HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 102
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 88/23, Beschluss v. 01.08.2023, HRRS 2024 Nr. 102
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 21. September 2022 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „vorsätzlicher“ Körperverletzung und besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Hiergegen richtet sich die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel ist unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Der näheren Erörterung bedarf - über die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts hinaus - nur die Verfahrensbeanstandung, mit der der Beschwerdeführer den absoluten Revisionsgrund eines Verstoßes gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens (§ 338 Nr. 6 StPO) geltend macht.
1. a) Der Rüge liegt das folgende Verfahrensgeschehen zugrunde: Auf einen Antrag der Nebenklagevertreterin erging in der Hauptverhandlung eine Anordnung der Strafkammervorsitzenden, wonach für die Dauer der Inaugenscheinnahme von Lichtbildern und Videoaufnahmen aus der Tatnacht, welche Nacktaufnahmen der Nebenklägerin und Darstellungen ihres Sexuallebens enthielten, die Öffentlichkeit ausgeschlossen werde. Die Anordnung wurde auf § 171b Abs. 1 GVG gestützt und damit begründet, dass die Erörterung von Tatsachen in Betracht komme, die die Intimsphäre der Nebenklägerin beträfen. Nach Ausschluss der Öffentlichkeit wurde der Augenschein durchgeführt. Anschließend machte der Angeklagte ergänzende Angaben zur Sache. Danach wurde die Öffentlichkeit wiederhergestellt. Nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist wurde das Protokoll der Hauptverhandlung dahin geändert, dass es nunmehr statt „Der Angeklagte macht ergänzende Angaben zur Sache“ heißt: „Der Angeklagte erklärt sich gemäß § 257 StPO zu den vorausgegangenen Inaugenscheinnahmen“.
b) Die Revision, die sich nicht dagegen wendet, dass dem Ausschluss der Öffentlichkeit entgegen § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG kein Gerichtsbeschluss zugrunde lag, rügt als Verstoß gegen § 169 Abs. 1, § 171b GVG in Verbindung mit § 338 Nr. 6 StPO, dass vor den ergänzenden Angaben des Angeklagten zur Sache die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung nicht wiederhergestellt worden war. Sie macht geltend, der Angeklagte habe nicht nur eine Erklärung im Sinne des § 257 Abs. 1 StPO zur vorangegangenen Beweiserhebung, sondern eine Einlassung zur Sache abgegeben. Daher habe die Öffentlichkeit vor seiner Äußerung wiederhergestellt werden müssen.
2. Die Rüge ist bereits unzulässig, denn der Vortrag des Beschwerdeführers zu ihrer Begründung genügt nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Er enthält nicht sämtliche Tatsachen, deren es zur Prüfung des behaupteten Verfahrensverstoßes bedürfte.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs umfasst ein Ausschluss der Öffentlichkeit, der sich auf einen bestimmten Verfahrensvorgang beschränkt, auch weitere Verfahrensvorgänge, die mit diesem in enger Verbindung stehen oder sich aus ihm entwickeln und die daher zu demselben Verfahrensabschnitt gehören (vgl. nur BGH, Urteil vom 22. März 2023 - 1 StR 243/22 Rn. 9; Beschluss vom 17. November 2020 - 4 StR 223/20 Rn. 4; jew. mwN). Infolgedessen muss zur Begründung der Rüge eines zu weit erstreckten Ausschlusses der Öffentlichkeit nicht nur vorgetragen werden, welche Verfahrensvorgänge während seiner Dauer, also in nichtöffentlicher Hauptverhandlung, ausgeführt wurden, sondern diese müssen dabei auch so genau bezeichnet werden, dass dem Revisionsgericht die Nachprüfung ihres etwaigen Zusammenhangs mit dem den Öffentlichkeitsausschluss gebietenden Verfahrensvorgang möglich ist (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 2014 - 1 StR 78/14 Rn. 12 [insoweit in NStZ 2015, 226 nicht abgedruckt]).
