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HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 68

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 401/04, Urteil v. 25.11.2004, HRRS 2005 Nr. 68


BGH 5 StR 401/04 - Urteil vom 25. November 2004 (LG Berlin)

Mord (Heimtücke; Ausnutzungsbewusstsein).

§ 211 StGB; § 15 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Dabei muss der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst haben, dass er sich dessen bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (BGH NStZ 1984, 506, 507). Dabei kann die Spontanität des Tatenschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlte (BGH NJW 1983, 2456). Andererseits hindert nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat zu erkennen (BGH StV 1981, 523, 524; BGH NStZ-RR 2000, 166, 167).

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. Februar 2004 wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dadurch dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags - unter Anwendung von § 213 a.F. StGB - zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft rügt mit ihrer Revision die Verletzung von Verfahrensrecht und sachlichem Recht und meint, daß das Landgericht zu Unrecht nicht auf (heimtückischen, aus Habgier und zur Ermöglichung einer Straftat begangenen) versuchten Mord erkannt habe. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgendes festgestellt:

Der Angeklagte und der etwa gleichaltrige Nebenkläger unterhielten eine homosexuelle Beziehung folgender Art: Etwa während der drei Monate vor der Tat nahmen beide Männer ein bis zweimal pro Woche in der Wohnung des Nebenklägers nach gemeinsamem Essen und Trinken einvernehmlich sexuelle Handlungen vor. Der Nebenkläger holte in der Regel hierzu mit seinem Pkw den Angeklagten nach telefonischer Verabredung an einer Gaststätte im Bereich des Kurfürstendamms ab und brachte den Angeklagten nach dem sexuellen Verkehr noch am selben Abend, gelegentlich erst am nächsten Morgen in die Region des Kurfürstendamms zurück. Finanzielle Interessen des Angeklagten oder die Gewährung finanzieller Vorteile durch den Nebenkläger hat das Landgericht nicht feststellen können. Der Angeklagte, der in dieser Zeit ohne festen Wohnsitz war und bei verschiedenen Bekannten Unterschlupf fand, empfand den Kontakt zum Nebenkläger "möglicherweise als eine von einer gewissen Geborgenheit geprägte und damit angenehme persönliche Zuwendung". Zu einer verbalen oder gar tätlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern kam es vor dem Tattag nicht.

