hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 629

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 464/04, Urteil v. 16.06.2005, HRRS 2005 Nr. 629


BGH 5 StR 464/04 - Urteil vom 16. Juni 2005 (LG Berlin)

Vergewaltigung; Sicherungsverwahrung (Beurteilung des Hangs abweichend vom Sachverständigen; Beleg der eigenen Sachkunde des Gerichts).

§ 177 Abs. 2 StGB; § 66 StGB; § 246a StPO; § 72 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

1. Der Tatrichter ist zwar nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen; denn dieses kann stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein. Will der Tatrichter eine Frage, zu der er einen Sachverständigen gehört hat, im Widerspruch zu dessen Gutachten lösen, muss er sich jedoch in einer Weise mit den Darlegungen des Sachverständigen auseinandersetzen, die erkennen lässt, dass er mit Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat (vgl. BGHR StPO § 261 Sachverständiger 5; BGH NStZ 2000, 437).

2. Der Tatrichter muss die Darlegungen des Sachverständigen im einzelnen wiedergeben, insbesondere dessen Stellungnahme zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (vgl. BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1, 5). Das gilt namentlich, wenn es um die Beurteilung der Voraussetzungen für eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung geht (vgl. hierzu auch BGH NStZ 2005, 159). Dabei ist erforderlich, dass der Tatrichter, der sich auf eigene Sachkunde stützen will, im einzelnen belegt, welche Prognoseverfahren der Sachverständige herangezogen hat, welchen Aussagewert sie haben und welche Vorgehensweise bei ihnen zu beachten ist.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 8. April 2004 im Ausspruch über die Anordnung der Sicherungsverwahrung aufgehoben.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu acht Jahren Freiheitsstrafe und zur Zahlung eines Schmerzensgeldes an die Nebenklägerin verurteilt und gegen ihn die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten führt zu einem Teilerfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte bewegte die ihm bis zum Tattag unbekannte Nebenklägerin dazu, seine Wohnung zu betreten. Als er sich ihr dort plötzlich nahezu nackt präsentierte, sagte sie ihm deutlich und scharf, daß sie keinen Sex wolle und jetzt gehen werde. Daraufhin wurde der Angeklagte völlig überraschend handgreiflich, ergriff sie an den Haaren und zog sie so durch die Wohnung. Er riß der eingeschüchterten Nebenklägerin die Hose, die Strumpfhose und den Slip herunter, zog sie in das Schlafzimmer und dort auf die Matratze. Er zwang sie zunächst, ihn oral zu befriedigen, sodann ihren Finger bei sich vaginal einzuführen. Er zerschlug ein Ei auf oder über ihrem Kopf, wusch ihr sodann im Badezimmer das Ei aus dem Haar, wobei er - als die Nebenklägerin sich wehrte - sie so heftig nach unten drückte, daß sie glaubte, der Angeklagte würde ihr am Badewannenrand den Kiefer zerschlagen.

Anschließend zog er sie erneut ins Schlafzimmer und fesselte ihr die Hände auf dem Rücken. Nun zwang er sie erneut, ihn über einen längeren Zeitraum oral zu befriedigen. Wenn sie dadurch keine Luft mehr bekam oder sich sträubte, schlug er sie schmerzhaft auf das Gesäß und zwickte in ihre Brustwarzen. Durch diese Vorgehensweise wollte er auch seine eigene Lust steigern. Mehrmals würgte er die Nebenklägerin, so daß sie Atemprobleme und Schluckbeschwerden bekam. Daneben drang er mit einem seiner Finger und seinem Glied vaginal in die Nebenklägerin ein. Später urinierte der Angeklagte auf ihr Gesicht und in ihre Haare, um sich weiter zu stimulieren.

Auch versuchte er noch, mit einem Finger und seinem Glied anal in sie einzudringen. Weiterhin fragte er die Nebenklägerin, ob sie schon einmal Sex mit zwei Männern gehabt habe, rief sodann einen Mann an und versuchte, ihn zum Herkommen zu überreden. Der Angeklagte sagte dabei zu diesem Mann, er habe eine "billige Fotze" da. Die Nebenklägerin geriet in Todesangst. Sie glaubte, in das Rotlicht- oder Drogenmilieu geraten zu sein, und befürchtete, "gebrochen" werden zu sollen. Danach ließ er sich weiterhin oral befriedigen. Als der Angeklagte nach etwa fünf Stunden müde wurde und sein Interesse an der Nebenklägerin verlor, wagte diese die Wohnung zu verlassen.

Sie ging zu einer Bushaltestelle und sagte einem Passanten, daß sie vergewaltigt worden sei.

II.

Die Revision ist, soweit sie sich gegen den Schuld- und Strafausspruch sowie die Adhäsionsentscheidung richtet, offensichtlich unbegründet.

