HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1126
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 384/08, Urteil v. 13.11.2008, HRRS 2008 Nr. 1126
1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 27. November 2007 und die sofortigen Beschwerden der Staatsanwaltschaft gegen die den Angeklagten zugesprochene Entschädigung werden verworfen.
2. Die Staatskasse hat die Kosten der Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und die den Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Der Nebenkläger hat die Kosten seiner Rechtsmittel und die den Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat die Angeklagten vom Vorwurf des (gemeinschaftlichen) versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung freigesprochen. Die dagegen gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers Ba. haben keinen Erfolg.
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) In den Abendstunden des 31. August 2006 trafen sich die Angeklagten, die Berufsboxer sind, mit drei jungen Männern und fuhren in zwei Personenkraftwagen den Kurfürstendamm auf und ab. Sie kauften in der Kantstraße zwei Schachteln Eier. Damit bewarfen sie auf dem Breitscheidplatz Passanten. Die Jacke und der Rucksack des Nebenklägers wurden getroffen. Dieser war darüber außer sich. Er nahm eine am Boden liegende Flasche auf und schlug deren Kopf ab. Danach rief er telefonisch die Polizei, entledigte sich der Flasche und verfolgte mit seinen arabischen Freunden die Angeklagten. Diese zogen sich in ihren Pkw zurück. Der Nebenkläger trat gegen die rechte Seite des Wagens und versuchte vergeblich, dessen hintere Tür zu öffnen. Weitere Araber umstellten drohend das Fahrzeug der Angeklagten.
Diesen gelang die Flucht. Sie hielten in Höhe des Hotels Kempinski an und stellten Beschädigungen am Pkw fest. Die darüber erbosten Angeklagten und der ehemalige Beschuldigte Co. kehrten zum Breitscheidplatz zurück, der Angeklagte I. als Erster mit einem Taxi, um Ba. zur Rede zu stellen und die Angelegenheit "zu klären".
Der Nebenkläger und dessen Bekannte umringten den Angeklagten I. Der Nebenkläger hob erneut eine Flasche auf, zerschlug sie und hielt deren Hals in der Hand. Ba. beleidigte den Angeklagten I., der den Nebenkläger daraufhin beschimpfte. Ein Vermittlungsversuch des Zeugen N. scheiterte. Die Stimmung wurde aggressiver. Der Angeklagte I. versetzte einem "kleinen Araber", der sich vor ihm aufgebaut hatte, aus "Reflex" eine Ohrfeige oder einen Faustschlag und flüchtete über den Kurfürstendamm in die Rankestraße (UA S. 7). Bei dessen Verfolgung "rannte der Nebenkläger den Angeklagten A. fast über den Haufen" (UA S. 8). Der Angeklagte A. wich ihm etwas aus und schubste ihn kräftig in die Seite von sich weg. Der Nebenkläger stürmte etwas verlangsamt weiter. Der Angeklagte A. griff während des Nachsetzens nach ihm, "ohne ihn richtig zu packen zu bekommen" (UA S. 8).
Der mit einem abgebrochenen Flaschenhals bewaffnete Nebenkläger holte mit seinen Bekannten den Angeklagten I. in der Rankestraße ein. Sie umzingelten ihn. I. schlug einem "kleineren Araber", der ihn mit einem Messer bedroht hatte, mit einem Faustschlag nieder (UA S. 7). Dessen Messer hob I. auf und hielt es drohend gegen die ihn umringenden Araber. Der Nebenkläger kam mit dem Flaschenhals in der Hand auf ihn zu und machte Anstalten, I. anzugreifen. Der Angeklagte stach achtmal auf Ba. ein. Dies führte zu acht Verletzungen, von denen zwei lebensgefährlich waren: Ein Stich in den Oberbauch verletzte Leber und Zwerchfell; ein weiterer Stich in den Rücken reichte bis zur Fettkapsel der rechten Niere.
Nach einem Zuruf von A. flüchtete I. mit diesem vor den sie verfolgenden Arabern.
b) Das Landgericht vermochte die Reihenfolge der beigebrachten Stichverletzungen nicht zu klären. Zu Gunsten des Angeklagten I. ging es davon aus, dass die beiden lebensgefährlichen Stichverletzungen zum Schluss gesetzt wurden. Es hat die Messerstiche des I. als durch Notwehr gerechtfertigt angesehen. Hilfsweise hat es im Blick auf den gravierenden psychischen Ausnahmezustand des Angeklagten jedenfalls eine Entschuldigung gemäß § 33 StGB angenommen.
Den Freispruch des Angeklagten A. hat es damit begründet, dass dieser noch nicht unmittelbar zur Vornahme einer Körperverletzungshandlung angesetzt habe.
