hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 399/93, Urteil v. 26.08.1993, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 399/93 - Urteil vom 26. August 1993 (LG Essen)

BGHSt 39, 317; Frage des anwendbaren Strafrechts für Taten eines DDR-Bürgers in der DDR, der vor der Widervereinigung in die Bundesrepublik übergesiedelt ist; Strafbemessung bei solchen Taten.

§ 2 Abs. 3 StGB; § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB; Art. 315 EGStGB

Leitsatz

Hat ein Bürger der ehemaligen DDR dort eine Straftat begangen, so findet das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland Anwendung, wenn er vor Inkrafttreten des Einigungsvertrages in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt ist; bei der Strafzumessung sind jedoch Art und Maß des Tatortrechts zu berücksichtigen. (BGHSt)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 19. Januar 1993 mit den Feststellungen aufgehoben

a) im Ausspruch über die Einzelstrafe im Fall 1 (Tatzeitraum: 1985 bis 1989),
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen und Beischlaf zwischen Verwandten in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die erste der jeweils in sich fortgesetzten Taten zum Nachteil seiner Tochter beging der Angeklagte als Bürger der ehemaligen DDR dort im Zeitraum von Ende 1985 bis Ende Oktober 1989, die zweite Tat nach der Ende 1989 erfolgten Übersiedlung der Familie in die Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum von April bis Oktober 1990 an seinem neuen Wohnsitz.

Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Insbesondere beanstandet er die Anwendung des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland auf die erste Tat.

1. Die Sachrüge ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, soweit sie sich gegen den Schuldspruch und gegen den Strafausspruch für die zweite Tat richtet; insoweit hat die Überprüfung des Urteils keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler ergeben. Daß die Strafkammer auch die erste Tat des Angeklagten, die er in der DDR begangen hat, nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland beurteilt hat, ist nicht zu beanstanden.

2. Das Rechtsmittel führt jedoch zur Aufhebung der für die erste Tat verhängten Einzelstrafe sowie zur Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe. Rechtliche Bedenken bestehen nämlich insoweit, als das Landgericht bei der Strafzumessung unberücksichtigt gelassen hat, daß die Tat bei ihrer Begehung unter der milderen Strafdrohung des Strafrechts der DDR stand.

a) Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 trat gemäß Art. 8 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag), von wenigen, hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen, im gesamten Beitrittsgebiet das Recht der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Hieraus folgt, daß das Recht der Bundesrepublik Deutschland den gesamten Regelungsbereich des DDR-Rechts, einschließlich der in der DDR vor dem Beitritt entstandenen Ansprüche auf die Verfolgung strafbarer Handlungen, "in sich aufgenommen" hat (Lackner StGB 20. Aufl. § 2 Rdn. 13; Samson NJW 1991, 335, 337).

Damit steht jedoch noch nicht fest, in welcher Weise die Verfolgung von "Alttaten" im Einzelfall zu erfolgen hat, insbesondere, ob insoweit das materielle Strafrecht der DDR oder das der Bundesrepublik Deutschland zur Anwendung kommen soll. Aus der völkerrechtlichen Beurteilung der durch den Beitritt entstandenen "Rechtsnachfolge" lassen sich entgegen in der Literatur vertretenen Auffassungen (vgl. zu dem Theorienstreit die Zusammenstellung bei Dreher/Tröndle StGB 46. Aufl. vor § 3 Rdn. 45, 46) keine Rückschlüsse ziehen (Lackner aaO). Ein unmittelbarer Rückgriff auf § 2 StGB, dessen Rechtsvorschriften über die zeitliche Geltung von Strafgesetzen auf innerstaatliche Rechtsänderungen zugeschnitten sind, scheidet ebenfalls aus (a.A. wohl BGHSt 38, 1, 2 in einer für die Entscheidung der dortigen Rechtsfrage nicht tragenden Erwägung). Er käme allenfalls dann in Betracht, wenn es die vertragschließenden Staaten unterlassen hätten, unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts im Einigungsvertrag oder dessen Anlagen entsprechende Kollisionsnormen zu schaffen. Für die Anwendung intertemporalen Rechts ist dies jedoch mit der Einführung des Art. 315 EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages a b s c h l i e ß e n d geschehen (vgl. die Erläuterungen zu den Anlagen zum Einigungsvertrag zu Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1: "notwendige Übergangsregelungen" - BR-Drucks. 605/90 S. 51).

