Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 81/92, Urteil v. 21.05.1992, HRRS-Datenbank, Rn. X
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Offenburg vom 18. September 1991 aufgehoben, soweit über den Vorwurf des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nicht entschieden worden ist; der Ausspruch, dass das Urteil des Amtsgerichts - Schöffengericht - Offenburg vom 13. Februar 1991 rechtskräftig ist, entfällt.
II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
III. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung, wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs sowie wegen versuchter Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und eine Maßregel nach §§ 69, 69 a StGB verhängt. Ferner hat es festgestellt, daß das Urteil des Amtsgerichts - Schöffengericht - Offenburg vom 13. Februar 1991 rechtskräftig ist. Der Angeklagte rügt mit seiner Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat nur teilweise Erfolg.
1. Dem Verfahren liegt das folgende prozessuale Geschehen zugrunde:
Der Angeklagte wurde am 13. Februar 1991 vom Amtsgericht - Schöffengericht - Offenburg wegen gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Auf die von ihm hiergegen unbeschränkt eingelegte Berufung legte der Vorsitzende der II. Strafkammer des Landgerichts Offenburg die Sache der I. Strafkammer, bei der gegen den Angeklagten inzwischen eine Anklage wegen sexueller Nötigung u.a. erhoben worden war, mit der Bitte um Übernahme vor. Die I. Strafkammer eröffnete in der bei ihr anhängigen Sache das Hauptverfahren und verband mit dieser das Berufungsverfahren gemäß § 4 Abs. 1 StPO zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung. In der hinsichtlich sämtlicher Anklagevorwürfe erstinstanzlich durchgeführten Hauptverhandlung nahm der Angeklagte mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft seine Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil zurück. Sodann verkündete die Strafkammer das eingangs wiedergegebene Urteil.
2. Die Auffassung der Strafkammer, das Urteil des Amtsgerichts sei rechtskräftig, ist unzutreffend:
Die Strafkammer war zwar nicht daran gehindert, das erstinstanzliche mit dem Berufungsverfahren in entsprechender Anwendung von § 4 Abs. 1 StPO zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung zu verbinden, da zwischen beiden Verfahren ein persönlicher Zusammenhang im Sinne des § 3 StPO bestand, die Strafsachen bei demselben Gericht anhängig waren, keine Teilrechtskraft eingetreten und das Landgericht zur Verhandlung der Anklage in erster Instanz zuständig war (BGHSt 36, 348, 350 f; 37, 15, 17 f; 38, 172; Senatsbeschluß vom 6. Februar 1992 - 4 StR 626/91; Meyer-Goßner DRiZ 1990, 284, 285 f). Anders als bei der bloß gemeinsamen Verhandlung nach § 237 StPO, bei der das Berufungsverfahren trotz der Verbindung mit dem erstinstanzlichen Verfahren seine Eigenschaft als solches beibehalten hätte (BGHSt 35, 195, 197; 36, 348, 351), führt die Verbindung entsprechend § 4 Abs. 1 StPO zu einer Verschmelzung der Verfahren mit der Folge, daß grundsätzlich (vgl. BGHSt 34, 204, 207) insgesamt erstinstanzlich zu verhandeln ist (BGHSt 36, 348, 350; 37, 15, 18). Damit sind den Beteiligten jedoch die im Berufungsverfahren gegebenen Dispositionsmöglichkeiten endgültig entzogen; eine Rücknahme des Rechtsmittels ist - wegen des nunmehr auch insoweit erstinstanzlichen Charakters der Verhandlung - nicht mehr möglich (BGHSt 34, 204, 207 f; vgl. auch BGHSt 21, 229, 231). Auch bei einer - hier allerdings nicht erfolgten - Trennung der Verfahren hätte das frühere Berufungsverfahren daher nur als erstinstanzliches Verfahren fortgeführt werden können. Diese aus der Verschmelzung der Verfahren folgenden Konsequenzen sind bei der Frage, ob ein Berufungsverfahren mit einem erstinstanzlichen Verfahren verbunden werden und damit seine Eigenschaft als zweitinstanzliches Verfahren verlieren soll, stets sorgfältig zu bedenken.
