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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 543

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 44/08, Urteil v. 15.04.2008, HRRS 2008 Nr. 543


BGH 5 StR 44/08 - Urteil vom 15. April 2008 (LG Braunschweig)

Bedingter Tötungsvorsatz; Rücktritt vom unbeendeten Versuch; verminderte Schuldfähigkeit (Aufklärungspflicht; Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen; ungewöhnliche Diskrepanzen zwischen Tatbild und Täterpersönlichkeit).

§ 15 StGB; § 24 StGB; § 212 StGB; § 21 StGB; § 244 Abs. 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Tatgericht in Kapitalstrafsachen ist nicht stets aus Gründen der Aufklärungspflicht zur Hinzuziehung eines Schuldfähigkeitsgutachters verpflichtet ist (vgl. den zur Veröffentlichung in BGHR bestimmten Beschluss des 1. Strafsenats vom 5. März 2008 - 1 StR 648/07). Dies ändert freilich nichts daran, dass namentlich in Schwurgerichtssachen, beispielsweise aber auch bei Brandstiftungsdelikten, in der Mehrzahl der Fälle besonders gelagerte Tatbilder und Persönlichkeitskonflikte zu beurteilen sind, die den Tatgerichten - und bereits der Staatsanwaltschaft - schon frühzeitig im Verfahren begründeten Anlass geben, einen psychiatrischen Sachverständigen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten heranzuziehen; nicht selten gebietet dies die Aufklärungspflicht.

2. Auch jenseits davon wird mit der frühzeitigen Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Schuldfähigkeit in Fällen dieser Art der zeitgerechten Sacherledigung optimal Rechnung getragen. Es wird so vermieden, dass sich das Tatgericht erst in der Hauptverhandlung - mehr oder weniger deutlich vorhersehbar - mit gewichtigen seelischen Konfliktsituationen des Angeklagten bei Begehung der Tat konfrontiert sieht, ohne dass es sich noch selbst zutrauen dürfte, deren Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit beurteilen zu können.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 17. Oktober 2007 wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seiner Revision und die dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Schwurgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die nach der Revisionshauptverhandlung nurmehr mit einer Verfahrensrüge und der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.

1. Der - nach dem Genuss von höchstens 1,3 Litern Bier leicht angetrunkene - Angeklagte begab sich am frühen Abend des Tattages zu einer Verabredung mit dem Nebenkläger, mit dem er Streit um eine von ihm zutreffend für unberechtigt gehaltene Geldforderung des Nebenklägers über 500 Euro - im Zusammenhang mit dem Verhältnis beider Männer zu einer Prostituierten sechs Jahre zuvor - hatte. Während der unbewaffnete Nebenkläger sechs Begleiter zu dem Treffen mitbrachte, hatte der Angeklagte nur zwei Männer als Beistand; er hatte indes ein Springmesser eingesteckt und hielt in seinem Fahrzeug einen Baseballschläger und - verborgen - ein weiteres Springmesser griffbereit. Nach einem getrennt von den jeweiligen Begleitern geführten verbalen Streit zwischen den Kontrahenten begab sich der Angeklagte zu seinem Fahrzeug, der Nebenkläger folgte ihm, bemerkte den im Auto des Angeklagten liegenden Baseballschläger, wollte ihn ergreifen, wurde daran jedoch von einem auf dem Beifahrersitz sitzenden Begleiter des Angeklagten gehindert, der seinerseits den Schlagstock ergriff. In dieser Situation rief der Nebenkläger - einer Mahnung des Angeklagten zuwiderhandelnd - seine Begleiter herbei. Als diese sich daraufhin näherten, zog der Angeklagte das Springmesser aus der Tasche und stach damit dem ihm in diesem Moment den Rücken zuwendenden Nebenkläger unvermittelt zweimal in den Rücken und sodann, als dieser sich umwandte, mit erheblicher Gewalt zweimal tief in die Brust, schließlich, als der schwer verletzte, am Herzbeutel getroffene Nebenkläger sich zu seinen sich nähernden Begleitern zu schleppen anschickte, nochmals von hinten in die Schulter. Der Angeklagte, der bei den Bruststichen den Tod des Nebenklägers billigend in Kauf genommen hatte, fuhr alsbald mit seinem Fahrzeug davon. Seine Begleiter überredeten ihn erfolgreich, sich der Polizei zu stellen. Der lebensgefährlich verletzte Nebenkläger wurde von seinen Begleitern ins Krankenhaus gefahren und durch eine Notoperation gerettet.

1. Die Verfahrensrüge greift nicht durch. Zu Wahrunterstellungen im Zusammenhang mit dem Eindruck eines Polizeibeamten bei der freiwilligen Selbststellung hat sich das Schwurgericht im Urteil nicht in Widerspruch gesetzt.