Am 29. März 1984 gegen 21.00 Uhr begab sich der Angeklagte aufgrund einer telefonischen Verabredung - nach Einnahme von Medikamenten zur Schmerzbehandlung und angetrunken - zur Wohnung des Nebenklägers. Er duschte, zog sich ein Hemd, eine Trainingshose und einen Bademantel des Nebenklägers an und ging zu ihm ins Wohnzimmer. Dieser, selbst nüchtern, war wegen der alkoholischen Beeinflussung des Angeklagten an einem sexuellen Verkehr nicht mehr interessiert. Er bot dem Angeklagten zwar noch Kaffee an, drängte aber bald darauf, daß der Angeklagte sich wieder anziehe, damit er zurück zum Kurfürstendamm gebracht werden könne, holte demonstrativ die im Flur liegende Kleidung des Angeklagten ins Wohnzimmer und forderte diesen auf, sich nun endlich anzukleiden und zum Aufbruch fertig zu machen. Der Angeklagte wollte die Wohnung jedoch nicht verlassen, da er sich dort wohlfühlte und die Aufenthalte bei dem Nebenkläger als Möglichkeit empfand, in behaglicher Umgebung zur Ruhe zu kommen und dort möglichst auch des öfteren zu übernachten. Der Nebenkläger holte seine Jacke und steckte sich seine Personalpapiere und Geld ein, um zu unterstreichen, daß er nicht gewillt war, noch länger zu warten. Der Angeklagte stand auf und ging mit der Erklärung, man könne jetzt gehen und der Nebenkläger solle ihn zum Kurfürstendamm bringen, in den Flur, wohin ihm der Nebenkläger folgte. Dort versuchte der Angeklagte nochmals, den Nebenkläger umzustimmen. Er bot ihm nun sogar - erstmalig im Rahmen ihrer Beziehung - die Durchführung von Oralverkehr an und bat ihn darum, gemeinsam ins Schlafzimmer zu gehen. Der Nebenkläger lehnte all dies ab und drängte weiter zum Gehen. Nicht ausschließbar erst in diesem Moment und "aus einer binnen weniger Augenblicke entstehenden massiven Verärgerung, Wut und Enttäuschung über die soeben erfahrene und möglicherweise persönlich kränkende Zurückweisung entschloß sich der Angeklagte, dessen Hemmungs- und Steuerungsfähigkeit zu diesem Zeitpunkt nicht sicher ausschließbar aufgrund des zuvor konsumierten Alkohols in Kombination mit der Wirkung der eingenommenen Medikamente und angesichts seiner affektiven Erregung erheblich vermindert war, spontan dazu," den Nebenkläger mit einem Messer tätlich anzugreifen. Er ging zu seiner im Flur aufgehängten Jacke, entnahm dieser ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von etwa 10 cm und öffnete es. Sodann wendete er sich - gegen 22.00 Uhr - dem Nebenkläger zu, der wenige Meter entfernt in der Nähe der Wohnzimmertür stand. Der Angeklagte stach sogleich, ohne etwas zu sagen, auf den von dem Angriff völlig überraschten Nebenkläger ein und traf ihn zunächst im linken Oberkörper. Der Angeklagte, dem "wahrscheinlich nicht ins Bewußtsein drang, daß er die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers ausnutzte," erkannte dabei, daß er den Nebenkläger möglicherweise töten würde; dies nahm er zumindest billigend in Kauf. Daß er den Nebenkläger töten wollte, hat das Landgericht nicht feststellen können. Der Nebenkläger flüchtete zurück ins Wohnzimmer, möglicherweise nachdem er bereits im Flur durch weitere Messerstiche getroffen worden war, und versuchte dabei, die Tür zu schließen. Dies gelang ihm jedoch nicht, da der Angeklagte sofort nachdrängte und die Tür aufstieß. Der Nebenkläger zog sich - weitere Stiche abwehrend - im Wohnzimmer hinter ein Sofa zurück und stürzte dort zu Boden.

Der Angeklagte folgte dem Nebenkläger und stach weiter auf ihn ein, während dieser in Todesangst versuchte, den Angeklagten mit den Worten "du tötest mich ja" zum Aufhören zu bewegen und zum Schutz den Fensterstore über sich hielt. Diesen durchstach der Angeklagte dreimal. Dem Nebenkläger gelang es, die Abdeckplatte eines Barschränkchens zu ergreifen und in Richtung des Angeklagten zu schleudern. Er brachte den Angeklagten durch heftige Tritte zu Fall und konnte sich selbst wieder erheben.

Der Nebenkläger floh aus der im vierten Obergeschoß gelegenen Wohnung in das Treppenhaus, durch das er - um Hilfe rufend und damit einen Nachbarn aufmerksam machend - nach unten lief. Auch der Angeklagte verließ - barfuß und nur mit Hemd, Jogginghose und Bademantel bekleidet - die Wohnung. Er ließ das Tatmesser auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung des Nebenklägers fallen und eilte - erkennend, daß er den Nebenkläger nicht mehr weiter würde angreifen können - die Treppe hinunter. Dort überholte der Angeklagte den Nebenkläger, der sich inzwischen weiter nach unten schleppte. An der verschlossenen Haustür angekommen, kehrte der Angeklagte zur Wohnung des Nebenklägers zurück. Er holte dessen Hausschlüssel und seine eigene Jacke, eilte erneut ins Erdgeschoß, schloß die Haustür auf und flüchtete vom Tatort. Da der Angeklagte befürchtete, daß der Nebenkläger sterben würde, er ihn jedenfalls sehr schwer verletzt habe, floh er am folgenden Tag nach Polen. Der Nebenkläger erlitt zahlreiche Schnittverletzungen an Kopf, Hals, Brust und beiden Armen. Ein Stich ins linke Auge führte trotz Notoperation zum Verlust dieses Auges und dessen Ersetzung durch ein Glasauge.

II.

Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

1. Die Verfahrensrüge ist nicht in zulässiger Weise erhoben, weil entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO das Protokoll der Vernehmung des Zeugen S alias A vom 31. März 1984, auf das das Landgericht in seinem den Beweisantrag der Staatsanwaltschaft ablehnenden Beschluß Bezug nimmt, nicht mitgeteilt wird.

