorgerufene Todesgefahr für das Kind im Sinne des § 221 Abs. 3 StGB zu erkennen. Denn der von der Strafkammer angenommene Vorsatz der Aussetzung setzt das Bewusstsein der Angeklagten voraus, ihr Verhalten werde zu einer bedrohlichen Verschlechterung der Lage des Hilfsbedürftigen führen (vgl. hierzu BGH NStZ 1985, 501; 2008, 395, 396). War die Angeklagte aber zu einer solchen Bewusstseinsbildung fähig, erschließt sich nicht, dass für sie der mögliche Tod des ohnehin deutlich geschwächten Kindes, welches nicht mehr ohne fremde Hilfe Flüssigkeit zu sich nehmen konnte, nicht erkennbar war. Dies gilt zumal, da das Landgericht selbst zu dem Schluss kommt, dass der Angeklagten "grundsätzlich bewusst" war, dass "nur ein paar Kekse und etwas zu trinken für R. zu wenig war" (UA S. 53). Ebenso wenig ist die Annahme nachzuvollziehen, die Voraussetzungen des § 225 Abs. 1 Nr. 1 dritte Variante, Abs. 3 Nr. 1 erste Alternative StGB lägen nicht vor. Sie liegen vielmehr neben § 221 Abs. 1 StGB hier ganz offensichtlich auf der Hand.
Die Ausführungen des Landgerichts, die Todesfolge sei für die Angeklagte aufgrund ihrer Borderline-Störung nicht vorhersehbar gewesen, da ihr eine "rationale Entscheidung nicht mehr möglich" (UA S. 53) gewesen sei, wecken durchgreifende Bedenken, weil in rechtsfehlerhafter Weise Aspekte der Schuld-, insbesondere der Steuerungsfähigkeit, mit solchen des subjektiven Tatbestands vermengt worden sein könnten. Sie stehen zudem in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis zu Einzelfeststellungen über Erkenntnisse und Verhaltensweisen der Angeklagten.
So hat die Angeklagte nach den Feststellungen den vor ihrer Abreise bereits eingetretenen Gewichtsverlust des Kindes genauso erkannt wie den Umstand, dass es die Flasche nicht mehr halten konnte. Zudem war sie nach ihrer Einlassung - wenn auch nicht ausschließbar erst zu einem Zeitpunkt, als der Tod des Kindes nicht mehr abzuwenden war - nicht nur in der Lage zu erkennen, dass es R. sehr schlecht gehe, sondern auch, dass er einen Arzt brauche. Vor dem Hintergrund der angenommenen verzerrten Wahrnehmung erklärt sich auch nicht, dass die Angeklagte eine tatsächlich nicht gewährleistete Betreuung ihres Kindes vorgespiegelt hat, um die Verlängerung ihres Fernbleibens vor Dritten zu rechtfertigen. Auch aus dem im Übrigen festgestellten Verhalten der Angeklagten sind keine Anhaltspunkte für eine nicht der Realität entsprechende Wahrnehmung erkennbar. So hat sie sich nach ihrer Einlassung dazu entschlossen, R. statt L. zu Hause zu lassen, da der Ältere sich bemerkbar gemacht hätte, während R. ruhiger gewesen sei. Dies scheint eine am Alter der Jungen orientierte realistische Einschätzung des Risikos zu offenbaren, dass das Verlassen des Jungen entdeckt werde. Dass all diese Umstände einer relevanten Verkennung der Tatsachengrundlage ebenso im Wege stehen können wie die angenommene erhaltene Einsichtsfähigkeit (vgl. hierzu BGH NStZ 2008, 510, 511 f.), hat das Landgericht nicht erkennbar bedacht. Nachvollziehbar erscheint nach dem Zusammenhang der Feststellungen allein, dass die Angeklagte die von ihrem Verhalten ausgehende Gefahr für das Wohlergehen ihres Kindes aufgrund ihrer psychischen Störung immer wieder vorübergehend über längere Zeit verdrängen konnte. Dagegen dürfte eine durchgehende Verkennung dieser Gefahr fern liegen, was aber allein für eine Verneinung des Misshandlungsvorsatzes, einer auf den Tod des Kindes bezogenen Fahrlässigkeit oder sogar eines Tötungsvorsatzes (vgl. hierzu die Senatsbeschlüsse vom 31. März 2004 - 5 StR 351/03 sowie in NStZ 2007, 402) tragfähig sein könnte.
4. Das Urteil kann bereits aus diesen Gründen insgesamt keinen Bestand haben. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird insbesondere Gelegenheit haben, die Fragen der Todeskausalität der Untätigkeit der Angeklagten, der Vorhersehbarkeit des Todeserfolges, des Vorsatzes hinsichtlich der Misshandlung von Schutzbefohlenen und eines Tötungsvorsatzes - unter Berücksichtigung aller maßgeblichen verschiedenen Zeitpunkte, insbesondere auch des vom Landgericht nicht näher bedachten Zeitpunkts, zu dem die Angeklagte sich entschloss, noch einen Tag länger bei ihrem Freund zu bleiben - erneut zu erörtern.
Der Senat hebt auch die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen auf. Sie beruhen wesentlich auf den Angaben der Angeklagten zu ihren Wahrnehmungen. Insoweit darf dem neuen Tatgericht durch eine Teilaufrechterhaltung von Feststellungen nicht die Möglichkeit genommen werden, gerade auf der Grundlage dieser Erkenntnisquelle unter Berücksichtigung der weiteren zu gewinnenden Erkenntnisse über den Zustand des Kindes umfassend einheitliche widerspruchsfreie Feststellungen zu treffen.
HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 382
Externe Fundstellen: NStZ 2009, 385
Bearbeiter: Ulf Buermeyer