Jedoch hält die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Angeklagten - in Übereinstimmung mit der Auffassung des Generalbundesanwalts in der Revisionshauptverhandlung - der rechtlichen Prüfung nicht stand.

Abweichend von dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen, der das Vorliegen eines Hanges im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verneint hatte, hält das Landgericht einen Hang des Angeklagten ebenso für gegeben wie dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit. Daß unter Heranziehung der vom Sachverständigen verwendeten statistischen Prognoseverfahren und des klinischen Verfahrens ein Hang zu verneinen sein könnte, schließt das Landgericht aus. Den Ausführungen des Sachverständigen könne insoweit nicht gefolgt werden, als dieser die strafrechtlich relevante Vorgeschichte des Angeklagten nicht ausreichend berücksichtigt habe. Aufgrund eigener Sachkunde vertritt das Landgericht die Auffassung, die Intensität und Gefährlichkeit der vom Angeklagten begangenen Taten wiesen von versuchter sexueller Nötigung über sexuelle Nötigung bis zu Vergewaltigung mit erheblicher überschießender Gewaltanwendung eine kontinuierliche Steigerung auf. Bei ihm bestehe die fest eingewurzelte Neigung, notfalls mit Gewalt die Durchführung von Geschlechtsverkehr zu erzwingen. Er sei willensschwach und vermöge Tatanreizen nicht zu widerstehen.

Diese für sich plausibel erscheinenden Erwägungen begegnen insoweit durchgreifenden Bedenken, als sie die hierfür maßgebliche Grundlage gewonnener eigener Sachkunde des Landgerichts nicht belegen, die ihm nur durch den nach § 246a StPO zuzuziehenden Sachverständigen zu vermitteln war. Der Tatrichter ist zwar nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen; denn dieses kann stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein. Will der Tatrichter eine Frage, zu der er einen Sachverständigen gehört hat, im Widerspruch zu dessen Gutachten lösen, muß er sich jedoch in einer Weise mit den Darlegungen des Sachverständigen auseinandersetzen, die erkennen läßt, daß er mit Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat (vgl. BGHR StPO § 261 Sachverständiger 5; BGH NStZ 2000, 437; NStZ-RR 2005, 39; Schoreit in KK 5. Aufl. § 261 Rdn. 33 m.w.N.).

Der Tatrichter muß die Darlegungen des Sachverständigen im einzelnen wiedergeben, insbesondere dessen Stellungnahme zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (vgl. BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1, 5). Das gilt namentlich, wenn es um die Beurteilung der Voraussetzungen für eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung geht (vgl. hierzu auch BGH NStZ 2005, 159). Dabei ist erforderlich, daß der Tatrichter, der sich auf eigene Sachkunde stützen will, im einzelnen belegt, welche Prognoseverfahren der Sachverständige herangezogen hat, welchen Aussagewert sie haben und welche Vorgehensweise bei ihnen zu beachten ist.

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Landgericht hat lediglich mitgeteilt, der Sachverständige sei unter Heranziehen der von ihm verwendeten statistischen Prognoseverfahren und eines klinischen Verfahrens zu seinem Ergebnis gelangt. Dabei sei die Strafkammer insbesondere in einer Wertungsfrage, nämlich der strafrechtlich relevanten Vorgeschichte des Angeklagten, vom Sachverständigen abgewichen.

Den vom Sachverständigen als ungünstig eingeschätzten Umständen - regelmäßiger Substanzmißbrauch, subjektives Bekenntnis zu sadomasochistischen Sexualpraktiken und fehlendes Begreifen der Verletzung von Normen in der Vergangenheit - kommt nach Ansicht der Strafkammer eine weitaus größere Bedeutung zu, als es nach Auffassung des Sachverständigen, der dies lediglich als Anlaß zur Sorge bezeichnet, der Fall ist. Diese Ausführungen lassen die erforderliche Nachprüfung durch das Revisionsgericht nicht zu.

Es kommt hinzu, daß nicht erkennbar wird, von welchen weiteren Aussagen des Sachverständigen die Strafkammer abgewichen ist, ob sie die Abweichungen mit dem Sachverständigen diskutiert hat und wie dieser hierzu Stellung genommen hat.

Auch wird nicht erkennbar, aufgrund welcher Erkenntnisse das Landgericht zu der Schlußfolgerung gelangt ist, der Angeklagte sei nicht nur sexuell sadistisch, sondern darüber hinaus antisozial und schizoid. Ob und wie sich der Sachverständige hierzu geäußert hat, ob etwa dieser Wertung sogar seine Angaben zugrunde liegen, wird nicht deutlich.

Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht. Der neue Tatrichter wird die Frage der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen vornehmen können, die freilich neuen Wertungen mit Hilfe eines (naheliegend weiteren) Sachverständigen unterzogen und um solche ergänzt werden können, die den bisherigen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 629

Externe Fundstellen: NStZ 2005, 628

Bearbeiter: Karsten Gaede