b) Hieran fehlt es vorliegend. Entgegen der Auffassung der Revision ergibt sich aus dem von ihr wiedergegebenen - ursprünglichen - Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls nicht ohne weiteres, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit sich auch auf Verfahrensteile erstreckte, die in keinem hinreichend engen Zusammenhang mit der den Ausschluss gebietenden Beweiserhebung standen. Eine (ergänzende) Einlassung zur Sache, wie sie der Angeklagte ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls in seiner nicht berichtigten Fassung abgab, kann vielmehr noch zu dem in nichtöffentlicher Sitzung zu verhandelnden Verfahrensabschnitt - der Einnahme des Augenscheins - zu zählen sein, soweit sie mit diesem nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich so eng zusammenhing, dass der Ausschlussgrund auch für sie Geltung beanspruchte. Dies könnte namentlich dann der Fall sein, wenn der Angeklagte sich während oder nach dem Augenschein der Foto- und Videoaufnahmen mit Bezug auf deren Inhalt über Umstände aus dem Sexualleben der Nebenklägerin geäußert haben sollte, deren Erörterung in öffentlicher Hauptverhandlung zum Schutz der Intimsphäre der Nebenklägerin gerade unterbleiben sollte. Dass die fraglichen Angaben des Angeklagten zur Sache - die grundsätzlich auch zum Zeitpunkt des § 257 Abs. 1 StPO erfolgen konnten (vgl. Stuckenberg in LR-StPO, 27. Aufl., § 257 Rn. 11; Cierniak/ Niehaus in MüKo-StPO, 1. Aufl., § 257 Rn. 14) - in einem derartigen sachlichen Zusammenhang zu der Beweiserhebung und dem Grund des Öffentlichkeitsausschlusses standen, liegt hier nahe, weil es sich nach dem Protokoll um in unmittelbarem zeitlichen Kontext zu dem Augenschein erfolgte, „ergänzende“ Angaben handelte. Die auf das Hauptverhandlungsprotokoll (in seiner ursprünglichen Fassung) gestützte Behauptung der Revision, dass der Angeklagte keine Erklärung „im Sinne des § 257 Abs. 1 StPO zur vorherigen Beweiserhebung“ abgegeben, sondern sich „zur Sache“ eingelassen habe, genügt daher nicht, um dem Senat die Prüfung zu ermöglichen, ob der gerügte Verfahrensverstoß vorläge, wenn das Vorbringen bewiesen wäre.
Soweit der Bundesgerichtshof vereinzelt davon ausgegangen ist, dass der im Hauptverhandlungsprotokoll enthaltene Hinweis, der Angeklagte habe sich „zur Sache“ geäußert, auf einen fehlenden Zusammenhang mit der vorangegangenen Beweiserhebung hindeute (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Mai 2017 ? 2 StR 428/16 Rn. 8; Beschluss vom 20. September 2005 ? 3 StR 214/05), kann der Senat offenlassen, ob er dem ausnahmslos folgen könnte. Jedenfalls unter den hier gegebenen besonderen Umständen (lediglich „ergänzende“ Angaben im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Augenschein) hätte die Revision vortragen müssen, dass sich der Angeklagte nicht - wie naheliegt - zu der vorangegangenen Beweiserhebung geäußert, sondern sich losgelöst von den den Ausschluss der Öffentlichkeit zum Schutz der Intimsphäre der Nebenklägerin rechtfertigenden Inhalten zu den Tatvorwürfen eingelassen hat.
c) Ob wegen der dargelegten Bedeutung des Inhalts der in nicht öffentlicher Sitzung erfolgten Angaben des Angeklagten für den geltend gemachten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 6 StPO dessen Nachprüfung dem Revisionsgericht ohnehin bereits mit Blick auf das Verbot der Rekonstruktion der tatgerichtlichen Hauptverhandlung entzogen ist (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 21. September 2022 - 6 StR 160/22 Rn. 9; Urteil vom 10. Oktober 2013 - 4 StR 135/13, NStZ-RR 2014, 15, jew. mwN), kann demnach offenbleiben. Ebenso wenig kommt es auf die vom Beschwerdeführer in Zweifel gezogene Zulässigkeit der Berichtigung des landgerichtlichen Hauptverhandlungsprotokolls an.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 102
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede