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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 521/97, Beschluss v. 12.02.1998, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 521/97 - Beschluss vom 12. Februar 1998

Zulässigkeit der Beweiserhebung bezüglich der Schuldunfähigkeit des Angeklagten bei rechtskräftigem Schuldspruch; Anfragebeschluss.

§ 244 Abs. 3 StPO; § 353 StPO

Entscheidungstenor

Der Senat beabsichtigt zu entscheiden, daß bei Aufhebung eines Urteils nur im Strafausspruch und nach insoweit erfolgter Zurückverweisung der Sache in der neuen Verhandlung eine Beweiserhebung mit dem Ziel der Feststellung der Schuldunfähigkeit des Angeklagten nicht zulässig ist.

Der Senat fragt bei dem 5. Strafsenat an, ob die dortige Entscheidung vom 10. Oktober 1958 - 5 StR 377/58 - dem entgegensteht und ob - gegebenenfalls - insoweit an dieser festgehalten wird.

Gründe

I.

Das Landgericht hatte die Angeklagten durch Urteil vom 1. September 1995 jeweils des erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit Geiselnahme, versuchter räuberischer Erpressung und anderem schuldig gesprochen und den Angeklagten L. deswegen zu fünf Jahren und zehn Monaten, den Angeklagten G. zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den Feststellungen hatten beide Angeklagten in der Nacht vor der Tat alkoholische Getränke in nicht mehr feststellbarer Menge konsumiert; darüber hinaus hatte der Angeklagte L. 2 bis 3 g Kokain, der Angeklagte G. gemeinsam mit drei weiteren Personen. 5 bis 6 g Kokain in etwa gleichen Teilen geschnupft. Ferner nahmen die Angeklagten während des ca. zehn Stunden dauernden Tatgeschehens Alkohol und Kokain in ebenfalls nicht mehr feststellbarer Menge zu sich. Das Landgericht hat daher - sachverständig beraten - bei beiden Angeklagten die Voraussetzungen des § 21 StGB nicht auszuschließen vermocht.

Auf die Revisionen der Angeklagten hatte der Senat mit Beschluß vom 14. Mai 1996 die Schuldsprüche wegen erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit Geiselnahme in versuchte Nötigung geändert, die Strafaussprüche mit den Feststellungen aufgehoben und insoweit die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Das Landgericht hat nunmehr mit Urteil vom 22. August 1996 unter Zugrundelegung der rechtskräftigen Schuldsprüche wegen dieser Tat den Angeklagten L. zu vier Jahren und neun Monaten und den Angeklagten G. zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Es ist hierbei bei beiden Angeklagten infolge des vor und während der Tat konsumierten Alkohols und Kokains von einer nicht ausschließbaren erheblich verminderten Schuldfähigkeit ausgegangen.

Mit ihren gegen dieses Urteil gerichteten Revisionen rügen beide Angeklagten unter anderem, daß das Landgericht die Beweisanträge ihrer Verteidiger auf Einholung von Sachverständigengutachten zum Beweis dafür, daß infolge des Genusses von Kokain bzw. von Alkohol und Kokain ihre Schuldfähigkeit zur Tatzeit aufgehoben war, als unzulässig mit der Begründung abgelehnt hat, daß die Schuldsprüche rechtskräftig seien. Der Angeklagte G. rügt ferner die Ablehnung des Antrags auf Vernehmung eines Zeugen, der von ihm zum Beweis der Tatsache benannt worden war, daß er - der Angeklagte - in der Nacht vor der Tat und auch noch während des Tatgeschehens im einzelnen quantifizierte (große) Mengen an Alkohol und Kokain konsumiert habe.

II.

Der Senat erachtet diese Rügen als nicht durchgreifend und beabsichtigt, insoweit den Revisionen nicht stattzugeben. Er sieht sich daran jedoch durch das Urteil des 5. Strafsenats vom 10. Oktober 1958 - 5 StR 377/58 -(abgedruckt in GA 1959, 305) gehindert.

1. Dieser Entscheidung lag - wie hier auch - der Fall zugrunde, daß nach Aufhebung des Strafausspruches der Schuldspruch in den noch zur Aburteilung stehenden Fällen in Rechtskraft erwachsen war. Der vom Landgericht in der neuen Verhandlung gehörte Sachverständige kam zu dem Ergebnis, der Angeklagte sei zur Tatzeit möglicherweise geisteskrank im Sinne des § 51 Abs. 1 StGB a.F. gewesen. Die erkennende Strafkammer hatte indessen "erhebliche Bedenken, sich dem Gutachten des Sachverständigen anzuschließen". Sie hat es jedoch letztlich offen gelassen, ob die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 StGB a.F. vorlagen und dies damit begründet, daß die Schuld des Angeklagten in den noch abzuurteilenden Fällen rechtskräftig feststehe.