Da das Landgericht über den Teil des Verfahrens, der ursprünglich Gegenstand des Berufungsverfahrens war, nicht entschieden hat, muß es dies nachholen. Das hat die Aufhebung der Feststellung über die Rechtskraft des amtsgerichtlichen Urteils zur Folge. Insoweit ist nunmehr erneut erstinstanzlich zu verhandeln, wobei allerdings das Verschlechterungsverbot (§ 331 Abs. 1 StPO) gegenüber dem Urteil des Amtsgerichts - Schöffengericht - Offenburg vom 13. Februar 1991, das als gegenstandslos aufzuheben ist (vgl. Meyer-Goßner DRiZ 1990, 284, 285), beachtet werden muß.
1. Soweit die Strafkammer zur Sache verhandelt hat, ist sie im wesentlichen von folgenden Feststellungen ausgegangen:
Der - wie er wußte - HIV-infizierte, zur Tatzeit 28 Jahre alte Angeklagte traf am Nachmittag des 7. März 1991 die ihm seit etwa zwei Jahren bekannte Tanja D.. Er überredete die 14jährige Schülerin, die seine Erkrankung nicht kannte, mit ihm eine Gaststätte aufzusuchen. Dort unterhielten sie sich unter anderem auch über den Gesundheitszustand des Angeklagten, wobei dieser vorgab, er leide an Lungenkrebs, um Tanja "nicht mit einer wahrheitsgemäßen Eröffnung seiner HIV-Infektion von sich abzuschrecken" (UA 11/12). Beide nahmen alkoholische Getränke zu sich und tauschten Zärtlichkeiten aus (UA 12). Nachdem Tanja den Angeklagten mehrfach dazu aufgefordert hatte, sie - wie versprochen - nach Hause zu fahren, fuhr er mit dem Mädchen in seinem Pkw auf Nebenstraßen entlang des Rheins. Dabei wußte er, daß er wegen des genossenen Alkohols (Mindestblutalkoholkonzentration 1,72 Promille; UA 13) zum sicheren Führen des Fahrzeugs nicht mehr in der Lage war; er hätte erkennen können, daß seine Beifahrerin dadurch gefährdet war. Infolge seiner Fahruntüchtigkeit streifte der Angeklagte mit seinem Pkw in einer Linkskurve zwei Leitplanken und kam schließlich von der Fahrbahn ab; sowohl er als auch Tanja D. blieben dabei unverletzt. Der Angeklagte forderte nunmehr - wie bereits zuvor auf dem Parkplatz der Gaststätte - das Mädchen auf, bei ihm Oralverkehr vorzunehmen. Als sie dies erneut verweigerte, entschloß er sich, Tanja dazu zu zwingen (UA 15). Hierzu faßte er sie mit einer Hand am Hals, drückte ihren Kopf nach unten und schob sein entblößtes Glied in ihren Mund. Dabei war ihm bewußt, daß sich Tanja durch den Oralverkehr HIV-infizieren könne, was er billigend in Kauf nahm. Das Mädchen konnte jedoch bereits nach kurzer Zeit den Kopf zur Seite drehen; unter einem Vorwand gelang ihr schließlich die Flucht, wobei der Angeklagte ihr nachrief, daß er sie "abstechen" werde, wenn sie ihn "verpetze" (UA 16).
Der Angeklagte war aufgrund der Alkoholisierung (Höchstblutalkoholkonzentration 2,32 Promille) in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert (UA 15). Bei Tanja D. ergaben sich später keine Hinweise auf eine Infizierung (UA 16).
Die Überprüfung des Schuld- und Rechtsfolgenausspruchs läßt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen.
1. Die Verfahrensrüge ist aus den vom Generalbundesanwalt in der Antragsschrift vom 18. Februar 1992 dargelegten Gründen unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c Abs. 1 Nr. 1 a, Abs. 3 Nr. 1 StGB) begegnet keinen rechtlichen Bedenken; insbesondere hat die Strafkammer in rechtsfehlerfreier Weise eine konkrete Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der Beifahrerin des infolge Alkoholisierung fahruntüchtigen Angeklagten bejaht. Eine solche Gefährdung der Beifahrerin, die hierin nicht rechtswirksam einwilligen konnte (BGHSt 6, 232, 234 f; 23, 261, 264; OLG Karlsruhe NJW 1967, 2321), war bei einer BAK des Angeklagten von 1,72 Promille spätestens im Zeitpunkt der Kollision mit den Leitplanken gegeben; sie wäre im übrigen auch zu bejahen gewesen, wenn sich die Fahruntüchtigkeit des Angeklagten in anderen die Sicherheit seiner Mitfahrerin beeinträchtigenden Fahrfehlern, wie beispielsweise dem Fahren in Schlangenlinien, einem auch nur vorübergehenden Abkommen von der Fahrbahn oder einem sonstigen nicht durch die Verkehrslage bedingten Fahrmanöver "indiziell nach außen gezeigt" hätte (vgl. BGH NStZ 1989, 73, 74). Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob ein Insasse bereits durch die bloße Mitfahrt bei einem alkoholisierten Pkw-Lenker konkret gefährdet sein kann (vgl. BGH NStZ 1985, 263; 1989, 73 mit Anm. Geppert NStZ 1989, 320), was im Hinblick auf den mit einer höheren BAK verbundenen überproportionalen Anstieg der Gefährlichkeit des betrunkenen Kraftfahrers gegenüber dem nüchternen Fahrer zumindest bei einem mittelschweren Rausch, jedenfalls bei einer BAK von 2,0 Promille naheliegen wird (vgl. auch Geppert NStZ 1985, 265; 1989, 320, 322; Janiszewski NStZ 1985, 257: "bei völlig betrunkenem Fahrer"); denn das regelmäßig mit einer Gefährdung der Insassen verbundene Risiko eines Alleinunfalls erhöht sich bereits ab einer BAK von 1,1 Promille um das 65fache (Borkenstein u.a. BA 1974 Suppl. 1, S. 105 f; Müller: Der Trunkenheitstäter im Straßenverkehr der Bundesrepublik Deutschland, 1976, S. 71) und das allgemeine Unfallrisiko steigt bei einer BAK von 2,0 Promille um das 80fache (Crondeau u.a. ZVS 1992, 66, 77; vgl. auch Heifer in Anlage 1 zu: Alkohol und Straßenverkehr, Zweites Gutachten des Bundesgesundheitsamtes, 1977, S. 72 ff, 78; Borkenstein aaO S. 101 f; Müller aaO S. 27, 71 ff).
3. Auch der Schuldspruch wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
a) Soweit die Strafkammer ihre Überzeugung vom Tathergang und der Täterschaft des Angeklagten im wesentlichen auf die Aussage von Tanja D. stützt, begegnet dies keinen Bedenken.
Die Bewertung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung. Vom Richter wird erwartet, daß er über die zur Ausübung seines Amtes erforderliche Menschenkenntnis und die Fähigkeit verfügt, Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen ist deshalb - auch bei jugendlichen Zeugen - nur dann erforderlich, wenn die Eigenart des Einzelfalles eine außergewöhnliche Kenntnis oder Erfahrung notwendig macht (BGHR StGB § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 1, 2 m.w.Nachw.; Sachkunde 4). Liegt ein solcher besonderer Fall nicht vor, versteht sich die Sachkunde des Richters grundsätzlich von selbst und bedarf keiner besonderen Begründung (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 3).
Bei Anlegung dieses Prüfungsmaßstabs bestehen keine Bedenken dagegen, daß die Strafkammer ihre Sachkunde für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin D. bejahte und die Einholung eines - auch vom Angeklagten nicht beantragten - Sachverständigengutachtens nicht für erforderlich hielt. Dabei hat die Strafkammer zutreffend insbesondere darauf abgestellt, daß weder in der Person noch im Aussageverhalten der 14jährigen Zeugin Auffälligkeiten festzustellen waren (UA 21). Zu Recht durfte die Strafkammer ferner das Verhalten Tanjas gegenüber dem Ehepaar H. (UA 16, 21) als Anzeichen für die Richtigkeit der Aussage werten. Demgegenüber sollte der Hinweis auf die in anderen Verfahren eingeholten Glaubwürdigkeitsgutachten (UA 20) ersichtlich nur die Erfahrungen und Kenntnisse der beteiligten Richter bei der Bewertung der Glaubwürdigkeit von Zeugen belegen, stellte diese jedoch nicht in Frage.
b) Der Schuldspruch wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
Die Strafkammer geht zunächst zutreffend davon aus, daß der ungeschützte, nicht zu einer Infektion führende Oralverkehr mit einem HIV-Infizierten den objektiven Tatbestand der versuchten gefährlichen Körperverletzung erfüllt (BGHSt 36, 1, 6 ff; 36, 262, 264 f, 268). Entgegen der Auffassung der Revision hat die Strafkammer aber auch einen bedingten Verletzungsvorsatz beim Angeklagten rechtsfehlerfrei bejaht.
Ein Täter handelt bedingt vorsätzlich, wenn er den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und damit in der Weise einverstanden ist, daß er die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf nimmt oder sich damit abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch unerwünscht sein. Diese Feststellung erfordert regelmäßig eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, wobei das Vorleben des Täters sowie Äußerungen vor, während und nach der Tat Hinweise auf seine innere Einstellung zu den geschützten Rechtsgütern geben können (BGHSt 36, 1, 9 f; 36, 262, 266 f).
Gegen diese Rechtsgrundsätze hat das Landgericht nicht verstoßen. Es ist zunächst aufgrund einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung zu der Überzeugung gelangt, daß der Angeklagte wegen der ihm erst etwa zwei Monate vor der Tat mitgeteilten HIV-Infektion und insbesondere aufgrund von Gesprächen mit dem Aids-Berater (zuletzt am Vormittag des Tattages; UA 10), in denen er über die Gefahr der Übertragung der Krankheit bei Sexualverkehr und die Erforderlichkeit des Schutzes anderer belehrt wurde, von der Möglichkeit der Infizierung seiner Partner auch beim Oralverkehr wußte (UA 19, 22). Auf dieser Grundlage hat die Strafkammer auch das voluntative Vorsatzelement zutreffend bejaht. Dabei hat sie in nicht zu beanstandender Weise darauf abgestellt, daß der Angeklagte kurz vor der Tat bei dem Gespräch mit Tanja in der Gaststätte, in dem er auch seinen Wunsch nach Geschlechtsverkehr mit dem Mädchen äußerte, vorgab, an Lungenkrebs zu leiden und seine HIV-Infektion verschwieg, um das Mädchen nicht abzuschrecken. Von besonderer Bedeutung war zudem, daß der Angeklagte in einem Zeitpunkt, als er sich bereits entschlossen hatte, mit dem Mädchen geschlechtlich zu verkehren, daran dachte, daß er in seinem Pkw Kondome hatte, von deren Gebrauch er jedoch absah, um die sich ihm bietende Gelegenheit "nicht aufs Spiel zu setzen" (UA 15). Aus diesen Umständen durfte die Strafkammer darauf schließen, daß er eine Infizierung des Mädchens hinnahm, wenn sie ihm auch unerwünscht gewesen sein mochte.
4. Auch der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung stand. Der Erörterung bedarf insoweit nur, ob die Strafkammer - wie die Revision meint - der beim Angeklagten infolge der HIV-Infektion möglicherweise erhöhten Strafempfindlichkeit ein zu geringes Gewicht beigemessen hat. Die Strafzumessung ist jedoch in erster Linie Sache des Tatrichters. Werden - wie hier auch hinsichtlich der HIV-Infektion und ihrer Folgen (UA 26, 29) - die wesentlichen für die Festsetzung der Rechtsfolgen bedeutsamen Umstände in rechtsfehlerfreier Weise dargestellt und gegeneinander abgewogen, so darf das Revisionsgericht nur bei einem offensichtlich groben Fehlgriff eingreifen (Kleinknecht/Meyer StPO 40. Aufl. § 337 Rdn. 34 m.w.Nachw.). Ein solcher liegt hier indes nicht vor.
Externe Fundstellen: BGHSt 38, 300; NJW 1992, 2644; NStZ 1992, 501; StV 1992, 500
Bearbeiter: Rocco Beck