2. Die nur mit Sachrügen angegriffenen Freisprüche halten rechtlicher Überprüfung im Ergebnis stand.
a) Hinsichtlich des Angeklagten I. hat das Landgericht sich davon überzeugt, dass der Nebenkläger mit einem Flaschenhals bewaffnet auf den umzingelten Angeklagten eingedrungen ist und hierdurch ein gegenwärtiger Angriff im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB vorlag, der I. zur Gegenwehr berechtigte (vgl. BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 1; BGH, Urteil vom 31. Januar 2007 - 5 StR 404/06 Rdn. 16). Diese Würdigung ist vom Revisionsgericht nicht zu beanstanden (vgl. BGH NJW 2006, 925, 928, insoweit nicht in BGHSt 50, 299 abgedruckt).
aa) Das Tatgericht ist gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO aus sachlichrechtlichen Gründen verpflichtet, all das festzustellen und darzulegen, was für die Beurteilung des Tatvorwurfs relevant und zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler notwendig ist (vgl. BGH NJW 2008, 2792, 2793 m.w.N., zur Aufnahme in BGHSt bestimmt). Bei der hier in Frage stehenden Prüfung einer Rechtfertigung durch Notwehr ist es geboten, Art und Umfang der vom Angegriffenen ausgeführten Verteidigungshandlungen festzustellen und darzulegen. Nur so kann bewertet werden, ob noch eine erforderliche Verteidigung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB gegeben oder diese bereits überschritten ist (vgl. BGHSt 42, 97, 100).
Daran fehlt es hier allerdings. Zwar begegnet es keinen durchgreifenden Bedenken, dass das sachverständig beratene Landgericht die beiden lebensgefährlichen Stiche als die zuletzt ausgeführten angesehen hat. Die Feststellungen zur Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 StGB sind jedoch nicht ausreichend. Es lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, wieso ein derartiges Maß an Einwirkung (u. a. zwei lebensgefährliche Stiche) notwendig gewesen sein soll, um einen "bevorstehenden Angriff" des Nebenklägers abzuwehren (UA S. 20, 21).
bb) Dieser Rechtsfehler nötigt aber nicht zur Aufhebung des Freispruchs.
Als letztlich noch tragfähig erweist sich nämlich die Hilfserwägung des Landgerichts, mit der es die Voraussetzungen des § 33 StGB angenommen hat. Die Anwendung des § 33 StGB setzt voraus, dass während der Vornahme aller Verteidigungshandlungen, die unter § 33 StGB fallen sollen, eine Notwehrlage, mithin ein gegenwärtiger Angriff vorliegt (vgl. BGH NStZ 1987, 20; 2002, 141, 142; Fischer, StGB 55. Aufl. § 33 Rdn. 2). Solches wird auch angenommen, wenn bei den das erforderliche Maß überschreitenden Notwehrhandlungen die Intensität des Angriffs bereits nachgelassen hat oder die unmittelbare Wiederholung des Angriffs zu befürchten ist (BGH NStZ 1987, 20). Das Landgericht hat eine durchgängig bestehende Notwehrlage rechtsfehlerfrei festgestellt und zudem mit sachverständiger Hilfe bejaht, dass der Angeklagte I. aufgrund einer akuten Belastungsreaktion (Angst) das erforderliche Maß der Notwehrhandlung überschritten hat. Diese Darlegungen sind nachvollziehbar und belegen den für § 33 StGB erforderlichen asthenischen Affekt. Allein der Umstand, dass der Angeklagte I. Berufsboxer ist, widerspricht dem - entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft - nicht.
b) Die hinsichtlich der Mitwirkung des Angeklagten A. am Tatgeschehen getroffenen Feststellungen sind das Ergebnis einer vollständigen, das Revisionsgericht bindenden Beweiswürdigung. Der Senat ist zu einer abweichenden Gesamtwürdigung der belastenden Indizien nicht befugt (BGH NJW 2005, 2322, 2326; BGH NStZ-RR 2008, 146, 147).
Die Subsumtion des Landgerichts offenbart im Ergebnis keinen Rechtsfehler. Zwar ist den Revisionen zuzugeben, dass das festgestellte Zupacken einen Beginn der Ausführungshandlung einer Körperverletzung darstellen könnte. Näherer Erörterung bedarf dies aber nicht, weil der Entschluss des Angeklagten, den Nebenkläger zu verletzen, zu diesem Zeitpunkt noch nicht endgültig gefasst war. Der Angeklagte war nämlich zur Körperverletzung des Ba. nur unter den Bedingungen einer Prügelei entschlossen (UA S. 23), was die - indes noch ausstehende - Entschließung des Nebenklägers vorausgesetzt hätte, sich mit diesem Angeklagten prügeln zu wollen.
Der Senat schließt aus, dass eine neue Hauptverhandlung eine Verurteilung wegen versuchter Nötigung (§§ 240, 22, 23 StGB) ergeben kann, weil es jedenfalls insoweit an den Voraussetzungen des § 240 Abs. 2 StGB fehlen würde.
3. Damit bleiben auch die von der Beschwerdeführerin nicht näher begründeten sofortigen Beschwerden der Staatsanwaltschaft gegen die Entschädigungsentscheidungen ohne Erfolg.
HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1126
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2009, 70
Bearbeiter: Karsten Gaede