HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 136
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 478/07, Beschluss v. 06.12.2007, HRRS 2008 Nr. 136
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 8. Dezember 2006 nach § 349 Abs. 4 StPO
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der besonders schweren Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und Diebstahl mit Waffen sowie der Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung schuldig ist,
b) im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Zu neuer Rechtsfolgenbestimmung und zur Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels wird die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, sowie wegen Diebstahls mit Waffen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt und gegen ihn die Sicherungsverwahrung angeordnet.
Die Revision des Angeklagten hat den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg und ist im Übrigen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Im ersten Fallkomplex liegt Tateinheit vor (vgl. BGHR StGB § 52 Abs. 1 in dubio pro reo 3). Der Senat stellt den Schuldspruch entsprechend um. Dies hat der Senat zum Anlass genommen, die Qualifikation der besonders schweren Vergewaltigung wie geboten zu tenorieren.
2. Die Strafzumessung des Landgerichts begegnet im Blick auf die fehlende Berücksichtigung einer Verletzung der Rechte des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK durchgreifenden Bedenken.
Hierzu ist festgestellt, dass wegen der 1998 und 2002 begangenen Taten am 11. August 2003 Anklage erhoben worden ist, die Hauptverhandlung jedoch erst am 16. August 2005 begonnen hat. Der Angeklagte ist seit dem 29. März 2003 ununterbrochen inhaftiert, wobei Untersuchungshaft auch für das hiesige Verfahren und Strafhaft in anderer Sache unter Untersuchungshaftbedingungen (Überhaft) - bis zur Vollverbüßung, in deren Folge ihm die Möglichkeit einheitlicher Gesamtstrafbildung nach § 55 StGB entgangen ist - vollstreckt worden ist. Im Rahmen der Strafzumessung führt das Landgericht aus, dass die durch den späten Beginn der Hauptverhandlung eingetretene Verfahrensverzögerung strafmildernd zu berücksichtigen sei.
Damit ergeben sich bereits aus den Urteilsgründen gravierende Anhaltspunkte für eine vom Angeklagten nicht zu vertretende Verfahrensverzögerung. Dies hat das Revisionsgericht bereits allein auf die Sachrüge hin zu berücksichtigen. Darin, dass das Landgericht nicht erörtert hat, ob durch den Zeitablauf von zwei Jahren zwischen Anklageerhebung und Beginn der Hauptverhandlung eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung und damit eine Verletzung des Rechts des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK eingetreten ist, liegt ein sachlichrechtlich zu beanstandender Erörterungsmangel (BGHSt 49, 342). Eine allgemeine strafmildernde Wirkung genügt den Anforderungen an die Berücksichtigung einer sich aufdrängenden rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht. Dieser Mangel führt zur Aufhebung der Einzelstrafen und des Gesamtstrafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen.
Sollte eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung angenommen werden - was angesichts der im Urteil dargelegten Umstände nahe liegt - so bedarf es einer konkreten Feststellung von Art, Ausmaß und Ursache der Verzögerung (BVerfG - Kammer - StV 1993, 352; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7; vgl. auch EGMR EuGRZ 1983, 371). In einem zweiten Schritt ist das Maß der zu gewährenden Kompensation zu bestimmen.
Nach der bisherigen Spruchpraxis aller Senate des Bundesgerichtshofs hatte dies durch die Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne Berücksichtigung der Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK angemessenen Strafe zu geschehen (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7, 11 und 12; BGH NStZ 2003, 601). Die Frage, ob hieran in dieser Form festzuhalten sein wird oder ob die Kompensation künftig durch Anrechung eines bestimmten Teils der Strafe als vollstreckt zu gewähren ist (vgl. BGH - Vorlagebeschluss - NJW 2007, 3294 und Beschluss vom 25. September 2007 - 5 StR 116/01 und 475/02, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt), liegt dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vor.
Der neue Tatrichter wird zudem bei der Strafzumessung bereits ohne Berücksichtigung einer möglicherweise rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung stärker als bisher den Zeitablauf insbesondere seit Begehung der ersten Tat in den Blick zu nehmen haben (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13). In diesem Fall wird die Anwendung des § 21 StGB mit sachverständiger Hilfe neu zu klären sein; die ablehnende Begründung im angefochtenen Urteil ist bedenklich. Das konkret festgestellte Leistungsverhalten weist keine Besonderheiten auf, die im Hinblick auf eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit aussagekräftige Rückschlüsse zulassen (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 35); zudem ist eine von der Tat im Sommer 2002 abweichende Beurteilung nicht nachvollziehbar.
3. Die Aufhebung des Strafausspruchs zieht die Aufhebung der vom Landgericht auf § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB gestützten Anordnung der Sicherungsverwahrung nach sich, da damit die formellen Voraussetzungen für die Maßregel entfallen sind. Bei der Prüfung, ob die Sicherungsverwahrung erneut anzuordnen sein wird, wird eine aktualisierte Sachverständigenbeurteilung heranzuziehen sein. Im Hinblick auf die Verurteilung vom 1. Juli 2003 sind auch die Anordnungsvoraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB in den Blick zu nehmen.
HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 136
Bearbeiter: Karsten Gaede