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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 959

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 189/08, Urteil v. 17.09.2008, HRRS 2008 Nr. 959


BGH 5 StR 189/08 - Urteil vom 17. September 2008 (LG Chemnitz)

Mord (Heimtücke: Feststellung des Ausnutzungsbewusstseins, vorhergehende Feinseligkeiten).

§ 211 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs (st. Rspr., vgl. u. a. BGH NStZ 2006, 503, 504 m.w.N.). Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit ist es erforderlich, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juli 2004 - 1 StR 145/04; BGH NStZ 2003, 535; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 2, 9).

2. Das Ausnutzungsbewusstsein bedarf zwar in objektiv klaren Fällen bei einem psychisch normal disponierten Täter auch bei Taten aus rascher Eingebung keiner näheren Darlegung. Anders kann es jedoch gerade bei "Augenblickstaten", insbesondere bei affektiven Durchbrüchen oder sonstigen heftigen Gemütsbewegungen sein. Dann kann je nach den Umständen eine nähere Darlegung geboten sein, warum der spontan agierende Täter trotz seiner Erregung die für die Heimtücke maßgebenden Aspekte in sein Bewusstsein aufgenommen hat (BGH NStZ-RR 2005, 264 - 266).

3. Grundsätzlich können Arg- und Wehrlosigkeit auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgeht, das Tatopfer aber gleichwohl nicht mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 234, 235; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 13, 21).

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Nebenkläger B. und R. K. gegen das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 14. Januar 2008 werden verworfen.

Die Kosten der Rechtsmittel und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen den Beschwerdeführern zur Last.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Dagegen wenden sich die Revisionen der als Nebenkläger zugelassenen Eltern der Getöteten mit der Sachrüge. Die Rechtsmittel haben - entgegen dem Antrag des Generalbundesanwalts - keinen Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils war die Geschädigte seit ihrem 16. Lebensjahr im Jahre 2002 die Freundin des Angeklagten.

Nachdem sie ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Hochschule in Chemnitz begonnen hatte, zog der Angeklagte im Frühjahr 2006 zu ihr. Seit Ende 2006 kam es zwischen beiden zunehmend zu Auseinandersetzungen wegen der Arbeitslosigkeit des Angeklagten und seines Bierkonsums, in seltenen Fällen auch zu Handgreiflichkeiten. Der Angeklagte hatte der Geschädigten in den fünf Jahren ihrer Beziehung zweimal eine Ohrfeige gegeben, sie ihm vier- bis fünfmal.

Im Verlauf des Tattages, 4. Juli 2007, hatte der Angeklagte in der gemeinsamen Wohnung in erheblichen Mengen Bier konsumiert. Die Geschädigte, die den Tag zunächst an der Hochschule verbracht hatte und daran anschließend bis gegen 20 Uhr in einem Bekleidungsgeschäft gearbeitet hatte, kam gegen 21 Uhr in die Wohnung. Nach kurzer Zeit kam es zwischen ihr und dem Angeklagten zu dem "üblichen Streit", der über zwei Stunden geführt wurde.

In seinem Verlauf wurden Beleidigungen ausgetauscht und die Geschädigte trat nach dem Angeklagten, worauf dieser ihre Beine festhielt. Nachdem die Geschädigte, die zwischenzeitlich ihre Jeans ausgezogen hatte und im Schneidersitz auf dem Bett saß, dem Angeklagten eine Ohrfeige gegeben hatte, fasste der neben ihr kniende Angeklagte sie am Hals, drückte sie nieder und würgte sie; dabei stützte er sich mit seinem gesamten Körpergewicht auf die Geschädigte. Erst als er sah, dass die Geschädigte blau anlief und ihr die Zunge aus dem Mund ragte, ließ er von ihr ab. Die Geschädigte verstarb unmittelbar danach durch Ersticken, was der Angeklagte bei Vornahme seiner Handlung zumindest billigend in Kauf genommen hatte.

2. Erfolglos beanstanden die Revisionen die Verneinung des Mordmerkmals Heimtücke. Das Landgericht hat den im Wesentlichen aufgrund der geständigen Einlassung des Angeklagten zum Tatverlauf festgestellten Sachverhalt erschöpfend gewürdigt und das Mordmerkmal der Heimtücke rechtsfehlerfrei verneint.

Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs (st. Rspr., vgl. u. a. BGH NStZ 2006, 503, 504 m.w.N.). Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit ist es erforderlich, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juli 2004 - 1 StR 145/04; BGH NStZ 2003, 535; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 2, 9).

a) Es ist insbesondere angesichts der festgestellten Tatumstände nicht zu beanstanden, dass das Landgericht ein bewusstes Ausnutzen einer "möglicherweise gegebenen" Arglosigkeit der Geschädigten durch den Angeklagten dem festgestellten Sachverhalt nicht zu entnehmen vermochte. Das Ausnutzungsbewusstsein bedarf zwar in objektiv klaren Fällen bei einem psychisch normal disponierten Täter auch bei Taten aus rascher Eingebung keiner näheren Darlegung. Anders kann es jedoch gerade bei "Augenblickstaten", insbesondere bei affektiven Durchbrüchen oder sonstigen heftigen Gemütsbewegungen sein. Dann kann je nach den Umständen eine nähere Darlegung geboten sein, warum der spontan agierende Täter trotz seiner Erregung die für die Heimtücke maßgebenden Aspekte in sein Bewusstsein aufgenommen hat (BGH NStZ-RR 2005, 264 - 266; vgl. Schneider in MünchKomm-StGB § 211 Rdn. 140 m.w.N.).

Es war indes hier nicht zwingend sicher festzustellen, dass der Angeklagte in diesem Bewusstsein handelte. Es liegt gerade kein "objektiv klarer Fall" der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers vor. Da der Tat ein heftiger Streit mit Tätlichkeiten und unmittelbar eine Ohrfeige der Geschädigten gegenüber dem Angeklagten vorausgingen, hat das Landgericht in lebensnaher Wertung angenommen, dass sich der erheblich alkoholisierte Angeklagte (etwa 2 Promille BAK) in seinem vom Landgericht festgestellten Zustand affektiver Erregung spontan zu der Tat hinreißen ließ. In dieser Situation lag es sogar nahe, dass der Angeklagte die für die Heimtücke maßgeblichen Umstände aufgrund seiner Erregung nicht in sein Bewusstsein aufgenommen hat. Einer Darlegung und Würdigung weiterer Beweisanzeichen (vgl. BGH, Urteil vom 27. Februar 2008 - 2 StR 603/07) bedurfte es dann nicht mehr.

b) Das Landgericht verneint im Übrigen mit vertretbaren Erwägungen bereits die objektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals der Heimtücke. Es erwägt zwar zum einen die vom Angeklagten geschilderte Situation vor der Tat - das Ausziehen der Hose durch die Geschädigte und das Sitzen auf dem Bett -, zum anderen das Fehlen von Spuren der Abwehr der Geschädigten, was dafür spricht, dass sie im Zeitpunkt des Angriffs durch den Angeklagten weder mit einem lebensbedrohlichen noch mit einem gegen ihre körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren Angriff rechnete. Gleichwohl vermochte es dem Geständnis des Angeklagten zulässigerweise nicht hinreichend sicher zu entnehmen, dass die Geschädigte zum Zeitpunkt der Tat keinen Angriff des Angeklagten erwartet hatte.

Die genannten Umstände der Tat lassen keinen sicheren Schluss auf die Arg- und Wehrlosigkeit der Geschädigten bei Beginn des mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs zu. Die Tatsache, dass sie sich während des über zwei Stunden geführten Streits mit dem Angeklagten die Hose auszog und sich auf das Bett setzte, spricht lediglich dafür, dass sie zu dem Zeitpunkt dieser Handlungen nicht mit einem erheblichen Angriff des Angeklagten rechnete. Demgegenüber lässt sich nicht hinreichend sicher feststellen, dass ihre Arglosigkeit auch im Zeitpunkt der Tat noch andauerte, zumal sie den Angeklagten unmittelbar zuvor geohrfeigt hatte.

Grundsätzlich können Arg- und Wehrlosigkeit zwar auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgeht, das Tatopfer aber gleichwohl nicht mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 234, 235; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 13, 21; Schneider in MünchKomm-StGB § 211 Rdn. 126 f.). Indes musste solches hier dem festgestellten Sachverhalt nicht sicher entnommen werden. Auch der Umstand, dass die Geschädigte den Angeklagten bereits in der Vergangenheit vier- bis fünfmal geohrfeigt hatte, ohne dass dies Anlass für schwerwiegende Tätlichkeiten des Angeklagten war, lässt nicht den sicheren Schluss darauf zu, dass die Geschädigte in der konkreten Tatsituation nicht mit einem erheblichen Angriff des erkennbar alkoholisierten und erregten Angeklagten rechnete.

Schließlich ist auch die Tatsache, dass im Rahmen der Obduktion keine Abwehrverletzungen festgestellt wurden, kein zwingender Anhaltspunkt dafür, dass der Angriff für das Opfer völlig überraschend kam. Einen entsprechenden Erfahrungssatz gibt es nicht. Es erscheint vielmehr möglich, dass die Geschädigte in der konkreten Angriffssituation nicht etwa aufgrund von Arglosigkeit, sondern aufgrund körperlicher Unterlegenheit zur Leistung einer effektiven Gegenwehr nicht mehr in der Lage war. Dies gilt zumal angesichts des - urteilsfremden - Hinweises der Nebenkläger auf erhebliche Unterschiede in Köpergröße und Gewicht zwischen Geschädigter und Angeklagtem.

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 959

Externe Fundstellen: NStZ 2009, 30

Bearbeiter: Karsten Gaede