Demgegenüber hat der 5. Strafsenat in der Revisionsentscheidung ausgeführt, daß das Landgericht zwar aus Rechtsgründen gehindert war, den Angeklagten freizusprechen. Das habe die Strafkammer aber nicht von ihrer Pflicht befreit, die für den Geisteszustand des Angeklagten beachtlichen Tatsachen gegebenenfalls unter Anwendung des Zweifelssatzes festzustellen. Es bedürfe keiner näheren Erläuterung, daß die mit Hilfe des Sachverständigen zu ermittelnde Geistesverfassung des Angeklagten für das Maß seiner Schuld und damit für die Strafzumessung von entscheidender Bedeutung sei. Dies gelte auch gerade dann, wenn die Strafkammer zu dem Ergebnis gelangen sollte, es liege möglicherweise der Tatbestand des § 51 Abs. 1 StGB a.F. vor. Zwar könne das aus Rechtsgründen nicht zum Freispruch führen, müsse aber im Strafmaß aus sachlichrechtlichen Gründen soweit berücksichtigt werden, wie das Verfahrensrecht es zuließe; unter Umständen verbleibe nur die Möglichkeit, gegen den Angeklagten die gesetzliche Mindeststrafe zu verhängen.

2. Das Urteil des 5. Strafsenats vom 10. Oktober 1958 betrifft zwar nicht unmittelbar die im vorliegenden Verfahren maßgebliche verfahrensrechtliche Frage, ob trotz Rechtskraft des Schuldspruchs einem Beweisantrag mit dem Ziel der Feststellung der Schuldunfähigkeit des Angeklagten stattzugeben ist. Der Entscheidung könnte aber - wie die Revisionen hier geltend machen - entnommen werden, daß auch bei rechtskräftigem Schuldspruch die Pflicht des Tatrichters zur Aufklärung bestehe, ob der Angeklagte bei der Tat unter den Voraussetzungen des § 20 StGB gehandelt hat. Dies hätte zur Folge, daß entsprechende Beweisanträge nicht (als unzulässig) abgelehnt werden dürften.

3. Der Senat ist der Auffassung, daß eine Beweiserhebung, die trotz Rechtskraft des Schuldspruchs darauf abzielt, die Schuldunfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt zu belegen, unzulässig ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs werden, wenn das Revisionsgericht das Urteil nur im Strafausspruch mit den (dazugehörenden) Feststellungen aufhebt, von der Aufhebung nur die Umstände in der tatrichterlichen Sachverhaltsdarstellung erfaßt, die ausschließlich die Straffrage betreffen (BGHSt 24, 274, 275; 30, 340, 342; BGHR StPO § 353 Abs. 2 Teilrechtskraft 4). Hinsichtlich des nicht beanstandeten Schuldspruchs tritt Teilrechtskraft ein. An die Feststellungen, die ausschließlich die Schuldfrage betreffen oder die als doppelrelevante Umstände zugleich für die Schuld- und Straffrage von Bedeutung sind, ist der Tatrichter im weiteren Verfahren gebunden (BGH a.a.O.). Dies gilt auch dann, wenn das Erstgericht einen Vorfall in Wahrheit nicht aufgeklärt hatte oder nicht hatte voll aufklären können und deshalb wegen des Grundsatzes "in dubio pro reo" von bestimmten - dem Angeklagten günstigen - Tatsachen ausgegangen war (BGHR StPO § 353 Abs. 2 Teilrechtskraft 4 m.w.N.). Hieraus folgt, daß Beweiserhebungen, die darauf abzielen, aufrechterhaltene und damit bindende Feststellungen in Zweifel zu ziehen, unzulässig sind (BGHSt 30, 340, 342; BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 1 Unzulässigkeit 1).

Die insbesondere in der Literatur weiterhin diskutierte Frage, ob die Bindung auch dann Bestand haben kann, wenn sich in der neuen Verhandlung - möglicherweise in einer zulässigen Beweisaufnahme über nicht der Bindungswirkung unterliegende Tatsachen - die Schuldunfähigkeit des Angeklagten herausstellt (vgl. dazu Hanack in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 353 Rdn. 30; Pikart in KK/StPO 3. Aufl. § 353 Rdn. 33; Paulos in KMR § 358 Rdn. 7 jeweils m.w.N.), stellt sich hier nicht.

Im übrigen vermag der Senat nicht der Ansicht des 5. Strafsenats zu folgen, bei festgestellter Schuldunfähigkeit müsse notfalls auf die gesetzliche Mindeststrafe erkannt werden. Bei Schuldunfähigkeit darf gar keine - auch keine noch so geringe - Strafe ausgesprochen werden. Bei rechtskräftigem Schuldspruch ist die angemessene - möglicherweise und so auch im vorliegenden Fall nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB verminderte - Strafe zu verhängen; sonst würde auch die notwendige Einheit von (teilweise aufgehobenem) Erst- und (ergänzendem) Zweiturteil (BGHSt 30, 340, 342) nicht gewahrt. Ob der Angeklagte im Gegensatz zu dem insoweit rechtskräftig gewordenen Ersturteil tatsächlich schuldunfähig war, kann und darf in der erneuten Verhandlung nicht überprüft werden; hierfür steht dem Angeklagten gegebenenfalls das Wiederaufnahmeverfahren (§ 359 Nr. 5 StPO) zur Verfügung, das sonst möglicherweise mangels Vorliegens einer neuen Tatsache sogar unzulässig sein könnte.

Der Senat verweist ergänzend auf seine Ausführungen in der Entscheidung BGHSt 30, 340, in der er die hier behandelte Frage noch offen gelassen hatte (S. 347); insoweit kann aber nach seiner Auffassung nichts anderes gelten (vgl. auch BGHSt 7, 283, 286/287).

Bearbeiter: Rocco Beck