HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 741
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 189/07, Beschluss v. 21.06.2007, HRRS 2007 Nr. 741
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 9. November 2006 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Schwurgericht hat den Angeklagten - erneut, nach Aufhebung eines ersten gleichlautenden Urteils durch Senatsbeschluss vom 22. Februar 2006 - wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Auch dieses Urteil hat keinen Bestand.
1. Die Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge einer Verletzung des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO Erfolg.
Zur Untermauerung der Einlassung des Angeklagten, dieser habe dem Nebenkläger - entgegen dessen Aussage - die blutende Halsverletzung nicht zu Beginn der tätlichen Auseinandersetzung zugefügt, sondern erst im späteren Verlauf, hatte die Verteidigung nach Inaugenscheinnahme der Bekleidung des Angeklagten die Vernehmung eines Sachverständigen beantragt, der nach Untersuchung der Kleidung bekunden sollte, dass sich daran keine Blutspuren des Nebenklägers befänden. Das Landgericht hat den Beweisantrag mit der Begründung abgelehnt, die Behauptung werde als wahr unterstellt.
Im Urteil hat das Schwurgericht die unter Beweis gestellte Tatsache indes bereits aufgrund der Inaugenscheinnahme der Bekleidung als erwiesen angesehen und hieraus ein Indiz gegen die Einlassung des Angeklagten zum Tatgeschehen abgeleitet. Das Fehlen von Blutanhaftungen spreche gegen den vom Angeklagten behaupteten Stich in den Hals des Nebenklägers, als dieser ihn von hinten umklammert hielt, da aufgrund der damit verbundenen besonderen räumlichen Nähe Blutspuren an der Kleidung des Angeklagten zu erwarten gewesen wären. Dieser Umstand stütze vielmehr die vom Nebenkläger bekundete Version, der Stich sei aus der gewissen Distanz des Gegenüberstehens erfolgt.
b) Das Vorgehen des Schwurgerichts war nach der erfolgten Ablehnung des Beweisantrags verfahrensfehlerhaft.
Das Gericht war an einer Verwertung der nach § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 7 StPO allein zur Entlastung des Angeklagten als wahr unterstellten Beweistatsache zu dessen Nachteil gehindert (BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 16; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess 5. Aufl. S. 654 f.). Wäre die unter Beweis gestellte Tatsache hingegen mit Ablehnung des Beweisantrags nach § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 3 StPO als bereits erwiesen angesehen worden, so hätte sie zu Gunsten oder zu Lasten des Angeklagten verwertet werden dürfen (vgl. Alsberg/Nüse/Meyer aaO S. 599; Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 244 Rdn. 236, 242). Auf einen so geänderten Ablehnungsgrund hat sich das Schwurgericht im Urteil berufen. Hierauf wäre der Angeklagte aber, damit er seine Verteidigung darauf einrichten konnte, in der Hauptverhandlung hinzuweisen gewesen; dies durfte ihm nicht erst im Urteil bekanntgemacht werden (vgl. BGHSt 19, 24, 26; Gollwitzer aaO Rdn. 150 f.; Herdegen in: KK-StPO 5. Aufl. § 244 Rdn. 59). Wäre die Inaugenscheinnahme, der das Schwurgericht im Urteil das Erwiesensein der Beweistatsache entnommen hat, nach der abweichend begründeten Ablehnung des Beweisantrags mit Wahrunterstellung erfolgt, hätte der unerlässliche Hinweis auf die abweichende Beurteilung möglicherweise im Rahmen dieser Beweisaufnahme als schlüssig erteilt angesehen werden können (vgl. hierzu Gollwitzer aaO Rdn. 247). Die Inaugenscheinnahme erfolgte indes bereits vor der Bescheidung des Beweisantrags.
In der Wahrunterstellung liegt eine Zusicherung, auf deren Einhaltung sich der Angeklagte aus Fairnessgründen unbedingt verlassen können muss (vgl. BGHSt 32, 44; 40, 169, 185). Das bezieht sich auf alle Konsequenzen der Wahrunterstellung: primär auf die Berücksichtigung der als wahr unterstellten Beweistatsache im Urteil, in dem nicht im Widerspruch dazu stehende Tatsachen festgestellt werden dürfen; aber auch auf den Ausschluss der Verwendung zum Nachteil des Angeklagten, der darauf vertrauen darf, keine negativen Schlussfolgerungen auf der Grundlage dieser Beweistatsache zu riskieren, so dass er sie bei seiner weiteren Verteidigung nicht kritisch auf ihre möglichen Beweisauswirkungen zu hinterfragen braucht.
Nach alledem durfte das Schwurgericht, selbst wenn es das Fehlen von Blutanhaftungen an der Kleidung für erwiesen hielt, dies nicht zum Nachteil des Angeklagten den Feststellungen zugrunde legen, weil es dadurch gegen die vorher zugesagte Wahrunterstellung verstoßen hat.
c) Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler. Dies wäre auszuschließen, wenn sich sicher feststellen ließe, dass das Landgericht auch ohne die negative Verwertung der zunächst als wahr unterstellten, ausweislich des Urteils als erwiesen angesehenen Tatsache zum gleichen Beweisergebnis gelangt wäre. Solches scheidet indes angesichts der Bedeutung aus, die das Schwurgericht dem Indiz für die Feststellung zum Tatablauf zumisst (UA S. 37 f.). Auch mit der dem Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts zugrunde liegenden Erwägung, dass bei Bekanntgabe des veränderten Ablehnungsgrundes des Erwiesenseins in der Hauptverhandlung keine sachdienlichen Verteidigungsanträge in diesem Zusammenhang möglich gewesen wären, lässt sich ein Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß - wie auch die Gegenerklärung der Verteidigung belegt - nicht mit der notwendigen Sicherheit ausschließen.
2. Der Senat merkt Folgendes an:
a) Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, trifft auch die weitere verfahrensrechtliche Beanstandung der Verletzung des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu. Insoweit lässt sich freilich ein Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß ausschließen.
b) Bei Feststellung des Tatablaufs wird der neue Tatrichter die dem angefochtenen Urteil zu entnehmenden Erinnerungsdefizite des Nebenklägers (UA S. 25, 29) und den Umstand zu berücksichtigen haben, dass ohne vorangegangenen Angriff des Nebenklägers auch bei vorhandenem Affekt ein Motiv des Angeklagten für die sofortige Zufügung lebensgefährlicher Messerstiche allein als Reaktion auf eine Störung und Kränkung schwer nachvollziehbar ist.
Auf die sachlichrechtlichen Bedenken der Revision gegen die physischen Gegebenheiten, denen das Schwurgericht bei der Widerlegung der Version des Angeklagten zur Beibringung des lebensgefährlichen Halsstiches Bedeutung beimisst, wird der neue Tatrichter auch Bedacht zu nehmen haben.
c) Beachtlich könnten auch die Einwände der Revision gegen die Versagung eines Rücktritts vom Versuch sein, sofern tatsächlich ein unbeendeter - und nicht, eventuell auch unter Berücksichtigung eines alsbald veränderten Rücktrittshorizonts (vgl. BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, beendeter 12, vgl. UA S. 13, 21) ein beendeter - Totschlagsversuch anzunehmen wäre.
HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 741
Externe Fundstellen: BGHSt 51, 364; NJW 2007, 2566; NStZ 2007, 717; StV 2007, 512; StV 2007, 623
Bearbeiter: Karsten Gaede