2. Auch die Sachrüge versagt.

a) Den mit der Anklage erhobenen weitergehenden Vorwurf, der Angeklagte habe geplant gehabt, den Nebenkläger zu berauben, habe sich mithin wegen eines aus Habgier und zur Ermöglichung einer anderen Straftat begangenen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem schwerem Raub schuldig gemacht, hat das Landgericht nicht bestätigt gefunden. Es hat ein solches Tatmotiv rechtsfehlerfrei - insbesondere aufgrund des Tatbildes - für nicht feststellbar erachtet.

b) Auch das Mordmerkmal der Heimtücke hat das Landgericht ohne Rechtsfehler verneint.

Es hat zunächst die objektiven Voraussetzungen der Heimtücke bejaht, jedoch nicht sicher feststellen können, daß der Angeklagte in dem Bewußtsein gehandelt hätte, den wegen Arglosigkeit wehrlosen Nebenkläger zu überraschen und diese Überraschung seines Opfers auszunutzen. Maßgebend war für das Landgericht dabei, daß der Angeklagte nicht ausschließbar unter dem enthemmenden Einfluß des konsumierten Alkohols in Kombination mit den eingenommenen Medikamenten in einer plötzlichen, von Ärger, Wut und Entttäuschung über die soeben erfahrene Zurückweisung getragenen Gefühlsaufwallung spontan agierte. Damit ist das Landgericht den für überzeugend erachteten Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen gefolgt, wonach die Tat naheliegend als affektiv-aggressiver Durchbruch erscheint, bei dem der Angeklagte sich "wahrscheinlich keine weiteren Gedanken über die Situation des Opfers gemacht" hat.

Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewußt zu dessen Tötung ausnutzt. Dabei muß der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfaßt haben, daß er sich dessen bewußt ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (BGH NStZ 1984, 506, 507; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 1, 9, 11 und 26). Dabei kann die Spontanität des Tatenschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, daß ihm das Ausnutzungsbewußtsein fehlte (BGH NJW 1983, 2456; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 26). Andererseits hindert nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat zu erkennen (BGH aaO; BGH StV 1981, 523, 524; BGH NStZ-RR 2000, 166, 167). Das Nähere ist Tatfrage (so schon BGHSt 6, 329, 331).

Alledem hat das Landgericht Rechnung getragen. Es hat an das ausführlich wiedergegebene Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen angeknüpft, wonach der Angeklagte im Zeitpunkt der Zufügung der Messerstiche sich - nicht ausschließbar - in einem derart aufgeladenen Affektzustand befunden habe, daß - insbesondere auch angesichts der Wirkung des genossenen Alkohols sowie der Medikamente - eine tiefgreifende Bewußtseinsstörung vorgelegen habe und er deshalb erheblich vermindert schuldfähig gewesen sei. Es ist dem für überzeugend erachteten Gutachten auch in der oben genannten Weise bei Beantwortung der Frage gefolgt, ob ein Ausnutzungsbewußtsein im Sinne des Heimtückemerkmals vorliegt. Dabei spielte ersichtlich auch eine Rolle, daß die psychische Beeinträchtigung des Angeklagten aus dreierlei Gründen resultierte, nämlich aus einer Kombination von Affekt, Alkohol und Medikamenteneinwirkung. Danach besorgt der Senat - anders als der Generalbundesanwalt - nicht, daß das Landgericht die gebotene eigenständige Prüfung der Ausführungen des Sachverständigen und eine Gesamtwürdigung der Umstände unterlassen hätte. Eine derart klare Tatsituation, in der sich das Bewußtsein auch eines stark enthemmten Täters von der Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers bei Tatbegehung ohne weiteres von selbst verstanden hätte (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 31), lag hier nicht vor.

c) Die tateinheitliche schwere Körperverletzung ist verjährt. Die auffällige Milde der Strafe ist dem beträchtlichen Zeitablauf und dem maßgeblichen Tatzeitstrafrahmen des § 213 StGB geschuldet, dessen zweite Alternative das Landgericht unter Verbrauch der Milderungsgründe aus § 21 und § 23 StGB rechtsfehlerfrei angewendet hat.

III.

Die nach § 301 StPO vorzunehmende Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 68

Bearbeiter: Karsten Gaede