Die in dieser späteren Situation bemerkte enttäuschte Erwartung des Angeklagten, der Nebenkläger werde nicht schwer verletzt sein, stellt bei seinem beobachteten und durch die tatsächlich erlittenen Verletzungen objektivierten Tatverhalten die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes und - angesichts des von Zeugen beobachteten, selbstverständlich auch vom Angeklagten bemerkten Erscheinungsbildes des mit bluttriefender Oberbekleidung fortwankenden Opfers - die Annahme mangelnden Rücktritts vom beendeten Versuch nicht in Frage.

2. Aus diesen Gründen versagen zugleich die sachlichrechtlichen Einwände der Revision gegen den Tötungsvorsatz und die Versagung eines strafbefreienden Rücktritts. Auch sonst bleibt die Sachrüge ohne Erfolg.

a) Rechtswidrigkeit und Schuld stehen außer Frage. Auch die Verneinung der Voraussetzungen des § 21 StGB durch das Schwurgericht ohne Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe ist sachlichrechtlich nicht zu beanstanden.

Zutreffend hat das Schwurgericht weder aus der leichten Alkoholisierung des Angeklagten noch aus seiner affektiven Erregung Anhaltspunkte für eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten abgeleitet, der sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Nebenkläger durch seine Bewaffnung vorbereitet, sich geordnet vom Ort des Geschehens zurückgezogen und ferner eine detailreiche Erinnerung an das Tatgeschehen hatte. Unter diesen Voraussetzungen liegt ersichtlich kein Fall vor, in dem sich aus ungewöhnlichen Diskrepanzen zwischen Tatbild und Täterpersönlichkeit schon sachlichrechtlich entgegenstehende Anhaltspunkte ergeben hätten, die dem Schwurgericht eine eigene Beurteilung der Schuldfähigkeit ohne sachverständige Hilfe nicht erlaubt hätten, wie es bei der Fallgestaltung gegeben war, die dem Senatsurteil vom 30. August 2007 - 5 StR 197/07 (BGHR StGB § 21 Sachverständiger 13) zugrunde lag, in dem der Generalbundesanwalt Anlass zu einem Terminsantrag gefunden hat.

Einen auf eine relevante Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit zielenden Beweisantrag hat der Angeklagte - anders als im Fall des weiteren vom Generalbundesanwalt herangezogenen Senatsurteils vom 30. August 2007 - 5 StR 193/07 (BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Sachkunde 13) - ebenso wenig zum Gegenstand seiner Revision gemacht wie eine dahingehende Aufklärungsrüge (vgl. hierzu den Senatsbeschluss vom 29. November 2006 - 5 StR 329/06, NStZ-RR 2007, 83). Indes hätte auch insoweit gegolten, dass das Tatgericht in Kapitalstrafsachen nicht stets - so absehbar auch nicht unbedingt im vorliegenden Fall - aus Gründen der Aufklärungspflicht zur Hinzuziehung eines Schuldfähigkeitsgutachters verpflichtet ist (vgl. den zur Veröffentlichung in BGHR bestimmten Beschluss des 1. Strafsenats vom 5. März 2008 - 1 StR 648/07).

Dies ändert freilich nichts daran, dass namentlich in Schwurgerichtssachen, beispielsweise aber auch bei Brandstiftungsdelikten, in der Mehrzahl der Fälle besonders gelagerte Tatbilder und Persönlichkeitskonflikte zu beurteilen sind, die den Tatgerichten - und bereits der Staatsanwaltschaft - schon frühzeitig im Verfahren begründeten Anlass geben, einen psychiatrischen Sachverständigen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten heranzuziehen; nicht selten gebietet dies die Aufklärungspflicht. Auch jenseits davon wird mit der frühzeitigen Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Schuldfähigkeit in Fällen dieser Art der zeitgerechten Sacherledigung optimal Rechnung getragen. Es wird so nämlich vermieden, dass sich das Tatgericht erst in der Hauptverhandlung - mehr oder weniger deutlich vorhersehbar - mit gewichtigen seelischen Konfliktsituationen des Angeklagten bei Begehung der Tat konfrontiert sieht, ohne dass es sich noch selbst zutrauen dürfte, deren Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit beurteilen zu können.

b) Die Strafrahmenbestimmung, insbesondere die Versagung des § 213 StGB, ist nicht zu beanstanden. Dem nicht unbeträchtlichen Mitverschulden des Nebenklägers an der Eskalation des Streits durch sein verwerfliches Vorverhalten ist in der auch sonst nicht zu beanstandenden Strafzumessung hinreichend Rechnung getragen worden.

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 543

Bearbeiter: Karsten Gaede