Aus der Verweisung von Art. 315 Abs. 1 EGStGB auf § 2 StGB ergibt sich, daß auf "Alttaten" grundsätzlich das zur Tatzeit geltende Recht der DDR zur Anwendung gelangen soll (§ 2 Abs. 1 StGB), es sei denn, das Recht der Bundesrepublik Deutschland ließe eine mildere Beurteilung zu (§ 2 Abs. 3 StGB). Eine Einschränkung erfährt diese allgemeine Regelung jedoch durch Art. 315 Abs. 4 EGStGB, wonach Absatz 1 keine Anwendung findet, soweit für die Tat das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland schon v o r Wirksamwerden des Beitritts gegolten hat.

Letzteres trifft nach § 7 Abs. 2 Ziffer 1 2. Alternative StGB auf Bürger der DDR zu, die nach der Tat Deutsche im Sinne des § 7 Abs. 2 StGB geworden sind (BGH NJW 1978, 115; KG JR 1988, 345; zur entsprechenden Anwendung der Regeln des internationalen Rechts auf Bürger der DDR nach Abschluß des Grundlagenvertrages vgl. auch BGHSt 30, 1; 32, 293).

Freilich gilt die "Neubürgerregelung" nicht für Bürger der DDR, die erst m i t dem Beitritt Bürger der Bundesrepublik Deutschland geworden sind (h.M.; vgl. u.a. BGH NJW 1993, 1019; KG NJW 1991, 2653; Dreher/Tröndle aaO Rdn. 45; Gribbohm in LK 11. Aufl. § 2 Rdn. 60 b); a.A. Liebig NStZ 1991, 372, 374).

Auf Personen, die - wie der Angeklagte - v o r dem Beitritt der DDR in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt sind, ist sie hingegen anzuwenden (Dreher/Tröndle aaO; Eser in Schönke/Schröder StGB 24. Aufl. Vorbem. zu den §§ 3 bis 7 Rdn. 76; § 7 Rdn. 18 a; a.A. Lackner aaO § 2 Rdn. 26 in Abweichung zur Vorauflage; Laufhütte in LK StGB 11. Aufl. vor § 80 Rdn. 37).

Die Auffassung der Verteidigung, Art. 315 Abs. 4 EGStGB sei nicht auf die Fallgestaltung des § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB ausgerichtet, sondern "primär" auf die Normen der §§ 5, 6 StGB, findet im Gesetz keine Stütze. Mit der in Art. 315 Abs. 1 bis 4 EGStGB geschaffenen Übergangsregelung wollten die vertragschließenden Staaten ersichtlich eine mit dem Beitritt eintretende Verschlechterung der bis zu diesem Zeitpunkt bestehenden Rechtspositionen der Bürger der DDR verhindern. Hingegen bestand kein Anlaß, Personen, die diese Rechtspositionen schon vorher durch eine auf eigenverantwortlicher Willensentschließung beruhende Übersiedlung aufgegeben, sich also freiwillig der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik Deutschland unterworfen hatten, in diesen Schutz einzubeziehen (vgl. Breymann, NStZ 1991, 463, 464). Die Nichtanwendung des in § 2 Abs. 3 StGB festgelegten Meistbegünstigungsgebots auf Personen, die vor dem Beitritt der DDR Bundesbürger geworden sind, stellt somit keine ungerechtfertigte Schlechterstellung dieses Personenkreises dar (a.A. Samson NJW 1991, 335, 337; Laufhütte aaO); sie führt vielmehr zu der gebotenen Gleichbehandlung aller Übersiedler unabhängig von dem Zeitpunkt ihrer Übersiedlung.

Ob es sinnvoll gewesen wäre, den Anwendungsbereich des § 7 Abs. 2 Nr. 1 2. Alternative StGB in der Vorbehaltsklausel des Art. 315 Abs. 4 EGStGB auszusparen, da seit Inkrafttreten des Einigungsvertrages ein Bedürfnis für eine stellvertretende Strafrechtspflege bei Straftaten, die von ehemaligen Bürgern der DDR in der DDR begangen wurden, nicht mehr besteht, kann dahinstehen. Eine entsprechende Regelung haben die Vertragsstaaten jedenfalls nicht getroffen.

Obwohl ein Vergleich der einschlägigen Strafbestimmungen beider Rechtsordnungen (§§ 148 und 152 StGB/DDR - §§ 173 und 176 StGB) ergibt, daß das Strafrecht der DDR für die von dem Angeklagten begangene Tat die milderen Rechtsfolgen vorsieht, war der Angeklagte daher gemäß Art. 315 Abs. 4 EGStGB i.V.m. § 7 Abs. 2 Nr. 1 2. Alternative StGB auch für die in der DDR begangene Tat nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland zu verurteilen. Damit mußte ein Schuldspruch auch wegen tateinheitlich begangenen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen gemäß § 174 StGB erfolgen, obwohl diese Norm im Strafrecht der ehemaligen DDR keine unmittelbare Entsprechung hat. Dies folgt aus der im Rahmen von § 7 Abs. 2 StGB gebotenen konkreten Betrachtungsweise des Tatortrechts (vgl. Tröndle in LK 10. Aufl. § 7 Rdn. 4 b; Eser aaO § 7 Rdn. 7, 8).

b) Bei der Strafzumessung muß der Richter jedoch auf Art und Maß des Tatortrechts Rücksicht nehmen (KG JR 1988, 345, 346; Eser aaO § 7 Rdn. 21; Tröndle in LK aa0 Rdn. 15). Es mag fraglich sein, ob dies bereits aus einem Art. 103 Abs. 2 GG zu entnehmenden Grundsatz folgt, nach dem der Täter durch die (nachträgliche) Anwendung des Rechts der Bundesrepublik Deutschland nicht benachteiligt werden darf (so Stree, Rechtsfolgen und Grundgesetz 1960 S. 33). Jedenfalls besteht bei einer "stellvertretenden" Strafrechtspflege in der Regel keine Veranlassung, den Täter härter zu bestrafen, als es das Tatortrecht vorsieht. Die Entstehungsgeschichte des § 7 StGB steht einer solchen Auslegung nicht entgegen. Danach wurde bei den Beratungen zum 2. Strafrechtsreformgesetz die Einführung einer Begrenzung der zu verhängenden Strafe durch die nach Tatortrecht geltenden Sanktionen nur deshalb abgelehnt, weil man Schwierigkeiten bei der Vergleichbarkeit von Unrechtssanktionen, insbesondere solchen außereuropäischer Rechtsordnungen befürchtete (vgl. BT-Drucks. V/4095 S. 7).

c) Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, daß das Landgericht der Geltung von (milderem) DDR-Recht im ersten Tatzeitraum bei der Strafzumessung Rechnung getragen hat. Der Senat vermag daher nicht sicher auszuschließen, daß die Strafkammer bei Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze die insgesamt maßvolle Einsatzstrafe von drei Jahren und sechs Monaten für die erste Tat noch niedriger angesetzt hätte. Die danach erforderliche Aufhebung der Einsatzstrafe zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich. Eine Beeinflussung der für die zweite Tat verhängten Einzelstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten kommt hingegen nicht in Betracht. Diese Strafe kann daher bestehenbleiben.

Externe Fundstellen: BGHSt 39, 317; NJW 1994, 140; NStZ 1994, 233; StV 1994, 13

Bearbeiter: Rocco Beck